· XIII · Trauer und Trost

»S an Guillaume war ein Kloster, konnte aber im Notfall durchaus als Festung dienen.

Der Bau erhob sich auf einer steilen Anhöhe und war lediglich über eine schmale Straße zu erreichen, die sich zu den Mauern emporschlängelte. Auf beiden Seiten lauerte ein tiefer Abgrund, da hier der Dílaenn von der Volta abzweigte, um sich einen eigenen Weg zum Meer zu suchen. Die Klostermauern bestanden aus bleichem Kalkstein, die Zinnen waren gekrönt von grauem Schnee. Schießscharten stierten wie dunkle Augen über den steilen Anstieg. Rund um die große Anlage erstreckte sich ein Meer aus kleinen Schuppen und Zelten – offenbar versprach sich das Volk aus der Umgebung im Schatten des Klosters Schutz. San Guillaume erhob sich schweigend und herrschaftlich wie ein monolithisches Symbol für Gottes Majestät in dieser Wildnis.

Aber ich wusste es, kaum dass mir der Wind einen Hauch der Witterung in die Nase wehte.

›Hier stimmt etwas nicht‹, murmelte Rafa.

Wir beschleunigten unseren Schritt, und der Schmerz in meinem Bauch und hinter meinen Augen wurde immer schlimmer, je mehr sich der Geruch nach getrocknetem Blut verstärkte. Als wir näher kamen, stellten wir fest, dass die Zelte und Hütten unbewohnt waren, und vor den hohen Mauern zeichneten sich runde dunkle Umrisse ab. Wagenräder waren mit Eisenketten von den Zinnen herabgelassen worden, und an ihnen hingen – kopfüber festgenagelt, so dass ihre Seelen den Weg in die Hölle nehmen würden – ein Dutzend Männer in denselben hellen Kutten, wie sie auch der alte Rafa trug.

Zusammen mit dem Gestank des Todes trug der Wind das Lied vollgefressener schwarz glänzender Krähen heran. Der Priester holte tief Luft, und Tränen traten ihm in die Augen. ›Was ist das für eine Teufelei?‹

›Gabriel‹, flüsterte Chloe und hob ihr Silberstahlschwert.

Ich zog Flammenzunge aus der Scheide und umfasste den Griff mit fester Hand.

In einem erwachsenen Mann finden sich sieben Quart Blut, hast du das gewusst?

›Ja, das wusste ich‹, murmelte ich.

Obwohl es davon abhängt, ob man mit dem elidaenischen oder dem n-n-nordlunder Quart misst, nehme ich an. Die üblicherweise verwendete …

›Flamm‹, knurrte ich. ›Augen auf, ja?‹

… Ich habe keine Augen , flüsterte sie.

Ich sah hinüber zu Saoirse, die sich Gnade vom Rücken zog. Phoebe hielt sich wie ein blutiger Schatten an ihrer Seite, und die Nackenhaare der Löwin richteten sich auf, als wir uns den Toren näherten, deren breite eisenbeschlagene Türflügel mit dem Kreis des Rades verziert waren. Sie öffneten sich knarrend, als ich sie leicht berührte, und die Kriegerin und ich tauschten einen grimmigen Blick.

›Rafa, Chloe‹, sagte ich. ›Bleibt hier bei Dior.‹

Phoebe schlich ins Innere, dann folgten Saoirse und ich, Bellamy bildete die Nachhut. Wir betraten einen großen Burghof, auf dem Grabesstille herrschte, und ich nahm Rauch wahr, Fäulnis und starken Branntwein. Rings um uns herum erhoben sich Gebäude – im Westen das Bogengewölbe einer Bibliothek, im Osten die Quartiere und die Brennerei. Uns gegenüber öffnete sich der Burghof zu einem breiten runden Garten, der jetzt verschneit und schweigend dalag. Im Herzen dieser Anlage erhob sich der große aus Kalkstein errichtete Rundbau der Kathedrale mit seinen schmalen Buntglasfenstern. Den Boden des Burghofs bildeten herrliche Mosaiken, die das Leben der Märtyrer darstellten. Aber sie waren befleckt – die kleinen Fliesenbruchstücke zeigten Spuren von getrocknetem Blut.

Ein Kloster , überlegte Flammenzunge, oder ein Mausoleum?

Noch mehr Leichen. Dutzende und Aberdutzende, die meisten davon in Mönchskutten. Ihrem Aussehen nach waren sie seit ungefähr einer Woche tot und einfach dort, wo sie gestorben waren, liegen gelassen worden. Es wimmelte von Ratten, die schwarzäugig und gut genährt überall umherwuselten. Krähen saßen auf den Toten und pickten an den Leckereien, die ihnen diese halb gefrorenen Schatztruhen boten. Und man hatte hier noch weitere Männer an den Mauern aufgehängt, ebenfalls mit dem Kopf nach unten, so wie die armen Ärsche an den Zinnen draußen.

›Klingenwerk‹, sagte Bellamy, der neben einem Leichnam kniete.

›Die Männer an den Wänden sehen aus, als sei ihnen die Haut großflächig abgezogen worden.‹ Ich spuckte aus, um den Geschmack des Todes von der Zunge zu bekommen. Mein Bauch schmerzte. ›Sie wurden gefoltert, dann ließ man sie ausbluten.‹

›Was in Gottes Namen ist hier geschehen, Gabriel?‹

›Ein Massaker …‹

›Silberwächter.‹

Saoirse stand auf den Zinnen über dem Tor, und sie deutete auf die Leichen und die Blutflecke auf dem Boden des Burghofs. Erst als ich die Treppe zum Torhaus hinaufstieg, erkannte auch ich, was ihr aufgefallen war. Unten hatte alles nach einem schlichten Blutbad ausgesehen, aber von hier oben zeigte sich, dass der Wahnsinn Methode hatte. Während sich mir der Magen umdrehte, wurde mir klar, dass die Leichen in einem Muster angeordnet worden waren – eine finstere Signatur, gezeichnet mit totem Fleisch.

Blume und Geißel, Blume und Geißel.

Ich nickte. ›Die Zeichen von Naél, Engel der Glückseligkeit.‹

›Das ist das Werk der Heiligen Inquisition‹, flüsterte Bellamy.

›O grundgütiger Gott …‹

Ein gequältes Stöhnen klang von unten herauf, und ich sah den alten Rafa durch den Torweg kommen. Seiner dunklen Haut zum Trotz war er bleich vor Trauer. Er stolperte auf den Burghof und umklammerte das Rad an seiner Kehle so fest, dass ich fast fürchtete, das Silber könne sich verbiegen. ›O himmlischer Vater, was ist das hier für eine Hölle?‹

Er lief zu dem Leichnam, der ihm am nächsten lag, und die Ratten stoben auseinander. Rafa fiel auf die Knie, zog den Toten vorsichtig auf den Rücken, und ein langgezogener erschauernder Laut drang über seine Lippen. ›Ohhhhh, nein. Alfonse …?‹ Dann drehte er den nächsten Toten um, bei dem es sich dem Anschein nach noch um einen Jungen handelte, und Rafas Gesicht zerknitterte wie altes Pergament. ›Jamal? Jamal!

Er zog den Leichnam an sich, der schlaff und verwest in seinen Armen hing.

›Was ist das hier? WAS FÜR EIN WAHNSINN IST DAS HIER ?‹

›Rafa!‹ Chloe rannte zu dem alten Mann und ließ sich entsetzt neben ihn fallen. ›Oh, Rafa, Rafa …‹

Der Priester klammerte sich an sie, und Spucke flog über seine Lippen, als er völlig zusammenbrach. ›Ch-Chloe, d-das ist Jamal. Er … schreibt Gedichte. E-Er … o Gott … o Gott …‹

Dior stand am Tor und drückte sich den Ärmel auf den Mund. Ein bitterkalter Wind blies aus dem Tal heran, und die Schöße seines Zaubermantels flatterten, als er mich ansah. Und er wusste es genauso wie ich. Es war so unumstößlich wahr, wie dass die dunkle Sonne, die sich dem Horizont zuneigte, demnächst untergehen würde. Jeder Mensch in diesem Kloster war niedergemetzelt worden. Und irgendwie …

›Das ist wegen mir geschehen‹, flüsterte er.

Die Kriegerin nahm die vernarbte Hand des Jungen. ›Sag das nicht, meine Blume.‹ Und als Diors Blick zu Saoirse glitt, sah ich, dass ihm die unbestreitbare Wahrheit Tränen in die Augen treten ließ.

›Saoirse‹, sagte ich leise. ›Bleib hier und behalte die anderen im Auge. Ich sehe mich nach Überlebenden um.‹

Rafa heulte laut auf, und dann folgte ein animalisches Schluchzen, das tief aus seinem Innern kam. Kurz trafen sich Chloes und meine Blicke, während sie den alten Mann an ihre Brust drückte, beruhigend auf ihn einredete und ihn wie eine Mutter wiegte. Die Grausamkeit der Szenerie war in ihren geröteten, tränenfeuchten Augen eingegraben, während ich die Zähne zusammenbiss und, Flammenzunge erhoben, die Bibliothek betrat.

Die Tür war völlig verkohlt, und abgestandener Rauch hing noch in der Luft. Ascheflöckchen tanzten um meine Stiefel, die Fenster waren rußgeschwärzt. Mir sank das Herz, und etwas in mir fand diesen Anblick noch schmerzhafter als den der vielen Toten draußen. Das Schwert in meiner Hand flüsterte silbern und voller Trauer.

Blasphemie …

Bücher. Tausende von Büchern. Kodizes mit messingbeschlagenen Ecken, Holztafeldrucke. Rollen aus Vellum und dicke Bände aus Pergament, einzeln mit liebevoller Hand illuminiert. Und man hatte sie wie Müll über den Boden verstreut und angezündet. Sie alle. Zu scheißverdammter Asche verbrannt.

Ich kniete neben dem verkohlten Haufen und blätterte durch versengte Blätter. Das Wissen von Genies, heiligen Männern und Heiden, Tausende von Wahrheiten und Tausende von Lügen, allesamt Geschichten, die des Erzählens wert gewesen waren. Und jetzt waren sie weiter nichts als Ruß in meinem Mund, als ich flüsterte:

›Ein Leben ohne Bücher ist ein nicht gelebtes Leben.‹

Bei meiner Suche in den anderen Gebäuden fand ich nur noch mehr Leichen und die Überreste zerstörter Leben. Teller mit halb verzehrten Mahlzeiten. In einer Mönchszelle lag ein angefangener Blumenkranz, der nie fertiggestellt werden würde. Mit langsamen Schritten verließ ich die leere Kathedrale, während mein Durst durch den gnadenlosen Duft von getrocknetem, verschwendetem Blut allmählich bohrend heftig wurde. Brunnen mit Engelsfiguren spuckten brackiges Wasser in längliche Teiche. Hinter der Kathedrale wand sich eine hohe Mauer am Rand der Klippen entlang. Dahinter ging es vielleicht hundertfünfzig Fuß in die Tiefe bis hinunter zu den schäumenden Flüssen.

Und dort stand Rafa und blickte in die grauen, eiskalten Wasser.

Als ich neben ihn auf die Zinnen trat, sah mir der alte Priester in die Augen. Er umklammerte das Rad an seinem Hals und rieb das Silber zwischen seinen Fingern. Sein Gesicht war eingefallen, die Wangen tränennass. Ich sagte nichts. Für derartige Schrecken hatte ich keine Worte.

Und dann … ertönte Musik.

Es begann ganz leise. Nur wenige Noten, die von den blutbefleckten Steinen zurückgeworfen wurden. Aber dann fügten sich die Akkorde zu einem Takt zusammen, die Takte zu einer Melodie, und es dauerte nicht lange, da stand ich schweigend und staunend da, während die Töne in die entsetzliche Stille hineingriffen und sie ausfüllten.

Bellamy saß auf der Mauer und spielte seine Laute.

Aber nicht einfach nur ein Lied. Sondern eine Beschwörung. Sie nahm ihren Anfang in der saitengeschlagenen Spirale eines melancholischen Refrains, aber an ihrem Ende glitt sie wie ein Schauer über meine Haut und löste alle Ketten um mein Herz. Es war ein Lied, wie ich es niemals auch nur annähernd ähnlich gehört hatte, ein Lied, so steinerweichend schön, dass selbst der Wind versucht gewesen wäre, sein Seufzen zu unterbrechen, um ja keinen sanften, seelenkranken Augenblick davon zu verpassen. Es war Schmerz und Sehnsucht, überschwänglich und unvollkommen, und mit jedem anschwellenden Ton und jedem Akkordwechsel trug es die Lauschenden in immer höhere Sphären, während es – ohne auf eine menschliche Sprache oder etwas so Ungenügendes wie Worte zurückzugreifen – von einer Wahrheit kündete, die jenseits jeder Erzählform lag. Ein Kreis der Trauer, wie der perlweiße Schwung eines Engelsflügels, bog sich einem Crescendo entgegen und kehrte dann weich und weicher zu den glutwarmen Tönen des Anfangs zurück. Es war ein Flüstern am Rand des Hörvermögens, und es legte seidenweiche Lippen an die schmerzende Stirn der Zuhörer, um davon zu künden, dass zwar alle Dinge einmal vergehen müssen, dass aber eben auch die Dunkelheit ein Ende findet und dass man selbst in diesem leuchtenden, gesegneten Augenblick lebte und atmete.

Bellamy schlug einen letzten Akkord, wie die Wärme eines Kusses, die nach der eigentlichen Berührung noch eine Weile auf den eigenen Lippen zurückbleibt. Dann ließ er den Kopf sinken und verstummte. Chloe saß da, das Gesicht zum Himmel gewandt, und weinte. Rafa und ich waren dem Lied wie verzaubert in den Burghof zurück gefolgt, Dior tupfte sich die Wimpern mit dem Ärmel. Selbst Saoirse wischte sich die Augen. Und als ich meine Wangen berührte, stellte ich überrascht fest, dass sie feucht waren. Aber dennoch war mein Herz nicht von Traurigkeit erfüllt.

›Bei den Sieben Märtyrern‹, raunte ich.

›Das war … wunderschön , Bellamy‹, flüsterte Chloe.

Merci , Sœur Sauvage.‹

›Hat es einen Namen?‹

Bellamy fuhr sich über die silberne Halskette, und seine Finger verharrten auf dem letzten der sechs Notenzeichen, die daran hingen. ›Ein Wahrsänger muss sieben Lieder verfassen, um von seinen Kollegen im Opus Grande als Meister anerkannt zu werden. Sieben Lieder, mit denen er oder sie die Wahrheit der Welt erzählen mag. Das war mein sechstes. Trauer und Trost.

Ich schüttelte langsam den Kopf; Bellamy erschien mir plötzlich in neuem Licht. ›Und dein siebtes?‹

Der junge Mann lächelte und stellte seine Laute vorsichtig ab. ›Das habe ich noch nicht gefunden, Silberwächter. Deswegen habe ich mein Augustin und meine göttliche Herrscherin verlassen. Um von der Wahrheit der Welt zu singen, muss ich sie erst einmal sehen. Und wenn ich dieses Lied gefunden habe, werde ich wieder in ihre Arme zurückkehren.‹

Eine seltsame Stille breitete sich nun aus. Windzerzaust, aber dennoch irgendwie warm. Und schließlich war es Dior, der das Schweigen brach, indem er die Frage aussprach, die wir uns alle stellten.

›Was machen wir denn jetzt?‹

Chloe und Bellamy sahen mich an. Rafa starrte immer noch auf das Schlachtfeld, das sich um uns herum erstreckte.

›In den Stallungen sind keine Pferde mehr‹, sagte ich seufzend. ›Aber es gibt noch einige unverdorbene Vorräte im Refektorium und reichlich Wodka in der Brennerei. Die Dinge werden etwas weniger düster aussehen, wenn wir etwas Warmes im Magen haben.‹ Ich wandte mich an Chloe. ›Vielleicht könntest du zusammen mit Dior Rafa dabei helfen, etwas zu kochen, Schwester?‹

Chloe nickte. ›Das wird uns auf andere Gedanken bringen.‹

Sie schritt vorbei an den Toten zu Rafa, der noch immer starr und schweigend dastand. Dann nahm sie den alten Priester am Arm und raunte ihm etwas zu, und er blinzelte, als ob er sich plötzlich wieder erinnerte, wo er sich befand. Widerspruchslos ging er mit ihr mit und verschwand hinter der von einem Spitzbogen überwölbten Eichentür. Bellamy kletterte von der Mauer. Saoirse gesellte sich zu mir, während Phoebe wie Rauch zum Tor hinausstrich.

Ich klappte mir den Kragen bis übers Kinn hoch und sah den Wahrsänger und die Kriegerin an.

›Wir machen uns ans Verbrennen.‹«