· XVII · Gedenken

J ean-François lachte immer noch leise und schüttelte dabei den Kopf, während er weiter in seinem verfluchten Buch herumkritzelte. Die Zelle war kühl, still, bis auf das sanfte Kratzen der Feder. Als er sie wieder eintauchen wollte, runzelte der Geschichtsschreiber die Stirn: Das Tintenfass war fast leer.

»Meline?«, rief er. »Mein Täubchen?«

Die Tür schwang sofort auf. Die Hörige mit den langen Tressen kastanienbraunen Haars stand auf der Schwelle, eine Marionette, dirigiert von unsichtbaren Fäden. Sie war eine schöne Frau, dachte Gabriel, in ihrer schwarzen Korsage und der schwarzen Spitze. Dank des Blutes, das sie aus Jean-François’ Daumen gesaugt hatte, war ihre Verletzung schon wieder völlig verheilt; nur eine ganz blasse Narbe ließ erkennen, wo er ihr ins Handgelenk gebissen hatte. Aber Gabriel konnte es noch immer riechen, dieses schwache Aroma von Rost und vergehendem Herbst. Er stellte sich die Frau vor, wie sie vor ihm auf Knien lag und mit ihren kajalumrandeten Augen zu ihm aufsah, während sie die braunen Locken von der bleichen Verlockung ihres Halses schob. Sein Blut strömte bei dieser Vorstellung in den Schritt, und er wurde hart und rührte sich unbehaglich in seinen Lederhosen.

»Meister?«, fragte sie.

»Mehr Tinte, meine Liebe«, sagte Jean-François. »Und vielleicht noch etwas zu trinken für unseren Gast?«

Gabriel leerte sein Glas und nickte. »Noch eine Flasche.«

»Wein?« Dunkle Augen glitten zu der Schwellung unterhalb des Gürtels, den der Silberwächter trug. »Oder etwas Stärkeres?«

Gabriels Augen blitzten. »Noch eine Flasche.«

Jean-François sah die Hörige an, und Meline sank in einen mühelosen Knicks, bevor sie mit leisen Schritten die Treppe hinuntereilte. Wieder zählte Gabriel die Zahl der Stufen und lauschte dem leisen Lied des Châteaus unter ihnen – Lachen, dumpfe Echos, leise Schreie. Die tiefste Nacht war jetzt vorüber, und er spürte, dass sich am Horizont ganz entfernt das Morgenrot ankündigte. Er fragte sich, ob sie ihn schlafen lassen würden.

Und er fragte sich, ob er träumen würde.

»Die Hoffnung des gesamten Großreichs«, überlegte Jean-François. »Der letzte Spross aus Esans Linie. Der Kelch, der das Blut des Erlösers auffing. Ein sechzehnjähriges Mädchen.«

Gabriel goss die letzten Tropfen Monét in sein Glas. »Eine unerwartete Wendung.«

»Und Danton hatte von diesem Umstand auch keine Ahnung, wie ich vermute? Ich könnte mir vorstellen, dass seine Verfolgung noch etwas entschlossener ausgefallen wäre, hätte er die Wahrheit gewusst. Trotz seines Alters hatte die Bestie von Vellene doch immer eine Vorliebe für hübsche demoiselles

»Chloe wusste es.« Gabriel zuckte die Achseln. »Saoirse auch. Aber Sœur Sauvage hielt das Geheimnis des Mädchens so gut verborgen, dass Danton es ihr nicht entreißen konnte, als er in dieser einen Nacht in ihren Kopf eindrang. Mit Saoirses Gedanken hatte er sich nie befasst. Und Diors Verstand war für die Toten stets ein verschlossener Raum.«

»Und daher spielte Danton stattdessen mit Euch .« Jean-François schnalzte mitleidig mit der Zunge. »Und ließ zu, dass Eure kleine Vendetta wegen Eurer famille ihn davon ablenkte, seine Beute so schnell wie möglich zu reißen, so dass er schließlich zusehen musste, wie sie ihm buchstäblich und metaphorisch durch die blutigen Finger glitt.«

»Ich würde die Vendetta zwischen mir und den Voss nicht als klein beschreiben, Chastain. Die Blutfehde zwischen Fabiéns Brut und mir hat ein halbes Leben lang geköchelt.«

»Also.« Jean-François schob die Fingerspitzen aneinander und legte sie an seine roten Lippen, während er sein Gegenüber mit den Augen eines Jägers musterte. »Wir sind zurückgekehrt. Zum Anfang. Und San Michon.«

Gabriel seufzte und betrachtete das leere Glas in seiner Hand. Fragte sich, ob er nun betäubt genug war. Kalt genug. Er fühlte sie nun beide, die Enden der zwei Geschichten, die er angefangen hatte, wie alte Narben auf tätowierter Haut. Er fragte sich, welche eine größere Wunde reißen, welche mehr bluten würde, und für einen kurzen, von den Monden geküssten Augenblick betrachtete er das Glas in seiner Hand und überlegte, welche Klinge sich daraus schlagen ließe. Für die Haut eines Vampirs würde es nicht reichen, das stand fest, für seine eigene aber schon.

Nicht quer zur Fließrichtung, sondern längs. Die Scherbe tief hineinstoßen und das verfluchte Blut strömen lassen. Aber solche Gedanken waren nutzlos, und das wusste er – aus bitterer Erfahrung und aus langen einsamen Nächten, wenn er hatte zusehen müssen, wie sich die Wunden vor seinen tränenblinden Augen wieder schlossen und der Fluch in seinen Adern nicht zuließ, dass er starb. Dass er schlief.

Dass er schlief und niemals mehr träumte.

Meline kehrte zurück, ihre sanften Schritte auf der Treppe kündigten sie an. Sie trat durch die Tür, die sie zuvor nicht einmal verschlossen hatte, und trug ein goldenes Tablett auf einer gepflegten Hand. Der Damast ihrer Röcke raschelte wie gefallenes Laub, als sie in den Raum glitt, und Gabriel fühlte die Wärme ihres Körpers, hörte die Musik ihres Pulsschlags, als sie eine neue Flasche Monét auf den Tisch zwischen ihm und dem Geschichtsschreiber stellte. Dann sank sie auf die Knie, den Kopf gesenkt, und streckte wie eine Priesterin vor der marmornen Statue eines alten Gottes die Hände aus. Jean-François nahm das neue Tintenfass, das sie ihm darbot.

»Merci , mein Täubchen.«

»Wünscht Ihr noch etwas anderes, Meister?«

Der Vampir streckte die Hand aus und ließ einen langen, scharfen Fingernagel sanft über ihre Wange gleiten. Ihr stockte der Atem, als er seine Klaue unter ihr Kinn legte und ihren Kopf hob, bis sie ihm in die Augen sehen konnte.

»Oh, mein Schätzchen«, flüsterte er. »Immer.«

Ihre Lippen öffneten sich leicht, und ein erbebender Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Aber der Vampir zog die Hand wieder weg, so unbarmherzig, wie Gott seinen Schäfchen unerwartet den Segen entzieht. »Lass uns jetzt allein.«

»Ich bin Eure Dienerin, Meister.«

Die Hörige erhob sich mit zitternden Knien, knickste und verließ den Raum. Nun waren sie wieder allein, Mörder und Monster, und ein Meer ungesagter Dinge lag zwischen ihnen. Der Vampir sah zu, wie Gabriel sein Glas bis zum Rand füllte – mit Wein, der zwar aussah wie Blut, aber nichts von dessen Versprechen barg. Lederne Flügel zerrissen die Nacht hinter den Fenstern. Die Zwillingsmonde standen am Himmel, in Rot getaucht.

»Irgendwann einmal müssen wir dorthin zurückkehren, de León«, sagte Jean-François. »Zu den sieben Säulen und der scharlachroten Brennerei und den Mauern der Trieze. Zum weisen Meister Grauhand und dem grausamen Seraph Talon, zum verräterischen jungen Aaron de Coste und eurer letzten gemeinsamen Jagd. Ihr wurdet über die gefrorenen Straßen des Nordlunds ausgesandt, Silberwächter. Eine Voss von uraltem Blut hatte hinter den schrecklichen Ereignissen in Himmelsfall gesteckt. Ein Eisenherz von unermesslicher Macht war bereits östlich der Gottesend-Berge unterwegs, während der Ewige König noch seine Endlosen Legionen in Talhost zusammenzog. Es liegt ein Geheimnis in Euren Truhen verborgen, de León. Ein Geheimnis, getränkt vom dunkelsten Blut, von heiligen Zungen geflüstert. Und ich möchte es gern enthüllen, bevor Euch der Wein zu trunken macht, um Euch zu erinnern.«

»Aber das ist ja das Problem, Vampir. Sosehr ich es auch versuche. Sosehr ich es mir auch wünsche.«

Gabriel sah hinaus in die trostlose Nacht. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, in seinen Ohren klangen silberne Trompeten, und auf der Zunge brannte der Geschmack einer verbotenen Frucht.

»Ich erinnere mich an alles. «