»E s schlich sich an mich an wie Schlaf am Ende eines ruhigen Tages. Ein kühles Prickeln im Nacken. Aaron spürte es auch und wandte den Kopf zu dem Grüppchen Demoisellen. Und zwischen ihnen stand eine Frau, die vorher nicht dort gewesen war, als ob die Schatten sie selbst herbeigezaubert hätten.
Sie war Stille. Sie war gefallenes Laub. Sie war ein blutroter Fleck, der sich leise auf dem Tanzboden ausbreitete und bei dessen Anblick mein Herz das Schlagen aufgeben wollte. Das Tropfen von heißem Wachs auf nackter Haut. Die erste tastende Berührung der Zunge einer Geliebten im offenen begehrenden Mund.
Sie trug Purpurrot. Ein langes fließendes Kleid aus Spitze und Korsage, wie das einer Braut, nur in Blut getaucht. Ihre Haut war nicht nur blass geschminkt wie die aller Frauen um sie herum, sondern von sich aus so weiß und glatt wie schönster Alabaster. Ihr Haar hatte das Rot einer feurigen Flamme, floss über ihre bloßen Schultern und reichte bis über ihre schlanke Taille. Sie sah sich unter den Tänzern um, die an den Seiten des Ballsaals im flackernden Licht standen, und ihre Augen waren so schwarz wie die Tiefen der Hölle.
›Allmächtiger Gott …‹, hauchte ich.
Sicher, mir waren auch vorher schon Edelblüter begegnet, oui . Aber noch nie eines wie sie. Sie schwebte zwischen den Feiernden dahin, bezauberte jene, denen sie ihre Aufmerksamkeit schenkte, glitt durch die anderen hindurch wie Rauch. Niemand hatte ihr Eintreffen angekündigt, und ich fragte mich, ob sie vielleicht schon die ganze Zeit über hier gewesen war und gewartet und zugesehen hatte. Es war unmöglich, den Blick von ihr zu wenden, aber noch während ich sie ansah, machte sich ein Gefühl des Entsetzens in mir breit. Dieses Wesen sah die Leute um sich herum mit einer Leidenschaftslosigkeit und Grausamkeit an, wie man sie nur entwickeln konnte, wenn man eine echte Vorstellung von dem Begriff ›ewig‹ bekommen hatte.
Als sie uns betrachtete, sah sie keine Menschen. Sie sah Nahrung .
›Und siehe da, ich gewahrte eine bleiche Jungfer‹ , raunte es hinter uns. ›Ihre Augen waren schwarz wie die Mitternacht und ihre Haut kalt wie der Winter, und in ihren Armen trug sie aller schlafenden Säuglinge und aller zitternden Kinder Albträume, die ausgereift und vollendet in die Welt der Wachenden getreten waren.‹
›Und ihr Name war Tod‹ , flüsterte Aaron.
In den Schatten hinter uns stand Grauhand. Seine blassgrünen Augen waren auf den Neuankömmling gerichtet und rot gefärbt von der Pfeife Sanctus, die er offenbar bereits geraucht hatte. ›Wobei diese Zeilen aus dem Buch der Wehklagen ihr kaum gerecht werden, oder?‹
›Ebenso wenig wie die Schilderungen, die wir auf dem Weg hierher hörten.‹ Ich blickte wieder zu dem Ungeheuer, und mein Mund war trocken wie Asche. ›Großer Erlöser, so etwas habe ich noch nie gesehen.‹
›Eine Altvordere.‹ Grauhand nickte. ›Es gibt kein gefährlicheres Wild auf Erden.‹
Schweigend beobachteten wir, wie die Vampirin durch die Menge glitt, während die Welt um sie herum aller Farbe beraubt schien. Ein hübscher Stutzer vollführte eine tiefe Verbeugung vor ihr; eine Fliege, die eine Spinne zum Tanz aufforderte. Die Frau lachte und gestattete dem Edelmann, sie aufs Parkett zu führen, ohne dass er auch nur den Hauch einer Ahnung bekam, in welch tödlicher Gefahr er schwebte – nicht nur, was seinen Körper, sondern auch, was seine Seele betraf.
Aaron und ich erhoben uns, als nun auch Talon zu uns trat. Die Wangen des Seraphs röteten sich, als er der Altvorderen beim Tanz zusah, und auch seine Augen waren bereits blutrot. ›Allmächtiger Gott, was für ein Ungeheuer.‹
›Wenn wir sie hier stellen …‹ Aaron sah sich im Ballsaal um, und sein Blick galt zunächst seiner hübschen Cousine, dann seiner schönen Mamá. ›Dann bringen wir alle hier im Raum in Gefahr.‹
›Sie sind schon in Gefahr‹, sagte ich, während ich unser Wild im Auge behielt.
›De Coste hat recht‹, sagte Talon, der schnell atmete. ›Jetzt, da ich sie ansehe … Wir können es hier nicht auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen. Ein Tänzchen mit einer solchen Teufelin in einem belebten Saal könnte zu einem Massaker führen.‹
›Welchem Plan folgen wir dann, Seraph?‹, fragte Grauhand.
›Unsere Marianne ist hier auf der Jagd‹, erwiderte Talon, der die blutroten Augen weiter auf die Vampirin gerichtet hielt. ›Wir warten. Wir beobachten. Und wenn die Spinne ihr Opfer ausgewählt hat, dann folgen wir ihr dorthin, wo sie ihre Netze spinnt, und werden wie die Hämmer Gottes über sie kommen, wenn die Sonne aufgeht.‹
Ich runzelte die Stirn. ›Wir wollen zulassen, dass sie … sich jemanden von den Gästen holt? Ist das nicht eine Sünde?‹
Grauhand sah sich unbehaglich um. ›Da hat de León wohl recht, Seraph.‹
›Ein guter Jäger nutzt die Gelüste seiner Beute aus. Begierde ist eine Schwäche. Sieh sie an, Grauhand. Dieses Ungeheuer ist zu gefährlich, um ihr im Dunkeln entgegenzutreten.‹
›Sie wird aber doch weniger gefährlich sein, wenn wir sie hungrig ins Bett treiben, oder?‹, fragte ich.
›Wenn wir uns hier zu erkennen geben, bringen wir alle in Gefahr, Scheißblut‹, fuhr mich Talon an. ›Wir dürfen unser Ziel nicht verfehlen, wenn wir losschlagen. Wenn wir in dieser Nacht ein Schaf opfern, retten wir damit tausend anderen das Leben. Der Allmächtige wird uns unseren Frevel verzeihen.‹
Grauhands Miene verriet, dass diese Vorstellung meinem Meister ebenso wenig gefallen wollte wie mir. Aber Talon war ein Seraph in der Hierarchie des Ordens, Grauhand hingegen nur ein Frère.
›Meister …‹
›Der Seraph hat gesprochen. Du tust, was man dir befiehlt, Anwärter.‹
Ich hatte einen Geschmack wie Eisen im Mund. Kaltes Entsetzen spürte ich in meinem Bauch. Aber ich hatte Grauhand auf der Jagd schon einmal nicht gehorcht, in Himmelsfall. Das wagte ich nicht noch einmal. ›Oui , Meister.‹
›Meint Ihr, sie hat uns erkannt?‹, fragte Aaron.
›Noch nicht‹, gab Grauhand leise zurück. ›Aber wenn wir weiter so hier verharren wie Fliegen auf einem Leichnam, wird sie es bald tun. De Coste, geh nach draußen zu den Kutschern und Lakaien. Das Eisblut ist hier mit einer Halbkutsche angekommen, die von einem ihrer Hörigen gezogen wurde – einem Ossianer mit dunklem Bart. Lass deinen Ilon-Zauber auf ihn wirken und versuche herauszufinden, wo sie derzeit residieren. Geh äußerst vorsichtig vor. Wenn sie merken, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind, werden sie nicht nach Hause zurückkehren.‹
Aaron nickte und antwortete mit noch immer leicht schwerer Zunge: ›Ich werde sanft wie ein Lämmchen sein, Meister.‹
›De León, geh am Eingang auf Beobachtungsposten. Der Seraph und ich werden die Flanken sichern.‹
Talon packte mich am Arm, als ich gehen wollte. ›Vergiss nicht, Bastard, wir haben es mit einem altvorderen Eisenherz zu tun. Sobald sie auch nur in deine Richtung blickt, rufe dir die Lehren in Erinnerung, die ich dir beigebracht habe. Denke an harte Arbeit und müde Beine. Baue dir daraus eine Mauer und verbirg darin deine Geheimnisse.‹
›Beim Blute, Seraph.‹
Mit meinem leeren Tablett glitt ich durch die Menge davon. Innerlich war mir fürchterlich zumute. Mir war bewusst, dass dieses Geschöpf tödlicher war als jeder andere Feind, mit dem ich es bisher zu tun gehabt hatte; wenn wir nachts zuschlugen, wenn sie am stärksten war, würde sie uns alle niedermetzeln. Aber die Vorstellung, dass wir jemanden aus dieser närrischen geschminkten Gesellschaft als Köder für unsere Falle benutzen würden, quälte mich zutiefst.
Von meinem Posten aus beobachtete ich, wie das Eisblut durch den Raum streifte und alle in ihrer Nähe verzauberte. Diese Leute ahnten nichts von dem Bösen, das unter ihnen umging, und wurden stattdessen davon angezogen wie Motten vom Licht. Aber hier am Eingang fiel mir noch jemand auf, der die Szene ebenso sorgfältig beobachtete wie ich. Ein dunkelhaariger Junge, seinem Äußeren nach einige Jahre jünger als ich, in schwarzen Samt mit Perlenstickerei gekleidet. Mir wurde klar: Das war der Junge, der sich als Mariannes Sohn ausgab.
Adrien .
Er war schön. Zeitlos. Und als sich unsere Blicke trafen, spürte ich, wie sein Verstand nach meinem griff, sanft wie ein erster Kuss. Es war ein ganz seltsames Gefühl – als würden kalte Fingerspitzen über meine Kopfhaut streichen, um dann durch die wachsweiche Kuppel meines Schädels zu dringen. Sofort füllte ich meinen Kopf, wie Talon es mir beigebracht hatte, jammerte innerlich über meine schmerzenden Füße und klagte über die ungehobelten Manieren der Herrschaft. Aber dann glitten die Augen des Wesens über mein Wams und die darunter verborgenen Waffen. Es spürte, dass da etwas nicht stimmte – und wenn es auch vielleicht nicht erfasste, was ich war, dann merkte es doch zumindest, dass ich kein Schaf war wie die anderen.
Dann sah er wieder zur Tanzfläche und richtete seine dunklen Augen auf die Frau, die ihn geschaffen hatte. Und obwohl sich die Haltung Marianne Luncóits nicht im Geringsten änderte, sah ich doch, dass sie schnell einen Blick mit ihrem Abkömmling wechselte. Es wurde etwas ausgetauscht zwischen ihnen, ihre schwarzen Augen fielen auf mich, und ich fühlte, dass sie mich sah , als stünde ich bloß und nackt vor Gott.
Ohne ein Wort war Adrien verschwunden, durch die Gäste geglitten wie ein Messer. Ich sah zu Grauhand, zu Seraph Talon, und ich wusste nicht, ob ich ihm folgen oder auf meinem Posten bleiben sollte. Marianne hatte sich jetzt bei einem jungen Mädchen eingehängt, das ganz in ihrem Bann zu stehen schien. Als sie zur Tür rauschte, teilte sich die Menge vor ihr wie ein Meer.
Mein Meister hatte mir befohlen, zu beobachten und sonst weiter nichts zu tun. Talon hatte die ausdrückliche Anweisung gegeben, unserem Wild bis zu seinem Unterschlupf zu folgen. Ich wollte mich als würdig erweisen. Ich wollte ein Bruder des Silberordens sein, und ich wusste, dass ich nach meinem Ungehorsam in Himmelsfall und der Entdeckung meiner seltsamen Blutgaben ohnehin schon mit einem Bein am Abgrund stand. Aber dann näherte sich das Ungeheuer, und ich erkannte, dass es sich bei der Kleinen in ihrem Arm um ein Mädchen mit herbstlaubgoldenem Haar handelte.
Aarons Cousine. Véronique .
Das ließ mich an meine Schwester Amélie denken. An meinen Schwur, den ich Astrid gegenüber getan hatte: dass ich alles tun würde, um auch nur einer Mutter den Schmerz zu ersparen, den meine durchlitten hatte. Ich wollte kein Held sein. Und kein Narr. Aber ich wollte auch nicht genauso entsetzlich werden wie diese Ungeheuer, die wir jagten.
Véronique war höchstens fünfzehn. Amélie wäre jetzt auch so alt gewesen. Vielleicht hätte ich mich abwenden und dieses eine Mal tun können, was man von mir verlangt hatte, hätte ich ihren Namen nicht gewusst. Aber dieses Mädchen hatte noch sein ganzes Leben vor sich. Oder überhaupt kein Leben mehr.
›Hilf mir, Gott‹, flüsterte ich. ›Bitte, hilf mir.‹
In diesem Augenblick überkam mich eine Hitze, die sich silbrig über meine Hand und meine Brust ergoss. Und als ich meine Handfläche ansah, stellte ich fest, dass der Siebenstern zu glühen begonnen hatte. Ich klammerte mich an diese Wärme, die sich in mir ausbreitete, und füllte meinen Kopf mit Gebeten zum Allmächtigen. Die Blutsaugerin kam näher, und ich wusste, dass sie mich, wenn ich mich ihr in den Weg stellte, wie Eis zerschmettern würde. Aber ich spürte den Atem Gottes in meinem Nacken und das brennende Silber in meiner Haut. Und da fasste ich in mein Wams, zog den Silberstahldolch und lockerte meinen Kragen. Dann trat ich der Vampirin entgegen und reckte die Handfläche hoch, die in kaltem blauweißem Licht erstrahlte.
›Halt! Im Namen des Allmächtigen!‹
›De León!‹, brüllte Talon. ›Verdammt sollst du sein, Junge!‹
Die Vampirin verengte die Augen. Die Musik erstarb, die Menschen um mich herum hielten den Atem an. In dem bleichen Licht, das aus meiner Hand erstrahlte, wirkte Luncóit plötzlich nicht mehr so schön wie zuvor. Dann sprach das Monster, wobei ich mir nicht sicher war, ob ich die Stimme vielleicht auch nur in meinem Kopf hörte: ›Keine Macht hat dein Allmächtiger über mich, Kind.‹
Nachdem ich zuvor die mentale Berührung des Totenjungen wie ein sanftes Tasten auf meinem Kopf wahrgenommen hatte, traf mich jetzt ein Hammerschlag, der in meine Gedanken eindrang. Ich wehrte mich, versuchte, sie zurückzudrängen, während Grauhand und Talon durch die Menge zu uns eilten. Die Vampirin trat auf mich zu, und das Licht meiner Handfläche leuchtete so gleißend, dass sie zusammenfuhr. Véronique blinzelte, als der Bann, unter dem sie gestanden hatte, brach, und sie wand sich im eisernen Griff des Eisbluts.
›Lasst sie los‹, zischte ich. ›Beim Blute des Erlösers, ich befehle es Euch.‹
Die dunkle Wut, die von Luncóit Besitz ergriff, verstärkte sich, und sie machte noch einen Schritt auf mich zu. Dieses Geschöpf war alt wie die Jahrhunderte. Ich war ein Insekt neben ihr. Und dennoch, mit Gott an meiner Seite stand ich tausend Fuß hoch aufgerichtet da. Vor ihr gleißte helles Licht, hinter ihr kamen Talon und Grauhand heran – mit einem Ruck schleuderte die Vampirin Véronique wie eine Stoffpuppe von sich. Ich schrie auf, machte einen Satz und fing das Mädchen auf, bevor uns die Wucht des Schlags rücklings gegen die Wand prallen ließ. Das Eisblut bewegte sich so schnell, dass sie nur als verwischter Schatten sichtbar war, stieß die Umstehenden zur Seite und stürzte sich mit einem krachenden Klirren durch die Fenster des Ballsaals. Glassplitter regneten zu Boden, und Grauhand und Talon sprangen hinter ihr her in die Nacht hinaus.
›Mord!‹, schrie nun jemand. ›Mord, bei Gott!‹
Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und sah mich blinzelnd um. Einer der Gens d’Armes des Hauses kam in den Saal gestolpert; er trug eine Dienstbotin auf den Armen. Das Mädchen war tot, aschefahl leer gesaugt, und hatte zwei Bissspuren am Hals. Die Gäste um mich herum hielten entsetzt die Luft an.
›Niemand von Bedeutung, was?‹, stöhnte Véronique, die ich noch immer festhielt.
Nachdem ich mich kurz überzeugt hatte, dass sie zwar unter Schock stand, aber zumindest nicht verletzt war, setzte ich meinem Meister und Talon nach und sprang ebenfalls durch das zerbrochene Fenster. Aaron war bei den Kutschen und rang mit einem hochgewachsenen bärtigen Mann. Grauhand stürmte über den Burghof, vorbei an den verblüfften Soldaten, und Talon folgte ihm; sie beide waren dank des Sakraments, das sie zuvor geraucht hatten, schnell wie Falken. Ich lief zu Aaron und schlug dem Hörigen den Knauf meines Dolches gegen den Kopf, so dass mein Kamerad ihm den Arm auf den Rücken drehen und ihn zu Boden stoßen konnte. Aarons Wams war blutverklebt – vom Wein benebelt hatte er offenbar einige Stiche abbekommen. Aber er wirkte eher wütend, als dass er Schmerzen zu haben schien.
›Verdammtes Dreckschwein ‹, zischte er und trat mit dem Stiefel gegen den Kopf des Hörigen.
›Geht es dir gut?‹, keuchte ich mit einem Blick auf seine blutige Kleidung.
›Mach dir nicht ins Hemd, du erbärmlicher Tagelöhner.‹ Er verzog das Gesicht und drückte sich die Hand gegen die blutende Brust. ›Was in Gottes Namen ist dadrinnen vorgefallen?‹
›Luncóit hat mich entdeckt … Ich meine, ich …‹
De Coste fing meinen Blick. ›O Muttermaid, de León, du verdammter Wichser hast doch nicht etwa …‹
Mir wurde flau im Magen. Zwar bedauerte ich nichts, aber ich wusste, dass ich mich mit meinem Ungehorsam schon wieder bis zum Hals in die Scheiße geritten hatte. Dann nahten Schritte, und jemand packte mich an der Kehle. Ich wurde gegen die Kutsche geschleudert, und schwarze Sterne flimmerten vor meinen Augen. Dann krachte eine Faust in meinen Magen, und der nächste Schlag traf mich so hart seitlich am Kopf, dass er mir fast die Kinnlade ausrenkte. Mit blutendem Mund brach ich auf dem Pflaster zusammen und schrie auf, als ein Stiefel sich in meine Rippen bohrte.
›Du scheißblütiger kleiner Arschkneifer!‹, schnauzte Talon. ›Ich hätte dich besser gleich zur Himmelsbrücke schleppen lassen sollen! Wegen dir haben wir unser verdammtes Scheißwild verloren!‹
Hustend richtete ich mich auf den Ellenbogen auf und spuckte Blut. ›Ich habe g-gerade einem Mädchen das L-Leben gerettet!‹
›Und das Unzähliger anderer zerstört!‹ Meister Grauhand hatte seinen stoischen Gesichtsausdruck verloren, und seine Eckzähne ragten lang hervor, als er auf mich hinunterblickte und sein Silberstahlschwert zog. ›Was hatte ich dir gesagt , Junge? Was hatte ich gesagt , was würde passieren, wenn du mir noch einmal nicht gehorchen würdest?‹
Inzwischen hatten sich die Gäste vor dem Herrenhaus versammelt. Aaron blickte zur Portaltreppe, wo seine Cousine zwischen ihren Verwandten stand; ihr Seidenkleid war zerrissen, ihr Herbstlaubhaar zerzaust. Der Baron und die Baronin sahen höchstpersönlich zu, als Grauhand seine Klinge hob. Aber Gott war an meiner Seite gewesen, als ich das Ungeheuer mit meinem Blick gestellt hatte. Er hatte gewollt , dass ich das Leben dieses Mädchens rettete.
Da würde er mich doch jetzt nicht im Stich lassen?
Das Licht der Monde schimmerte dumpf auf dem Silberstahl, und mein ganzes Leben spulte sich vor meinen Augen ab. Doch als das Schwert herabfuhr, war es Aaron, der Grauhand in den Weg trat. ›Meister, haltet ein!‹
Grauhand bremste seinen Schlag und starrte de Coste an, der auf den bewusstlosen Hörigen zeigte.
›Dieser Dreckskerl hat verraten, wo ihr Nest ist! Ein Herrenhaus bei der Rauschenbachbrücke an der Silberstraße. Wenn wir uns beeilen, dann können wir sie ausräuchern, bevor sie fliehen.‹
›Immer vorausgesetzt, dass sie überhaupt dorthin zurückkehren, nachdem sie aufgeflogen sind‹, zischte Talon. ›Und vorausgesetzt, dass Luncóit uns nicht in Stücke reißt, bevor sich die Sonne erhebt.‹
›Ein Grund mehr, diesen Idioten zu verschonen.‹ Aaron blickte zu seiner Cousine, dann wieder zu mir. ›Zumindest für den Augenblick. Wir werden jede Klinge brauchen, wenn wir uns einem solchen Feind entgegenstellen.‹
Grauhand und Talon tauschten blutrote Blicke. Ich sah, wie mein Meister den Schwertgriff fester umfasste. Er war so kurz davor, die Klinge herabsausen zu lassen, dass ich es schmecken konnte. Aber dann sah er doch zu den Adligen und Soldaten, die uns umringten, und wandte sich Aaron zu, der ihm jetzt im Weg stand.
›Du solltest darum beten, dass der Anwärter de Coste recht hat, de León‹, knurrte Grauhand. ›Denn falls uns dieses Monster und ihre Brut entwischen, dann wird jeder Mord, den sie hiernach begehen, ein Fleck auf deiner Seele sein. Und was auch immer heute Nacht geschieht, wenn wir nach San Michon zurückkehren, wirst du dich für diese Sache verantworten müssen. Das jedenfalls kann ich dir jetzt schon versprechen, Junge: Du wirst nie wieder als mein Lehrling mit mir auf die Jagd gehen.‹
Ich ließ den Kopf hängen und nickte langsam. ›Oui , Meister.‹
Grauhand schob sein Schwert in die Scheide. Talon wandte sich wieder zur Burg, die Augen rot wie Blut.
›Sucht eure Sachen zusammen, Brüder. Wir haben einen Blutsauger zu erledigen.‹«