»L aure Voss. Lieblingstochter des Ewigen Königs.
Ich erinnerte mich an die Geschichten, die man sich abends am Feuer von ihr erzählt hatte. Ein Schrecken der Nacht. Eine wahre Altvordere. Als die Endlose Legion ihres Vaters die Mauern von Vellene erstürmte, hatte Laure alle kleinen Kinder in der Stadt an sich gebracht, sie wie ein Ungeheuer aus alten Sagen aus ihren Wiegen und den Armen ihrer schreienden Mütter gerissen. Und dann hatte sie diese Kinder aufgeschlitzt wie Heiligentagsgeschenke und ihr Blut in den Brunnen auf dem Vellener Marktplatz gegossen.
Und dann hatte sie verdammt nochmal darin gebadet .
Der Rote Geist .
Ich reckte meine Hand in die Höhe, Aaron ebenfalls, und unsere Tintenkunst brannte mit heiligem Glanz und hielt die Vampirin auf Abstand. Aber ich hatte nur noch eine Silberbombe. Unsere Pistolen waren leer. Talon war schwer verwundet, Aaron und ich nur Anwärter – gegen derart mächtige Schrecken hatten wir kaum eine Chance.
Grauhand lag immer noch dort, wo er zusammengebrochen war, während wir drei uns in unserem Lichtkreis aneinanderdrängten. ›K-Keine Heldentaten‹, flüsterte unser Meister. ›Lauft …‹
Talon stieß keuchend die Luft durch die blutigen Lippen. ›Ich fürchte, diesem Feind sind wir nicht gewachsen …‹
›Die Kathedrale.‹ Aaron deutete auf das Gebäude hinter uns. ›Geweihter Boden.‹
›Wir dürfen Grauhand nicht im Stich lassen‹, zischte ich.
›Das solltest du aber.‹ Laure sah mich an. ›So wie du sie im Stich ließest?‹
Mir drehte sich der Magen um, als die Vampirin sich in meinen Kopf hineindrängte. Ich versuchte, mich zu wehren, so wie Talon es mir beigebracht hatte, aber unter der Macht zahlloser Jahre brach meine Verteidigung zusammen.
›Ich sehe sie, Schwachblut‹, flüsterte Laure. ›Diese süße Tochter Lorsons, die wie ein Schatten neben dir schwebt. Ich rieche sie, wie sie wie Blut von deinen schuldbewussten Händen tropft. Wenn du doch nur dort gewesen wärst, dann hättest du sie vielleicht schützen können. Wenn du an jenem Tag mit ihr in den Wald gegangen wärest, als sie dich darum bat, dann könnte deine Schwester Amélie noch leben.‹
Laures Augen bohrten sich in meine, und ihre Stimme drang wie ein Messer in meine Brust.
›Stattdessen begegnete sie mir.‹
Wut ballte sich in meinem Bauch zusammen. Die Fangzähne rührten sich in meinem Kiefer. ›Ihr lügt .‹
Laure Voss neigte den Kopf. ›Tue ich das?‹
›Hör nicht hin‹, warnte Aaron. ›Wer toten Zungen lauscht, wird tote Zungen schmecken.‹
›Ah, oui ‹, hauchte die Vampirin, die unseren Lichtkegel umkreiste. ›Aaron de Coste. Edles Blut, aber das Herz eines Feiglings. Fürchtest du mich, junger Liebender? So wie du deinen Stiefvater fürchtetest, als er euch in inniger Umarmung auf dem Bett deiner großen Liebe fand? Schwitzend und befriedigt …‹
De Coste versteifte sich. Er ballte die Fäuste.
›Sascha hat dich geliebt. Lag vor dem Baron auf Knien und flehte ihn um Gnade an, doch du tatest nichts. Stattdessen warfest du deine große Liebe dem Wolf vor, damit dich sein Biss verschonen möge.‹
›Schweigt‹, zischte Aaron mit glitzernden Fangzähnen. ›Das ist nicht wahr.‹
›Es ist nicht meine Schuld, Papá‹ , wimmerte Laure und presste die Hand an die Brust. ›Ich wollte das nicht. Sascha hat mich verführt, Papá. Sascha zwang m…‹
›SCHWEIGT !‹ Aaron hob sein Schwert, und das Licht wurde schwächer, als er beide Hände um den Griff schlang. Jetzt blieben nur noch der helle Schein meiner Handfläche und der Schimmer, der von den Tätowierungen auf unseren Oberkörpern und Armen ausging. Der Lichtkegel wurde kleiner. Und Laures Augen schmaler.
›De Coste, bleib standhaft!‹, rief Talon. ›Sie will, dass du gegen sie kämpfst! Bleib im Lichtkreis! In Gottes Licht sind wir zusammen stärker!‹
Laure lachte nur. ›Glaubt Ihr, dass Euer Gott Euch vor mir erretten wird?‹
Talon verzog das Gesicht, bleckte die Fangzähne. ›R-raus … aus meinem Kopf, Miststück …‹
›Wir sind Eure Strafe, Seraph. Und Euer Gott wird Euch nicht verschonen. Er verabscheut Euch und alles, was Ihr seid.‹ Sie neigte den Kopf und verzog höhnisch die Lippen. ›Und ich würde Euch dazu bringen, mich zu lieben, Talon de Montfort. Ich würde Euch eine Lust versprechen, wie sie sich kein keuscher und heiliger Bruder je erträumen könnte. Aber ich erkenne es jetzt, hinter Euren blutgetränkten Augen. An Euren blutgetränkten Händen.‹
Die Vampirin lächelte.
›Ihr seid schon unser, Bleichblut. Eure kleine Aoife könnte bezeugen, dass …‹
Und das genügte. Ich schrie noch eine Warnung, aber Talon drehte plötzlich durch und griff an, und Aaron tat es ihm gleich. Und obwohl ich vortrat und mein Licht erstrahlen ließ, öffnete Laure Voss ihre Arme. Sie glitt unter Talons Geißel hindurch und huschte schneller als ein Kolibri an Aarons Schwert vorbei. Ihre rechte Hand überwand die Deckung des Seraphs und verdrehte ihm den Arm so brutal, dass sich ein Knochen durch die Haut bohrte. Ihre andere Hand krachte gegen seinen Bauch und riss mit ihren Klauen ein tiefes Loch. Sie schleuderte Talon von sich, und lange Schlingen seiner Eingeweide quollen aus der klaffenden Wunde. Aaron rief laut den Allmächtigen an, als er vorsprang und auf die Wunde zielte, die Grauhand schon leicht geöffnet hatte. Und endlich, endlich schlug seine Klinge den marmornen Schutz entzwei und riss Laures Hals breit auf.
Aber die Fürstin des Ewigen schlug zurück, und ich schrie laut, als ihre diamantenharten Nägel Aaron die Wange bis auf die Knochen aufschlitzten. Dann hörte ich seine Rippen brechen, als sie ihm einen Hieb gegen die Brust versetzte und er rücklings über die Brücke flog.
›De Coste!‹
›Gabriel.‹
Ich wandte mich der Vampirin zu, die sich erneut am äußeren Rand meines Lichtscheins aufhielt. Jetzt war ich allein in einem Meer der Dunkelheit. Ich erinnerte mich an Himmelsfall, daran, wie das Blut des kleinen Claude de Blanchet unter meiner Hand zu kochen begonnen hatte. Aber wenn ich noch immer über diese Gabe verfügte, dann hatte ich keine Ahnung, wie ich sie aufrufen konnte. Laures Augen, eingerahmt von ihrem flammenroten Haar, waren starr auf mich gerichtet, die Lippen hatte sie leicht geöffnet. Dann fuhr sie sich mit der Zunge über die Zähne, und die blutigen Fingerspitzen tasteten nach der klaffenden Wunde an ihrer Kehle, bevor sie sich über die sanduhrschlanke Taille strich und sich die Hände zwischen die Beine schob.
›Ich spüre deine Begierde, Schwachblut. Ich spüre deine Angst. Ich weiß, was du deiner armen Ilsa angetan hast. Ich weiß um deine Furcht, dass du deiner lieben Astrid einmal dasselbe antun könntest. Doch mein Fleisch ist nicht so schwach und kraftlos, dass es an deinem Stein zerbrechen könnte. Mir kannst du weh tun , Gabriel. So viel, wie du willst.‹
Sie war scheußlich. Sie war das fleischgewordene Böse. Aber bei Gott, sie war so schön und dunkel wie das Ende aller Tage. Ich schluckte. Dachte an Ilsas Blut, das pulsierend in meinen Mund rann. An den Duft von Astrids Blut, der in der Luft hing. Laure tigerte vor mir hin und her, aber ich schwöre, dass ich sie auch hinter mir fühlen konnte, wie ihre Hände über meine nackte Brust strichen, über meinen Bauch und dann tiefer und tiefer. Sie sah zu der Tasche in meiner Hose, in der das zusammengefaltete Porträt schlummerte, das Astrid gezeichnet hatte. Dann biss sie sich auf die Lippe und erschauerte, als ihre Zähne die Haut durchdrangen und Blut hervortrat.
›Lass mich dich küssen, Gabriel. Lass mich dich an Stellen küssen, die sterbliche Mädchen nicht zu berühren wagen.‹
Ich sah zu meinen Kameraden, sah die fallen gelassenen Waffen und die gebrochenen Knochen. Ich hätte weglaufen können. Mich umdrehen und zur Kathedrale fliehen, deren Glocken jetzt gerade den Anbruch des Maximille-Tages einläuteten. Aber mein Rückzug hätte bedeutet, meine Brüder ihrem Tod zu überlassen.
›Es wird reine Glückseligkeit sein‹, versprach Laure. ›Ich werde die Göttin sein, für die du stirbst.‹
Und als ich die leuchtend roten Lippen, die schlanken Hände und die blutigen Kurven sah, fragte ich mich erneut, wie es sein würde, wenn man in einem Augenblick der Glückseligkeit starb und nicht erfüllt von Schmerz. Wie es sich anfühlen mochte, wenn ihre Zähne in meine Haut drangen. Wenn ich genommen wurde, anstatt selbst zu nehmen.
›Küss mich. Nur ein Mal, Gabriel. Küss mich.‹
Ich fühlte, wie meine Hand herabsank. Wie das Licht um mich herum verging und nur noch der Löwe auf meiner Brust leuchtete, schwach und wässrig dünn. Das Lächeln der Vampirin wurde breiter, und sie trat näher. Dort, wo Aaron und Grauhand ihre Schwerter in ihr Fleisch geschlagen hatten, war ihre Kehle aufgerissen, und ich fühlte die Kühle, die von ihrer Haut ausging, roch das Blut und den Tod und Dreck, als sie mich in ihre Arme zog. Ihre Lippen glitten näher und näher an meinen Mund. Mein ganzer Körper vibrierte unter ihren Berührungen. Und dann schickte ich tonlos ein Gebet an den Allmächtigen, aktivierte den Zünder meiner letzten Silberbombe und stieß sie in das Loch an ihrem Hals.
Die Explosion erschütterte ihren Körper und schleuderte mich nach hinten. Silberfeuer versengte Laures Fleisch und verwandelte Marmor in Ebenholz. Ihre Schulter und Kehle wurden auseinandergerissen; einen solchen Schlag hätte kein gewöhnliches Eisblut überlebt. Doch dieses gottlose Miststück kam zwar ins Stolpern, brach aber nicht zusammen. Ihr Gesicht war vor Angst und Schmerz verzerrt, als ihr schönes Seidenkleid Feuer fing.
Ich richtete mich auf, als die Flammen nach ihr griffen, und Laure fing an zu schreien, während ich auf Knien zu Grauhand hinüberrutschte. Mein Meister war bewusstlos, aber er atmete noch, und ich warf ihn mir über die Schulter, während Laure sich zuckend wand und kreischend an ihrem Kleid zerrte, bevor sie sich in eine Feuersäule verwandelte. Dann rannte ich zu Talon, und der Seraph stöhnte vor Schmerz, als ich ihn hochzog und ›KOMMT JETZT !‹ brüllte. Als Letzten erreichte ich De Coste mit seinem blutig zerfetzten Gesicht und der aufgerissenen Brust. Ich griff ihm stützend unter die Achsel, und mit Grauhand auf dem Rücken und Talon an meiner Seite rannten wir davon. Die Straßen hinab, an entsetzten Bürgern vorüber, bis wir endlich den großen Marktplatz erreichten. Und dort erhob sich die Kathedrale von Coste und läutete zur Mitternacht, ein Rund aus Marmor, verziert mit gotischen Türmchen, die sich zu einem Himmel emporreckten, der uns vielleicht noch nicht ganz aufgegeben hatte.
Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf und stolperte auf den geweihten Boden. Talon ließ sich über die Schwelle fallen; sein Bauch war eine einzige aufklaffende, blutende Wunde. Ich bettete Grauhand vorsichtig auf die Fliesen und sorgte dafür, dass Aaron sich an der Wand abstützen konnte, dann legte ich ihm die Hand auf die blutverschmierte Stirn.
›De Coste?‹, flüsterte ich. ›Hörst du mich?‹
›Ich höre dich.‹
Mein Bauch gefror zu Eis, als ich mich zum Marktplatz umwandte. Und da stand sie, nackt und geschwärzt. Die einst so makellose Alabasterhaut war zerstört, Knochen schimmerten durch die aufgebrochene Fassade. Ihr flammenrotes Haar war zu Asche geworden.
Aber dennoch, Laure lebte noch immer .
›Es gibt keinen Gott, der dich vor mir erretten wird‹, schwor sie. ›Ich bin eine Fürstin des Ewigen, und ewig werde ich dich jagen. Alles, was du hast, werde ich dir nehmen. Und alles, was du bist, werde ich zerstören. Und am Ende werde ich dich in die Knie zwingen, Schwachblut. Ich werde dich schmecken, bis dass du stirbst.‹
Laures Blick glitt die Straße hinab, denn von dort ertönten laute Hornsignale, und eisenbeschlagene Stiefel schlugen auf schneebedecktes Pflaster. Baron de Coste hatte endlich seine Männer zusammengerufen, und nun kamen Soldaten mit brennendem Pech und gleißenden Fackeln heran. Obwohl sie verwundet war, hätte die Vampirin immer noch so viel Zerstörung unter ihnen anrichten können wie eine Sense in einem Kornfeld. Aber es war ein Kampf, den sie nicht ausfechten musste. Das, weswegen sie nach Coste gekommen war, hatte sie bereits vollbracht. Und sie konnte warten. Sie hatte ewig Zeit.
›Alle werden vor uns knien.‹
Sie war verschwunden. Ein Wimpernschlag, und plötzlich war sie nicht mehr da, und der Platz lag leer vor uns. Mein Mund war staubtrocken. Meine Hände zitterten. Aber entgegen aller Wahrscheinlichkeit waren wir noch am Leben.
›N-Närrischer … k-kleiner Drecksack.‹
Ich sah Grauhand an. Sein zerstörtes Gesicht. Die Höhlung, in der einmal sein Schwertarm gesessen hatte, blutete noch immer leicht. Nach einem längeren suchenden Blick riss ich einen Wandteppich von der Kirchenmauer und legte ihm den Stoff um die Schultern. Grauhand war ein Bleichblut, und der Blutverlust würde ihn nicht umbringen. Und die Tatsache, dass er überhaupt bei Bewusstsein war, bewies, wie tief das Silber in seinen Knochen verlief.
›Ich hatte dir befohlen zu fliehen‹, flüsterte er. ›Dein Ungehorsam wird dich noch einmal umbringen, Junge.‹
Ich sah Aaron an. Talon. Meinen Meister. Wir waren eine so seltsame Gemeinschaft; außer der Sünde unserer Geburt verband uns nichts. Aber dennoch. Aber dennoch …
›Das mag sein, Meister. Aber meine Brüder sind der Berg, auf dem ich sterbe.‹
Aaron brachte ein höhnisches Grinsen zustande. Seine Wunden zogen sich über die Stirn und die Wange, die Laures Krallen zerfetzt hatten. Die Narben würden ihm zeit seines Lebens bleiben.
›Eine hübsche Einstellung. Aber wie ich sehe, bist du n-nicht tot, de León.‹
›Morgen ist auch noch ein Tag.‹ Wieder blickte ich dahin, wo bis eben Laure Voss gestanden hatte. Ihr Schwur hing noch immer in der Luft. ›Diese Jagd ist noch nicht vorbei.‹
›Aber bisher war alles umsonst. Wir haben noch immer keine Ahnung, weshalb sie hier war.‹
Ein schriller Ruf zerriss die Nacht. Ich blickte auf den Platz hinaus, den die ersten Männer des Barons mit Schwertern und brennenden Fackeln in der Hand gerade erreicht hatten. Aber über ihren Köpfen schoss ein grauer Falke aus dem Dunkel heran. Schütze drehte eine kurze Runde, dann flog er durch die Tür der Kathedrale, und sein Flügelschlag wirbelte mir das blutdurchtränkte Haar ins Gesicht. Trotz seiner Verwundung brachte Grauhand ein Lächeln zustande, und ich stieß einen überraschten Seufzer aus, als ich sah, was Schütze in seinen Klauen hatte.
Einen toten weißen Raben.
›Schlauer Junge.‹ Grauhand nickte. ›Mein schlauer, schlauer Junge.‹
Der Falke krächzte leise, als ich seine Beute untersuchte. Nachdem ich das schwarze Schleifenband gelöst hatte, entrollte ich den kleinen Pergamentstreifen, der an das Bein des toten Raben gebunden gewesen war. Darauf befand sich eine herrlich gezeichnete winzige Landkarte der Gottesend-Berge. In einer schönen fließenden Handschrift waren zahlreiche Einzelheiten zu den Städten vermerkt, die sich am Rand der Bergkette befanden – Bevölkerungszahl, Bewaffnung, Garnisonsstärke. Schwarze Pfeile zeigten von Norden auf Coste, Tolbach, Himmelsfall und dann ins Nordlund hinein. Und trotz meiner Verletzungen kam ich auf die Beine, und mein Blut gefror zu Eis, als mir klarwurde, was ich da in meinen zitternden Händen fand.
›De León?‹, flüsterte Talon. ›Was ist das?‹
Ich sah meine Kameraden an und wusste nicht, ob ich hocherfreut oder entsetzt sein sollte.
›Ein Eroberungsplan.‹«