»D en ganzen Ritt über schalt ich mich einen Narren und verfluchte mich. Die ganzen siebzehn Tage lang, während ich zwischen Aaron auf der einen und Baptiste auf der anderen Seite dahinritt. Und wie ein Schatten in unserem Rücken, unerwartet und vielleicht auch unwillkommen, folgte uns Grauhand, begleitet von einer Kohorte Soldaten Ihrer Majestät in sonnenblumengelben Wappenröcken.
Sie hatten uns nur wenige Stunden nach der Schlacht blutverschmiert an der Ostseite der Berge aufgefunden, bei Chloe und den anderen Schwestern, die den Aufstieg nicht geschafft hatten. Grauhand und unsere Anwärterbrüder ritten voran, angeführt von einem atemlosen Kaveh. Im Morgengrauen erschien dann auch eine berittene Vorhut der Goldenen Schar, der Khalid und die anderen Silberwächter vorausgaloppierten. Und sie alle lauschten staunend der Geschichte, die Astrid ihnen berichtete: wie zwei Dutzend Menschen den Pass gegen zehntausend Feinde verteidigt und die Endlose Legion wieder zurück nach Talhost getrieben hatten, begraben unter hunderttausend Tonnen Schnee.
Der Abt und die anderen Silberwächter blieben mit der Goldenen Schar zurück, um den Pass zu sichern. Die Endlose Legion war nicht besiegt, und wir wussten alle, dass die Leichen sich irgendwann aus dem eisigen Grab buddeln würden, das wir ihnen bereitet hatten. Aber wie die Geschichte später zeigte, rückte Fabién Voss in jenem Jahr nicht erneut gen Nordlund vor, sondern zog sich nach Talhost zurück und wartete ab.
Er hatte schließlich eine Ewigkeit Zeit.
Aber uns war der Sieg kein Trost. Und obwohl ich wusste, dass die Blutsauger allesamt Schlangen und Füchse waren, musste ich doch nach Lorson reiten, um nach dem Rechten zu sehen. Wir gönnten uns nur so viel Rast, wie für die Pferde unbedingt nötig war. Ich schlief und aß kaum, so sehr quälte mich die Furcht vor dem, was wir vorfinden würden, und davor, wie es um ma famille , mein Zuhause stand. Der schlimmste Gedanke war dabei der, dass alles meine Schuld war. Laure hatte sich in Coste das Bild meines Dorfes aus meinem Kopf gefischt. Ich hatte sie dorthin geführt.«
Gabriel sah auf seine geöffneten Hände. Und er seufzte aus tiefstem Herzen.
»Die Ruinen waren erkaltet, als wir dort ankamen. Doch schon aus einiger Entfernung bemerkten wir den Geruch, und das allein ließ bereits Schluchzer in meiner Kehle aufsteigen. Ich sprang in den frisch gefallenen Schnee und schmeckte eine Luft wie Asche, die mich ersticken wollte, als ich in die Leere hinausschrie: ›Mamá? Celene! ‹
Nur fette Krähen antworteten mir und sahen mich mit schwarzen, hungrigen Augen an. Die Leichen lagen so da, wie Laure sie zurückgelassen hatte; eine große Zahl Toter fand sich auf dem Marktplatz, wo sie wie kaputte Puppen achtlos übereinandergeworfen worden waren. Darunter sah ich vertraute Gesichter, und mein Herz fror vor Entsetzen ein. Luc und Massey, Freunde aus meiner Kindheit. Meine süße Ilsa, so verdreht, als wäre sie aus Lumpen und Stöcken. Die Leichen toter Säuglinge waren wie Rosenblätter auf dem Schnee verstreut.
›Allmächtiger Gott‹, hauchte Aaron und schlug das Zeichen des Rads.
Baptistes Augen waren voller Trauer. Hinter ihm sah ich, dass die Mauern der Kapelle noch standen, der Stein allerdings rußgeschwärzt war. Durch den Schleier meiner Tränen erkannte ich, dass das Dach fehlte, und sofort war mir klar, was geschehen war – die gottesfürchtigen Bürger Lorsons hatten sich auf geweihten Boden geflüchtet oder sich in ihren Häusern verbarrikadiert, die ein Eisblut ohne Einladung nicht betreten konnte. Und der Rote Geist hatte ihre Dächer in Brand gesetzt und sie damit vor die Wahl gestellt, entweder dem Inferno zu entfliehen und in ihre ausgebreiteten Arme zu laufen oder drinnen zu bleiben und zu verbrennen.
Ich wanderte zwischen den verkohlten Kirchenbänken des Gotteshauses umher und suchte nach weiteren Toten. Mein Verstand wollte sich vor dem Entsetzen verschließen, das die Bewohner in ihren letzten Augenblicken durchlebt haben mussten. Von den Leichen, die ich fand, erkannte ich nur wenige; sie waren stark verkohlt. Aber im Herzen der Kirche sah ich eine Gestalt zusammengesunken vor dem Altar liegen. Fast zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ein Priester.«
»Der gute Vater Louis«, murmelte Jean-François.
»Oui.«
»Ihr hattet dafür gebetet, dass er schreiend sterben würde, Chevalier.«
Gabriel sah auf, die Augen grau wie Stahl. »Oui.«
»Und Eure famille ?«
Gabriel atmete hörbar aus und hielt dann den Atem an. Plötzlich wirkte er kleiner, als wären seine breiten Schultern unter der Last der Jahre zusammengesunken.
»Ich betrachtete Vater Louis’ Überreste, wie sie auf dem geweihten Boden lagen, der ihn nicht gerettet hatte. Und dann erstarrte ich, als ich entdeckte, dass er eine zweite Gestalt in den Armen hielt, als hätte er sie vor den Flammen schützen wollen. Sie war verbrannt wie Feuerholz, die Haut schwarz wie Kohle, die Knochen dünn wie Reisig. Aber es war zu erkennen, dass es sich um ein Mädchen handelte. Um eine Kerzenmagd.
›Nein‹, flüsterte ich. ›Nein, nein …‹
Meine kleine Schwester. Mein kleiner Satansbraten. Meine Celene. Ihr Haar war wie schwarzes Stroh und Staub, die Finger zu dürren Zweigen verbrannt. Ich fiel in ihrer Asche auf die Knie und schrie so laut, dass ich fühlte, wie mir die Stimme brach, dann fasste ich nach ihrer Wange und musste zusehen, wie die Haut in schwarzen Flocken vom kalten Winterwind davongetragen wurde. Mir wurde klar, dass ich mir nie die Zeit genommen hatte, ihre Briefe zu beantworten.
Und jetzt würde ich es niemals tun.
Ich ging durch das Dorf wie ein Mann zum Schafott. Die Männer, die mit mir gekommen waren, nahm ich nur als Geister wahr. Jemand versuchte, mir in den Weg zu treten, und ich stieß ihn beiseite und fauchte wütend. Dann stolperte ich durch die Asche und den Schnee, bis ich es gefunden hatte. Das Haus meines Stiefvaters.
Sie lagen im Hof. Natürlich. Sie wären nie hinter verschlossenen Türen geblieben, sobald sie bemerkt hatten, dass die Kirche brannte, in der sich meine Schwester befand. Das alte Kriegsschwert meines Stiefvaters lag nur wenige Zoll von seiner Hand entfernt. Er war mir so groß erschienen, als ich noch ein Junge war. Ein Riese, der stets seinen Schatten auf mich warf. Er war nie der beste Mensch gewesen, auch nicht der beste Vater, aber dennoch hatte er sich Mühe gegeben, diese Rolle zu übernehmen. Und dieser Anblick, wie er so zerfleischt und blutleer dalag, nur wenige Fuß von der Schmiede entfernt, die er aufgebaut hatte …
Aber das war nichts. Gar nichts verglichen mit dem, was mir noch bevorstand. Wenn mir der Anblick meiner Schwester wie ein Dolch in den Bauch gefahren war, dann zersplitterte ich wie Glas, als ich meine Mamá sah. Sie hatte die Hand zur Kapelle hin ausgestreckt. Ihre Augen waren wie eingefroren. Und ihr Gesichtsausdruck zeigte weder Angst noch Schmerz noch Seelenpein. Sondern Wut . Die Wut der Löwin, die sie immer gewesen war und die versucht hatte, zu ihrem verbrennenden Jungtier zu kommen.
An jenem Tag, als Amélie nach Hause zurückgekehrt war, da hatte ich erfahren, was Wut bedeutet, Eisblut. Und was Hass bedeutet. Aber jetzt spürte ich, wie mich die Wut überspülte wie Weihwasser. Wie das Feuer himmlischer Mächte. Ich sage es Euch jetzt, und es ist die Wahrheit: Der Junge, der ich einst gewesen war, starb an jenem Tag. Starb, als wäre er mit seiner Schwester in dieser Kirche verbrannt. Mir war, als würde ich in Stücke gerissen. Als würde ich zerlegt.
Der letzte Sohn Lorsons.
Grauhand saß bei mir, als Soldaten die Leichen aufstapelten und dem Feuer überantworteten. Und ich sah zu, wie die Flammen die dunklen Locken meiner Mamá und die Hände meines Stiefvaters verzehrten, wie Rauch und Funken zum tagestoten Himmel emporstiegen, während Grauhand mir verlegen die Schulter tätschelte wie ein Vater, der niemals einer hatte werden wollen.
Sein Gesicht war mit Asche verschmiert, von Narben durchzogen, und ein Lederstreifen verdeckte die leere Höhlung des geraubten Auges. Ich sah in die Dunkelheit hinauf, in den Rauch der Scheiterhaufen, und fragte mich, ob all das vielleicht nur ein Albtraum war, aus dem ich erwachen würde, wenn ich nur genug darum betete.
›Es tut mir leid, Grauhand‹, sagte ich. ›Es tut mir so leid, dass ich der Grund dafür war, dass sie Euch all das nehmen konnte.‹
›Es war Gottes Wille, de León. Wer sind wir, dass wir die Gedanken Gottes erraten könnten?‹
Ich ließ den Kopf hängen. ›Dann ist das hier sein Wille? Dass meine kleine Schwester zu Asche verbrannt ist? Dass meine Mamá wie ein Stück Vieh abgeschlachtet wurde? Wie kann das sein? Wie kann er das hier wollen?‹
›Meine Mamá starb, als ich ein Junge war‹, sagte er leise. ›Sie war alle Sterne meines Himmels. Ich weiß, wie ich mich fragte: Wenn ich sie mehr liebte als das Leben, wie konnte es dann sein, dass ich weiterlebte, als sie nicht mehr da war? Aber so ist es, Kleiner Löwe. Wir leben weiter. Die schwersten Lasten tragen wir nicht auf unseren Schultern, sondern in unseren Herzen. Aber jene, die uns genommen werden, sterben niemals endgültig. Sie warten auf uns im Licht von Gottes Liebe.‹
Er beugte sich zu mir und suchte meinen Blick.
›Das ist wahre Unsterblichkeit. Nicht die dunkle Nachahmung, die unser Feind für sich beansprucht. Die Ewigkeit liegt in den Herzen jener, die unser Andenken bewahren. Liebe und ehre sie, Gabriel. Und sei dir sicher, dass sie vor dem Thron des Allmächtigen auf deine Ankunft warten. Aber noch ist es nicht so weit.‹ Er schüttelte den Kopf. ›Noch nicht.‹
Ich sah meinen alten Meister an, und durch den Tränenschleier erkannte ich die Wahrheit seiner Worte. Es gibt eine Zeit der Trauer, eine Zeit der Lieder und eine Zeit für die Erinnerung, in der wir voller Zärtlichkeit an alles denken, was vergangen ist. Aber es gibt auch eine Zeit für das Töten. Eine Zeit für Blut, eine Zeit für Zorn und eine Zeit, um die Augen zu schließen und das zu werden, was der Himmel für uns vorgesehen hat.
›Ich werde sie lieben und ehren.‹ Ich leckte die Asche von meinen Lippen. ›Und ich werde sie rächen.‹
Jetzt hörte ich silberbeschlagene Stiefel über Schnee und Verbranntes knirschen. Als ich den Kopf hob, standen Aaron und Baptiste vor mir, Seite an Seite. Ihre Gesichter zeigten Trauer und Entsetzen, aber sie standen hoch aufgerichtet da. Zusammen. Brüder, an deren Seite ich mein Leben riskiert hatte. Brüder, die ich liebte.
›Werdet ihr mit uns nach San Michon zurückkehren?‹, fragte ich.
Baptiste sah Grauhand an. ›Würden wir dort willkommen sein?‹
Unser alter Meister seufzte. ›Die Testamente sind eindeutig, Sa-Ismael. Das Wort Gottes ist unser Gesetz. Ihr müsst euch für eure Sünde verantworten.‹
›Ich habe Gott auf jenem Berghang gespürt, Grauhand‹, sagte Aaron. ›Ich war in sein heiliges Licht gehüllt. Gott stand uns bei, Baptiste und mir, als wir uns einer Dunkelheit erwehrten, die danach strebt, alle Menschen zu verzehren. Alle Menschen. Und wenn Euer Gott meine Liebe eine Sünde nennt, dann ist er nicht der Gott, den ich kenne.‹
›Wohin werdet ihr gehen?‹, fragte ich.
›Vielleicht nach Süden?‹ Baptiste zuckte die Achseln. ›Du könntest mit uns kommen, Kleiner Löwe.‹
›Nein.‹ Ich lächelte, obwohl mir das Herz so weh tat. ›Ich habe Ungeheuer zu erschlagen.‹
›Du hast das Herz eines Löwen, mon ami .‹ Der Schmied nahm meine Hand und zog mich in eine heftige tränenfeuchte Umarmung. ›Gib acht, dass die Ungeheuer es dir nicht nehmen.‹
›Herzen schmerzen nur. Sie brechen nie.‹
Ich klopfte Baptiste auf den Rücken und ließ ihn los. Und dann wandte ich mich zu Aaron. Zu diesem steifen, aufgeblasenen Adligen, den ich so verabscheut hatte, neben dem ich gekämpft und geblutet hatte und von dem ich mir nie hatte vorstellen können, dass ich ihn je als Freund, als famille betrachten würde.
›Adieu , Bruder.‹
Aaron nahm mich am Arm und zog mich beiseite, und obwohl Grauhand uns einen Seitenblick zuwarf, kam er uns nicht nach. Als wir außer Hörweite bei den Pferden waren, ließ Aaron mich los und sah mich an. ›Ich bete zu Gott und der Muttermaid, sie mögen dich behüten, de León. Aber vor allem bete ich dafür, dass du dich selbst behütest. Und hüte dich vor allem vor Seraph Talon.‹
›Vor Talon? Weshalb?‹
›In jener Nacht, als die Herrscherin in San Michon ankam, als er Baptiste und mich erwischt hat … Ich hätte schwören können, dass ich bei dem Fest das Gefühl hatte, jemand würde sich in meinem Kopf zu schaffen machen. Eine ganz federleichte Berührung, aber dennoch … Ich fürchte, Talon hat uns nicht so zufällig überrascht, wie er behauptete. Ich denke, er wollte mich loswerden.‹
›Aber aus welchem Grund?‹
›Ich weiß es nicht. Aber man kann ihm nicht vertrauen, Gabriel. Pass auf dich auf.‹
Ich schluckte. Nickte dann einmal.
Aaron umarmte mich, und ich erwiderte seine Geste. Der Gedanke daran, einen weiteren Menschen zu verlieren, versetzte mir einen Stich. ›Ich sage auf Wiedersehen, Bruder‹, erklärte er. ›Aber nicht Lebewohl. Wir werden uns wiedersehen.‹
Als sie davonritten, hinaus in die Dunkelheit und Kälte, Seite an Seite, sah ich ihnen nach. Und ich fragte mich, ob es stimmte und sich unsere Wege wirklich noch einmal kreuzen würden. Ich grübelte darüber nach, ob aus einer Sünde etwas Gutes erwachsen konnte, und falls ja, was dann überhaupt Sünde war. Wenn Gott uns liebte, wie konnte er es dann hassen, wenn wir jemanden fanden, den wir liebten? Wie konnte er zulassen, dass so viel Leid ungesühnt blieb? Wie hatte es ihm weise erscheinen können, eine Welt zu erschaffen, in der es solche Schrecken gab?
Ich fragte mich all das, aber ich hörte keine Antworten.
Zum Zuhören war ich noch nicht bereit.«