· XIX · Auf diesem Feuer

»I ch schlug die Augen auf, schwebte kurz zwischen Traum und Wachen.

Noch bevor ich sie sah, spürte ich ihre Anwesenheit – da waren der Duft ihres Haars und ein ganz leichter Hauch von Blut, verwoben mit den sanften Gerüchen getrockneter Kräuter, die von der Krankenstation hereinzogen. Als ich den Kopf wandte, saß sie neben meiner Pritsche, ruhig und still in der Dunkelheit. Zum wohl tausendsten Mal fragte ich mich, wie es sein würde, wenn sie nicht mehr hier war, im Kloster und bei mir.

›Astrid‹, flüsterte ich.

Sie hielt ihren unergründlichen Blick auf mich gerichtet und zeigte die Maske, die sie sich in den Goldenen Hallen als Tochter einer Mätresse zugelegt hatte. Aber ihre Augen leuchteten so tief und dunkel wie die Nacht über uns. Und ich staunte über die geheimnisvollen Wege, die mich aus meiner weit entfernten Heimat hierhergeführt hatten, um ein solches Mädchen zu treffen. Ein Mädchen, von dem ich mich nun verabschieden musste.

›Ich sollte dir den Pisspott über dem Kopf ausleeren‹, sagte sie.

›… Was?‹

›Von allen kackhirnigen, schweinsköpfigen, als Kind auf den Kopf gefallenen, verdammten …‹ Hastig stand sie auf, brach ihre Tirade ab und biss sich auf die Lippe. Im Krankenflügel herrschte Grabesstille, und laute Stimmen würden sicherlich neugierige Zuhörer anlocken. Aber ich sah die Wut in Astrids Augen, als sie mich weiter anstarrte und dabei die Fäuste ballte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

›Man hat mir gesagt, was du getan hast. Was du zu dieser Höllenschlampe Isabella gesagt hast.‹

›Ich dachte, du würdest froh sein. Dank meiner Worte ist dein Exil vorbei.‹

›Niemand hat dich darum gebeten, Gabriel!‹

›Aber du musstest mich doch nicht darum bitten! Ich weiß doch, was du über San Michon denkst, Astrid. Keine Hölle ist so grausam wie die der Machtlosigkeit, weißt du noch? Du hast gesagt, du würdest einem Engel die Flügel ausreißen, wenn du damit diesem Käfig entfliehen könntest. Nun, jetzt kannst du gehen, wann immer du willst.‹

Sie hatte die Lippen schmal zusammengepresst, und ihre Augen funkelten vor Zorn. ›Und wenn ich gar nicht gehen will?‹

›Aber du hasst das Kloster doch.‹

›Wenn mein Weg vom Hass bestimmt würde, dann wäre ich schon längst hier verschwunden. Aber das wird er nicht!‹

›Wovon redest du?‹

Sie sah mir in die Augen und seufzte. ›Weißt du das wirklich nicht?‹

Ich erkannte das Flehen in ihrem Blick, und die Flügel von hundert brennenden Schmetterlingen entzündeten ein Feuer in meinem Bauch. Ich wusste, wovon sie sprach. Natürlich wusste ich das. Noch immer konnte ich die Glückseligkeit in mir spüren, die ich gefühlt hatte, als ihr Mund auf meinem lag, diese einsame, leere Qual, mit der man sich nach etwas verzehrte, das man niemals haben würde. Aber ich konnte sie nun einmal nicht haben. Weil es unrecht war.

Alles an dieser Sache war unrecht .

›Astrid … du hast hier keine Zukunft. … Das hier … hat keine Zukunft.‹

›Du meinst uns .‹

›Ich meine, dass ich vor der Muttermaid und den Märtyrern und Gott höchstselbst den Eid geschworen habe, keine Frau zu lieben. Und wenn du hierbliebest, dann würdest du außerdem bald mit ihm vermählt.‹

›Dann liebst du mich also doch …‹

Ich wandte mich ab, damit sie nicht die Antwort in meinen Augen las. Aber sie setzte sich neben mich aufs Bett, drückte mir die Hand gegen die Wange und zwang mich, sie anzusehen. Sie zu sehen . Sie war der Schatten meiner Gedanken, wenn ich einzuschlafen versuchte. Das Feuer in meinen Träumen, das mich beschwor, nie wieder aufzuwachen.

›Sag mir, dass du mich nicht willst …‹, flüsterte sie.

›Astrid …‹

›Sag es mir, und ich werde das Kloster verlassen und nie wieder an dich denken.‹ Eine Träne rann über ihre Wange und blieb zitternd am sanften Schwung ihrer Lippe hängen. ›Aber falls du mich willst, Gabriel de León, dann sag es. Denn nur ein Feigling würde sich etwas sehnlichst wünschen und es gleichzeitig wegschicken. Und ich will mein Herz keinem Feigling schenken. Sondern einem Löwen .‹

Bei Gott und den Märtyrern, sie war schön. Ihr Gesicht so geschwungen wie die Rundung eines brechenden Herzens, wie ein ungeteiltes Geheimnis. Ihre Augen waren dunkler als alle Wege, die ich je beschritten hatte, dunkler als all die monströsen Wesen, die ich gesehen hatte, und ich wusste, dass ich in ihnen das Paradies finden würde, wenn ich bereit war, die Hölle zu riskieren.

›Sag mir, dass du mich nicht willst.‹

›Das kann ich nicht‹, flüsterte ich. ›Gott helfe mir, das kann ich nicht.‹

›Dann nimm mich, Gabriel.‹ Sie hob das Kinn, entschlossen und zornig. ›Nimm mich, und Gott und Muttermaid und Märtyrer seien verflucht.‹

Und plötzlich war nichts mehr da: Keine Zurückhaltung, kein Gesetz, kein Schwur hätte mir als sicherer Anker in dem Sturm dienen können, den sie in mir entfesselte. Ich küsste sie, hungrig und hart, und in diesem Kuss erfuhr ich Erlösung und Verdammnis. Das war ein Schwur, den ich wahrhaftig halten konnte.

Auf diesem Feuer würde ich verbrennen.

Und in der Dunkelheit des Krankenzimmers zogen wir einander aus, bis wir nackt nebeneinanderlagen. Sie knabberte an meiner Lippe und fuhr mir durchs Haar, und dann setzte sie sich rittlings auf mich und vertrieb mit ihren Küssen jeden Gedanken und jede Furcht. Wir ließen alle Hoffnung fahren, nur die Flammen zwischen uns zählten. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über ihren Körper, über alle Hügel und Täler bis zu dem Schatten zwischen ihren Beinen, zu der Weichheit, die durch meine Träume gegeistert war. Wir waren ganz still, wir beide, sprachen nur mit unseren Augen und Händen und dem verzweifelten gehauchten Atem. Die Angst vor der Entdeckung war ein zusätzlicher Kitzel, und die herrliche leichtsinnige Schuld, die wir auf uns luden, machte alles nur noch süßer.

Ihre Lippen waren wie Flamme und Frost auf meiner Haut, und sie küsste mich an Stellen, die sterbliche Mädchen nicht zu berühren wagten. Während ihre Lippen mich umschlossen, küsste ich sie auf dieselbe Weise, versank zwischen ihren Beinen, und ihr Geschmack machte mich fast verrückt. Wir bewegten uns ganz langsam im Dunkeln, erstickten unser Stöhnen in den verborgensten Winkeln des anderen, bis da nur noch das Unvermeidliche war, nur noch das Feuer, das uns beide erwartete. Sie krallte sich an mir fest, flehte: ›Fick mich, fick mich‹, und als ich in sie glitt, langsam und tief und hart, war da nichts anderes mehr auf der Welt, das noch eine Rolle gespielt hätte. Keine Göttlichkeit außer der Begierde in ihren Augen. Jede Ewigkeit in der Hölle hätte ich gern erduldet, wenn ich dafür noch einen himmlischen Augenblick in ihr hätte haben dürfen.

Wir bewegten uns in einem gemeinsamen Rhythmus. Sie saß oben, und ich fuhr mit den rasiermesserscharfen Zähnen über ihre satinglatte Haut, fühlte dabei, wie sie erschauerte, und sie flüsterte meinen Namen. Und als uns die Welle erfasste, als ich fühlte, dass es in mir sang, legte sie mir die Hände auf die Wangen, um genau in meine Augen sehen zu können. Verzweifelt. Gierig. Die Lippen rot geküsst wie Kirschen.

›Beiß mich‹, hauchte sie.

›… Was?‹

›Beiß mich, Gabriel.‹

Meine Zähne stießen scharf gegen meine Zunge, und ich konnte die Ader an ihrer milchweißen seidigen Kehle pochen sehen. Ich wollte sie, Gott helfe mir, ich wollte sie so sehr – sie war alles, was ich sah oder schmecken konnte. Aber in mir war noch genug Verstand, um dem Gedanken zu widerstehen. Mir stockte der Atem, als sie sich auf mir hin und her wiegte, tiefer, schneller, warm und so unglaublich weich, und mich tanzend zu meiner Klippe führte.

›Man wird es sehen‹, flüsterte ich. ›Die Spuren …‹

›Hier.‹ Sie fuhr sich mit der Hand über die Brust. ›Bitte.‹

Es gibt kein tieferes Bedürfnis als das, begehrt zu werden. Unter dem Himmel gibt es kein süßeres Wort als bitte . Und ich ergab mich dem ganz und gar. Fühlte, wie sie erschauerte, als ein dunkles Knurren aus meiner Kehle drang und mich die Gier überwältigte. Ich packte ihr Haar und lächelte, als ich sie an mich zog. Eine Gier am Rand des Wahnsinns. Ein Begehren am Rand der Gewalt. Und sie stöhnte und stieß immer heftiger gegen mich, tiefer, härter, meine Zunge glitt über ihre kieselharten Nippel, und ihre Nägel krallten sich in meinen Rücken, als das Monster, das ich war, seine Reißzähne in ihre Brust trieb, die weiße Haut durchbohrte und das Rot hervortreten ließ.

Sie ließ uns aufeinanderprallen, bäumte sich auf, öffnete den Mund zu einem stillen Schrei, als sie den Kuss spürte. Ihr ganzer Körper begann zu zittern, sie schlang die Beine fester um mich und verlor sich in unserem Feuer, und ihr Blut – Gott, dieses unmöglich brennende Leben – spritzte mir über die Zunge und bis in mein tiefstes Herz.

Und da erkannte ich die Farbe der Glückseligkeit. Sie war rot.

Ich trank ihr Blut, wie der Fluss den Regen aufnimmt. Ließ mich emporziehen ins blutige Licht einer lange schon verblassten Sonne und hatte mich so völlig verloren, dass ich kaum mitbekam, wie sie sich wieder von mir löste, bevor sie mich mit der Hand meinem kleinen Tod entgegentrieb, bis ich über ihre Haut kam und noch einen Schluck von ihr trank, nur noch einen Tropfen. Keuchend riss sie sich von mir los, und verletzt und begierig stieß sie ihre Lippen auf meinen Mund, und wir teilten Eisen und Rost und Salz. Wir ließen uns in die Trümmer meines Bettes sinken, unsere Körper klebrig feucht, ihre Wange an meiner Brust und sie ganz und gar von meinen Armen umschlungen.

Eine Ewigkeit lagen wir schweigend da. Ich wusste auch nichts, was ich hätte sagen können. Dies war der Weg in die Hölle, und das wusste ich. Nun hatten wir beide ihn beschritten.

›Es ist Sünde‹, raunte ich schließlich. ›Man wird uns dafür bestrafen. Und nicht nur die Menschen, sondern auch Gott.‹

Astrid hob den Kopf und sah mir in die Augen.

›Aber das ist mir egal‹, hauchte ich.

Sie strich mir übers Gesicht, und ich erschauerte. ›Wir könnten das Kloster verlassen?‹

Ich schüttelte den Kopf und gab ihr die Antwort, die sie insgeheim schon kannte. ›Du hast gesagt, dass du dein Herz keinem Feigling schenken willst. Selbst wenn wir wollten, wir könnten nicht einfach gehen. Und ich glaube nicht, dass einer von uns das wirklich will.‹

›Dann wird das hier unser Schicksal sein? Liebe machen im Dunkeln? Wie Lügner?‹

Ich küsste sie auf die Stirn, die Augen fest geschlossen. ›Bis der Krieg gewonnen ist. Bis das Lied gesungen ist.‹

›Und dann?‹

›Dann wir. Für immer.‹

Sie küsste mich wieder und schmolz in meinen Armen. Ein Kuss aus Flamme und Tränen, aus süßester Sünde, ein Kuss, mit dem sich kein anderer je würde messen können. Und wenn das hier unrecht war, so dachte ich bei mir, dann würde es das Unrecht sein, für das ich sterben wollte. In diesem Augenblick, als ich dieses Mädchen in den Armen hielt, da schwor ich Gott, dass ich alles dafür geben würde – mein Blut, mein Leben, alles –, wenn er es nur so fügte, dass ich sie haben durfte.

Nur. Sie.«