G abriel schwieg und starrte auf das Silber, das sie in seine Haut gestochen hatte. Er hörte den Ruf eines liebeskranken Wolfs, ein einzelnes Heulen, das die lange und einsame Dunkelheit durchdrang.
Er hielt das leere Glas in den tauben Fingern und spürte, wie der Wein blutwarm durch seine Adern strömte. Wenn er es fest genug versuchte, müsste er nur die Hand ausstrecken, um sie jetzt berühren zu können. Dazu brauchte er nur das Fenster vor dem inneren Auge zu öffnen; dort würde sie sein, wartend, lächelnd, unberührt vom Zahn der Zeit. Langes schwarzes Haar und tiefgründige schwarze Augen und ein tonnenschwerer Schatten.
»Ihr dientet San Michon fünf weitere Jahre«, sagte Jean-François, der lange geschwungene Linien in sein verfluchtes Buch malte. »Fünf Jahre, in denen Euer Name zur Legende wurde. Ihr führtet den Angriff auf Báih Sìde und machtet den Schlachtfarmen der Dyvoks bei Triúrbaile ein Ende, da wart Ihr gerade erst neunzehn Jahre alt. Mit zwanzig befreitet Ihr Qadir und bracht die Belagerung von Tuuve. Ihr erschlugt Altvordere der Dyvoks in Ossway und der Chastains in Sūdhaem, und Ihr zerstörtet ein Nest Altvorderer vom Blut Ilon, das die Krone unmittelbar bedrohte. Der Schwarze Löwe , so wurdet Ihr genannt. Euer Name war ein Schlachtruf. Eine Hymne in den heiligen Hallen und ein Fluch bei den Blutshöfen.«
Der Vampir hörte kurz mit dem Zeichnen auf, um Gabriel anzusehen.
»Wie zerbrach das alles?«
»Geduld, Eisblut«, antwortete Gabriel.
Zorn trat in den Blick des Vampirs, flackernd und schwarz. »Nein, Silberwächter. Ich habe eine Geduld bewiesen, wie sie sonst nur die Engel der Ewigkeit besitzen. Ihr werdet dieses Kapitel jetzt beenden. Wie ging es zu Ende?«
Gabriel sah dem Ungeheuer in die Augen und hob seine tätowierten Hände ans Licht.
»Mit Geduld. Patience .«
Jean-François sah verwundert auf den Namen, der auf die Finger des Silberwächters tätowiert war.
»Eure Tochter.«
Gabriel griff nach der Flasche und kippte den Wein in seinen Kelch, tief und rot. Er setzte das Glas an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Draußen in der Dunkelheit sang wieder der Wolf, allein und liebeskrank. Ein Zeitalter verging, bevor der Silberwächter wieder genug Kraft gewonnen hatte, um Worte hervorbringen zu können.
»Wir hatten es nicht geplant, Astrid und ich. Wir hatten uns das nie vorgestellt. Sie schwor den Eid der Silbernen Schwesternschaft und wurde Meisterin des Aegis von San Michon. Ich hingegen war der Paradekämpfer des Ordo Argentum. Unser Leben verlief so, wie sie es prophezeit hatte; wir stahlen uns verborgene gemeinsame Augenblicke im Dunkeln, wenn die Pflicht es zuließ. Fickten wie die Diebe. Aber es war genug. Sie war genug.
Wir waren vorsichtig. So vorsichtig, dass ich mich fragte, ob es ein Zeichen Gottes sei, als sie mir mit der Hand auf dem Bauch sagte, was los war. Ganz kurz war ich so närrisch zu glauben, es würde keine Rolle spielen. Inzwischen hatte ich unzählbar viele Ruhmestaten vollbracht. Jemand sagte mir einmal, dass in dem letzten Jahr, das ich in San Michon diente, mehr Neugeborene auf den Namen Gabriel getauft worden waren als auf den Namen des Herrschers.«
Der Letzte der Silberwächter schüttelte den Kopf.
»Aber natürlich änderte es alles . Ich hatte inzwischen jede Menge Feinde. Außerhalb von San Michon, aber auch im Kloster selbst. Die Eitelkeit, vor der Grauhand mich gewarnt hatte, war meine große Schwäche. Ich war kein Lamm, ich war ein verdammter Löwe, und so ging ich auch durch die Welt. Aber ein Licht, das doppelt so hell strahlt, brennt auch nur halb so lange. Und die Mohnblume, die zu hoch hinauswächst, wird gestutzt. Eidbrecher nannte man mich. Gotteslästerer. Man kommt sicherlich mit vielen Dingen durch, wenn man einen richtig großen Namen hat, Eisblut. Aber nun hatte ich mich nicht zu einer hübschen geschminkten Kurtisane ins Bett gelegt. Sondern zu einer Nonne der Silbernen Schwesternschaft. Und egal, wie viele Hymnen für einen gesungen oder wie viele Kinder nach einem benannt werden, es wäre ein sehr versöhnlicher Priester, der dem Mann verziehe, der Gott zum Hahnrei gemacht hat.
Die Brüder verlangten, dass ich mich von Astrid trennte. Sogar Grauhand. Und ich sagte ihnen, wo sie sich ihre verdammten Forderungen hinstecken konnten. Daher wurden sie und ich schließlich exkommuniziert. Immerhin ließen sie mich das Aegis behalten – vermutlich weil sie Angst hatten, sonst ihre Hände zu verlieren. Aber obwohl ich so viele Jahre dem Kloster gedient hatte, obwohl ich so viele Leben gerettet hatte, wurde es niemandem in San Michon gestattet, sich von uns zu verabschieden. Weder Fink, Theo, die Philippes, Sév, Chloe – keiner war da. Wir stiegen auf Justus, Astrid schlang die Arme um meine Hüften, und allein und ohne Freunde ritten wir hinaus in die Dunkelheit.«
Gabriels Lächeln war wie die aufgehende Sonne.
»Aber wir blieben nicht lange allein. Und waren es nie wieder. Gott gewährte uns noch einen weiteren Segen. Einen winzigen wunderschönen Segen. Sie hatte das Lächeln ihrer Mamá, die Augen von Papá, und sie ließ nichts von dem Fluch erkennen, der durch seine Bleichblut-Adern floss.«
Gabriel schüttelte den Kopf, und immer noch schwang leises Staunen in seiner Stimme mit.
»Als ich sie das erste Mal in meinen Armen hielt, weinte ich mehr als sie. Wenn sie schlief, sah ich ihr zu. Stand einfach stundenlang an ihrer Wiege und fragte mich, wie zur Hölle jemand wie ich etwas so Schönes hatte erschaffen können. Und als sie größer wurde, da verstand ich, dass sie der Grund war, weshalb ich auf dieser Erde wandelte. Nicht, um Armeen anzuführen oder Städte zu verteidigen oder ein Großreich zu retten. Bei einem Blick in ihre Augen wusste ich es, so wie ich wusste, wie die Lippen meiner Frau schmeckten oder wie das Lied des Blutes klang. Es konnte etwas Gutes aus der Sünde entstehen, und sie war der Beweis dafür. Sie war perfekt. Großer Erlöser, sie war alles . Unsere Patience.«
Gabriel streckte seine Beine aus, schlug die Knöchel übereinander, und das Leder knarrte dabei leise. Dann legte er den Kopf zurück und trank den restlichen Wein, wobei ihm ein Tropfen übers Kinn rann. Wieder griff er nach dem Monét, aber die Flasche war leer, und er fluchte unterdrückt.
»Herzen schmerzen nur«, raunte der Vampir. »Sie brechen nie.«
Gabriel nickte. »So hatte Astrid es mir oft gesagt.«
»Ein hübscher Gedanke.«
»Eine verdammte Scheißlüge.«
»Wohin gingt Ihr mit den beiden?«
Gabriels Augen ruhten auf dem Kelch in seiner Hand. Die Reflexe der Laternenflamme spielten wie Glühwürmchen auf dem letzten Tropfen der Neige, dunkel wie Blut. Während er mit dem Daumen über den Bogen der tränenförmigen Narben fuhr, die sich über seine Wange zogen, beobachtete er die bleiche Motte, die noch immer erfolglos mit den Flügeln gegen das Schutzglas der Laterne flatterte, ohne Rücksicht auf sich selbst und ohne Hoffnung.
»De León?«
»Die eigene Stimme klingt niemals so schwach wie in dem Augenblick, da man nach Gott schreit«, flüsterte er.
»… Was?«
Gabriel blinzelte, sein Blick wurde wieder scharf. Er sah den Geschichtsschreiber an und schüttelte langsam den Kopf. »Ich will nicht mehr von ihnen reden.«
»Müssen wir das schon wieder diskutieren? Meine Herrscherin verlangt ihre Geschichte.«
»Und sie soll sie ja bekommen.« Gabriel verstärkte seinen Griff um das leere Glas, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Aber mir ist jetzt nicht danach, von ma famille zu sprechen.«
»Ihr seid hier ein Gefangener. Ganz und gar in unserer Macht. Ihr seid in jeder Hinsicht mein Sklave, Chevalier. Daher verzeiht bitte«, sagte der Vampir und beugte sich vor, »aber habt Ihr auf irgendeine Weise den Eindruck vermittelt bekommen, dass es eine Rolle spielt, wonach Euch ist?«
Das Weinglas zerbrach. Hunderte von schimmernden Scherben fielen aus Gabriels Faust auf den Steinboden. Der Silberwächter verzog das Gesicht und öffnete die Hand, um das herabrinnende Blut zu betrachten, dunkel und süß und dick.
Jean-François hatte sich erhoben. Ohne dass man eine Bewegung hätte wahrnehmen können, stand der Geschichtsschreiber plötzlich auf der anderen Seite des Raums und hatte eine drohende Haltung angenommen. Ein schwarzer Hunger stand in seinen Augen, als er zusah, wie die rote Flüssigkeit, tropf, tropf, tropf , auf den Boden rann.
»Seid Ihr verrückt ?«
Gabriel lächelte und streckte die verletzte Hand aus. »Angst vor ein bisschen Blut, Vampir?«
Jean-François zischte und bleckte die perlweißen Eckzähne. »Wenn ich etwas fürchte, de León, dann das, was ich Euch antäte, wenn ich meinem Hunger freien Lauf lassen würde.«
»Und was denkt Ihr, könntet Ihr mir antun, Eisblut?« Gabriels Augen verengten sich. »Bevor Eure Herrscherin ihre ganze Geschichte hat?«
Der Letzte der Silberwächter erhob sich von seinem Stuhl und trat vor, die blutende Hand ausgestreckt. Jean-François trat wieder einen Schritt zurück.
»Offenbar sind wir alle Sklaven irgendeines Herrn.«
»Meline!«, rief Jean-François laut.
Es dauerte keinen Herzschlag, und die Tür flog auf. Die Hörige in ihrem langen, schwarzen Kleid stand auf der Schwelle, die Augen weit aufgerissen, und fasste mit einer Hand unter ihre Korsage. »Meister?«
Der Vampir blinzelte, und der dunkle Schatten, der sich kurz über seine Augen gelegt hatte, verflüchtigte sich wieder. Er glättete seinen Gehrock und zupfte an seinen Rüschenmanschetten.
»Unser Gast hat sich geschnitten.«
Die Frau ließ die Waffe los, die unter ihrer Kleidung steckte. Höchstwahrscheinlich ein Dolch, obwohl das für Gabriel nicht genau zu erkennen war. Sie sank in einen Knicks, ging zum Silberwächter hinüber und nahm seine Hand. Zwar war sie sanft, aber Gabriel fühlte trotzdem die schreckliche Kraft in ihrem Griff – eine Macht, die sie durch die nächtliche Nascherei am Handgelenk ihres Meisters erlangt hatte. Dabei sah der Silberwächter noch immer seinem Gefängniswärter in die Augen, und seine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, als er sah, dass der Vampir zwar seine Fassung wiedererlangt hatte, aber offenbar dennoch nicht näher kommen wollte.
»Es ist tief, Meister«, berichtete Meline. »Im Lauf der Zeit wird es heilen, aber ich sollte besser …«
»Dann mach schnell.«
Die Hörige knickste wieder und eilte aus dem Zimmer.
»Und bring noch eine scheißverdammte Flasche mit!«, schrie Gabriel ihr nach.
Die Frau floh in einer Wolke aus raschelndem Damast die Treppe hinab. Gabriel lauschte ihren Schritten. Vierzig Stufen. Siebzig. Seine Sinne waren noch immer rasiermesserscharf. Dann hörte er einen eisernen Schlüssel. Ein schweres Schloss. Eine zuschlagende Tür.
Nun richtete er seine blassgrauen Augen wieder auf den Geschichtsschreiber. Jean-François lauerte noch immer auf der anderen Seite der Zelle. Das Buch mit seinen Aufzeichnungen war auf den Boden gerutscht und hatte sich auf einer Zeichnung aufgeschlagen, die Dior bei ihrer ersten Begegnung im Perfekten Gemahl zeigte, als sie noch ihren albernen Gehrock trug. Der Silberwächter hob es auf und bewunderte aufs Neue die Kunstfertigkeit des Vampirs.
»Es sieht ihr wirklich sehr ähnlich.« Er lächelte mit schwerem Herzen. »Das kleine Miststück würde sich geschmeichelt fühlen.«
»Legt das hin. Ihr schmiert sonst noch Blut darauf.«
Gabriel ließ das Buch auf den Sessel des Vampirs fallen. »Was Gott verhüten möge.«
Der Geschichtsschreiber strich sich eine lange blonde Strähne aus den Augen und flüsterte leise und drohend: »Ich werde dafür sorgen, dass man Euch dafür bestraft, de León. Ich werde Euch in die Knie zwingen.«
»Ich bin sicher, dass Ihr mich schon schmecken könnt. Aber Ihr wisst, dass das alles hier reine Zeitverschwendung ist, nicht wahr?«
»Zeit hat meine Herrscherin im Überfluss.«
Gabriel schüttelte den Kopf und schmierte sich etwas Rot übers Kinn, als er sich über die Bartstoppeln strich. »Wenn das so wäre, dann wäre ich schon tot, Vampir. Eure Herrscherin braucht das Geheimnis des Grals. Aber Ihr habt es selbst gesagt. Der Kelch wurde zerschlagen. Der Gral ist weg . Das hier ist Eure Welt, Blutsauger. Euer Hier und Heute und Auf ewig. Und wenn die Ungeheuer, die Ihr geschaffen habt, jeden Tropfen aus dieser Welt herausgesaugt haben werden, dann trägt niemand außer Euch die Schuld daran.«
Gabriel warf einen Blick über seine Schulter.
»Das war schnell.«
Die Hörige stand schon wieder auf der Schwelle. »Meister?«
Gabriel sah seinen Wärter an. »Ich will nicht mehr von ma famille reden, Vampir. Also könnt Ihr jetzt dasitzen und mir dabei zusehen, wie ich mich ganz gemütlich besaufe, oder Ihr könnt aufhören, unsere Zeit zu verschwenden, und mich zu der Geschichte zurückkehren lassen, wegen der ich eigentlich hier bin.«
Ein Augenblick verging, lang und schweigend, bevor der Vampir wieder sprach.
»Wie Ihr meint, Chevalier.«
Der Silberwächter kehrte zu seinem Sessel zurück, immer noch blutend, das Gesicht leicht vor Schmerz verzerrt. Nachdem er Platz genommen hatte, kniete sich die Hörige neben ihn. Er sah eine Schüssel mit dampfendem Wasser, Verbände, roch den antiseptischen Duft von Zaubernuss und Narrenhonig. Und neben der Schale …
»Merci , Mademoiselle Meline«, sagte er und griff nach der vollen Flasche Monét. »Wenn man mich in die Hölle führt, werde ich ein gutes Wort für Euch einlegen.«
Jean-François kehrte langsam zu seinem Platz zurück und hielt die Augen auf die blutende Hand des Silberwächters gerichtet, während er sein Buch nahm. Der Vampir zupfte sich den schönen Gehrock zurecht und ließ sich drei Atemzüge lang Zeit, seine Fassung zurückzugewinnen, dann sagte er: »Also. Euer Schachzug in San Guillaume war in einem Massaker geendet, Silberwächter. Schwester Chloe, Père Rafa, Saoirse, Bellamy, Phoebe – die gesamte Gralsgemeinschaft war tot. Abgeschlachtet von der Bestie von Vellene. Die Einzigen, die Dantons Zorn entkamen, wart Ihr und Dior.«
Jean-François’ Lippen kräuselten sich zu einem ganz leisen Lächeln.
»Und er hatte sich gerade als eine Sie entpuppt.«
Gabriel machte ein verkniffenes Gesicht, als Meline einen langen Glassplitter aus seiner Handfläche zog. Er starrte auf den eintätowierten Siebenstern, und die silberne Tinte glänzte im goldenen Licht der Laterne.
»Ich könnte wohl nicht noch etwas zu rauchen bekommen?«
Der Geschichtsschreiber hob seine Feder und warf ihm nur einen finsteren Blick zu.
Gabriel zuckte die Achseln. »Man kann’s ja mal versuchen.«
Er hob den Monét an die Lippen und nahm einen tiefen, langsamen Schluck direkt aus der Flasche.
»Also. Das Ende. Der Anfang. Der Gral.«