· XVI · Herr über Aas

»D ie große Halle leerte sich bereits, als Aaron und ich aus der Kapelle gelaufen kamen. Die Festteilnehmer, die Spielleute, Jung und Alt – alle beeilten sich, durch die von Fackeln erhellte Dämmernis zu den Toren des Châteaus zu gelangen. In der Menge sah ich Baptiste, und Aaron und ich drängten uns zu ihm hindurch. Männer und Frauen bewaffneten sich, die Glocke an den Außenmauern schlug immer noch, und eine große Zahl von Menschen zog die gewundene Straße zum Fuß des Berges hinunter. Ich sah mich um, ob Dior dabei war, rief sogar ihren Namen, konnte sie aber nirgendwo entdecken.

Nachdem wir den äußeren Wall von Aveléne erreicht hatten, stieg ich mit Aaron auf die Brustwehr. Nun, da er und Baptiste vor Ort waren, verstummte das Glockenläuten. Die Wächter grüßten die beiden mit einem Nicken und einem kurzen ›Capitaine‹. Ich erkannte, dass sie Aaron eine leidenschaftliche, aufrichtige Treue entgegenbrachten und dass sie ihn ins Herz geschlossen hatten, ganz gleich, wem er seine Liebe geschenkt hatte. Aber ich spürte auch einen Hauch von Angst. Und als ich durch den tristen Schneefall spähte, so weit der Fackelschein von Avelénes Mauern reichte, konnte ich es ihnen nicht übel nehmen.

Auf der Straße stand die Bestie von Vellene. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und sein Duellmantel flatterte; der Wind schien noch lauter zu stöhnen, wenn er ihn berührte. Seine Augen waren dunkler als die Nacht, die uns umgab, seine Haut so bleich, dass sie perlmuttartig schimmerte. Und wer ihn ansah, ganz gleich ob Bettler, Dichter oder Edelmann, erkannte ihn als das, was er war: ein Herr über Aas, ewig alt, gekrönt von Drohung und Gewalt. Sein Anblick erfüllte selbst das tapferste Herz mit Verzweiflung.

Danton trat vor, und sein flintsteinschwarzer Blick glitt über die Mauern. Männer duckten sich, wenn er sie ansah, Frauen zitterten, und es war eine Kühle an ihm, die allen wie ein Messer in den Verstand fuhr. Dann fielen seine Augen auf mich, und ein Lächeln, kalt und bleich und scharf, kräuselte seine roten Lippen.

›Wo befindet sich wohl der Herr über dieses … Dreckloch?‹, fragte er. ›Ich habe mit ihm zu reden.‹

Aaron trat vor, sein goldenes Haar wehte im Wind. ›Das bin ich.‹

Dantons Blick fiel auf meinen Freund, und ich sah, wie Aaron die Zähne zusammenbiss und seine Fänge bleckte. Die Luft zwischen ihnen knisterte, und sie maßen sich mit ihrem Willen, der Altvordere und das Bleichblut. Und schließlich sah ich, dass Danton das Lächeln verging.

›Wer bist du, Sterblicher?‹

Aaron zog seinen Handschuh aus und hielt die Handfläche mit dem Siebenstern empor, der jetzt in einem bleichen kräftigen Licht erstrahlte. ›Ein Sterblicher, ja‹, rief er zurück. ›Aber nicht der Sohn eines Sterblichen. Mein Name ist Aaron de Coste, Sohn des Hauses Coste und des Blutes Ilon, und meine Gedanken sind für Euch nicht zu ergründen. Euresgleichen habe ich schon erschlagen, als ich noch ein Junge war, und heute bin ich erwachsen. Jetzt sagt Euer Sprüchlein auf und hebt Euch von dannen, Vampir. Mein Essen wird kalt.‹

›De Coste?‹ Danton deutete eine Verbeugung an. ›Es freut mich, Euch kennenzulernen, Monsieur. Es kommt selten vor, dass man in diesen Nächten so weit westlich noch Leute von hoher Geburt antrifft. Bitte lasst mich Euch mein Beileid zum Fall Eures Hauses, Eurer famille und Eures gesamten Vermächtnisses aussprechen.‹

Das hier ist meine famille ‹, erklärte Aaron und deutete zu den Menschen, die auf den Zinnen standen. ›Und mein Zuhause. Ihr kommt mit leeren Händen und der Zunge eines Lügners an mein Tor. Was wollt Ihr, Voss?‹

›Dior Lachance.‹

›Dann, fürchte ich, seid Ihr den langen Weg umsonst gekommen.‹ Aaron legte eine Hand auf den Griff seines Schwertes. ›Wie alle anderen in diesen Mauern steht auch das Mädchen unter meinem Schutz.‹

›Mädchen?‹ Jetzt dämmerte Danton, wie es sich in Wirklichkeit verhielt, und ein Funkeln dunklen Entzückens flackerte in seinen Augen auf, als er zu mir herübersah. ›Oh, de León, verliert Ihr womöglich noch die …‹

›Sprecht nicht mit ihm!‹, donnerte Aaron. ›Ihr verhandelt mit mir. Wenn Ihr diese Bettelei denn verhandeln nennen wollt.‹

›Einen Bettler nennt Ihr mich?‹

›Bettler?‹ Aaron schüttelte den Kopf. ›Nein. Eine Laus, so nenne ich Euch. Wurm. Blutsauger. Ein Parasit, der fett und dumm genug geworden ist, um sich allein vor meinen Mauern aufzubauen und etwas von mir zu erbetteln. Ich war dabei, an jenem Tag bei den Zwillingen, als Eure Schwester starb, Voss. Ich habe das Lied ihrer Schreie gehört. Und ich habe jetzt gute Lust herauszufinden, ob ich Euch dazu bringen kann, genauso süß zu singen.‹

Aaron zog sein Schwert – es war dieselbe Silberstahlklinge, die er schon während seiner Lehrzeit in San Michon geführt hatte, mit dem Engel Mahné am Griff und geweihten Schriftzeichen auf der Klinge. Hinter ihm hob Baptiste seinen silberstählernen Streithammer, und um ihn herum zogen alle Männer und Frauen von Aveléne ihre Klingen, setzten ihre Pfeile in Brand und hoben die Radschlosspistolen.

›Made‹, knurrte Aaron. ›Verschwindet, bevor ich meine Hunde auf Euch hetze.‹

Danton lächelte düster und leer.

›Ruft Eure Hunde nur‹, sagte er. ›Sie können sich an Euren Leichen laben.‹

Die Dunkelheit hinter Danton kam in Bewegung, und ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte. Im Schnee hinter der Bestie nahmen sie Gestalt an, wie dunkle Schatten, die den seinen vertieften. Kalte Haut und noch kältere Herzen. Gesichter so weiß wie Knochen und so schön wie traumloser Schlaf, gehüllt in Gewänder der Nacht. Ihre Augen waren kühn und gnadenlos, und Angst umfing sie wie ein Mantel. Das Entsetzen, das von ihnen ausging, strömte nebelgleich über die Mauern. Ein hochgewachsener grobschlächtiger Kerl mit totem Blick. Eine schlanke Frau mit weizenblondem Haar und blutroten Augen. Ein Junge, der nicht älter als zehn gewesen war, als er starb. Beinahe ein Dutzend insgesamt, die Danton zweifelsohne aus dem ganzen Nordlund zusammengerufen hatte – Kinder, Enkelkinder, Vettern und Cousinen. Eisenherzen allesamt.

›Edelblüter‹, hauchte Baptiste.

Hinter ihnen rückte das Gesindel heran. Verfault und hohläugig. Eine Unzahl Elender, dem Willen der Edelblüter untertan. Mehr, als ich seit meinen Silbertagen je gesehen hatte. Es waren Soldaten unter ihnen, die noch die Farben des Herrschers trugen – im Krieg erschlagen, die Überreste von Kadern und Kohorten. Aber es waren auch einfache Leute darunter, Männer und Frauen, Kinder und Ältere, die von den hellen Ufern des Himmels ferngehalten und wieder in die Hölle dieser Erde gestürzt worden waren.

Hunderte und Aberhunderte.

›So eine Streitmacht …‹, flüsterte jemand.

Danton stand jetzt in den wirbelnden Schneeflocken und offenbarte seine ganze dunkle Majestät. Er schien an Größe zu gewinnen; war er zunächst ein einzelner Schatten am Rand des Fackelscheins gewesen, so wurde er jetzt zur Speerspitze einer Dunkelheit, die dieses Licht ganz und gar verschlingen wollte. Sein Blick glitt über die Mauern, langsam und durchdringend, und nahm die Männer und Frauen in Augenschein, die noch einen Augenblick zuvor hoch aufgerichtet und fest entschlossen hinter ihrem Capitaine gestanden hatten, als der wie ein Löwe gebrüllt hatte. Aber jetzt, unter diesem Blick – als der dunkle Verstand dahinter in ihre eigenen Köpfe drang –, da wankten sie angesichts des Schreckens, den er verbreitete.

›Ich sehe euch alle. Ich sehe in eure Herzen. Ich kenne eure Sünden.‹ Dantons Blick glitt wieder zu Aaron, schimmernd und hart. ›Aber vor allem kenne ich eure Stärke. Es gibt keine Vorbereitungen hinter diesen Mauern, die mir noch verborgen wären. Wenn Ihr Euch gegen mich stellt, Aaron de Coste, werdet Ihr fallen. So wie die Stadt Eurer Vorväter. Wie Eure einst so hochwohlgeborene Linie. Und um Rache für meine geliebte Schwester zu nehmen, werde ich Euch in gleichem Maße leiden lassen. Ich werde Eure Herde erschlagen. Sie alle. Ich werde ihre Kinder dabei zusehen lassen, wie ich sie an die Zähne hinter mir verfüttere. Ich werde ihre Söhne zu Kastraten machen, ich werde ihre Eltern wie Schweine ausweiden, ich werde Berge aus den Gebeinen ihrer Säuglinge auftürmen. Aber ihre Töchter …‹

Noch einmal blickte er zu den Mauern, zu den Leuten, die im Angesicht seiner Kälte erschauerten.

›Sie werde ich im Schnee und in der Dunkelheit laufen lassen. Eine nach der anderen. Und wenn ich sie finde, werdet Ihr all die Qualen zu verantworten haben, die sie erleiden werden. Ich werde eure Töchter bluten lassen, Aveléne. Ich werde ihnen ein Leid zufügen, von dem Gott und die Engel ihren Blick abwenden. Oder …‹

Der Schatten, der Danton umgab, schrumpfte, und sein Lächeln kehrte zurück, verschlagen und rot.

›Oder aber ihr könnt mir geben, was ich begehre. Ein kleines Mädchen erscheint doch kein so hoher Preis? Ein winziges Leben gegen das Leben aller Männer, Frauen und Kinder innerhalb dieser Mauern? Denn letztlich, was bedeutet euch Dior Lachance, Aveléne? Sie ist doch nur eine Schlinge um euren Hals, die sich zuzieht.‹

Auf den Zinnen entstand Unruhe, und ein Raunen hob an. Und als ich mich umdrehte, sah ich Dior unten auf dem Straßenpflaster. Alle Augen der Stadtbewohner waren auf sie gerichtet, wie sie zwischen ihnen stand, schlank und bleich und ganz allein. Aber sie blickte zu den Toren und lauschte auf die Stimme, die sich dahinter erhob.

›Ich fühle dich!‹, brüllte Danton in der Dunkelheit. ›Ich fühle dich in ihren Köpfen, Mädchen! Sollen sie für deinen Mut mit ihrem Leben bezahlen? Soll ihr Blut deine Hände beflecken wie das deiner Saoirse? Deines Bellamy? Deines Rafa? Ich hole dich mir ja doch, Mädchen! Ich bin ein Fürst des Ewigen, und ewig werde ich dich jagen! Frage einmal deinen lieben Gabriel, was das am Ende bedeutet!‹

Jetzt zog ich Flammenzunge aus der Scheide und brüllte in den Wind hinaus: ›Ihr werdet nicht von Mut herumblöken und im gleichen Atemzug Kinder bedrohen, Feigling ! Und wenn Ihr auch nur einen Fuß in diese Stadt setzt, dann werde ich Euch zeigen, wie kurz die Ewigkeit sein kann!‹

Danton blickte über die Mauern und schüttelte bedauernd den Kopf.  

›Oh, de León. Ich werde überhaupt keinen Fuß dort hineinsetzen müssen.‹

Er hob die Stimme und rief über den beißenden Wind: ›Eine Nacht gewähre ich euch, Aveléne! Doch morgen werde ich wiederkehren, und dann werde ich den ganzen Zorn der Hölle entfesseln! Wenn ihr mir mein Begehr verweigern wollt, dann werde ich euch abschlachten, dass das Blut in Strömen fließt! Und jene, die danach wieder aufstehen? Hunde werdet ihr sein! Die sich nur an den Überresten lang verfaulter Kadaver gütlich tun dürfen, niedriger als der niedrigste Wurm, für alle Ewigkeit!‹

Er sah mich an, und schwarze Augen gähnten wie tiefe Abgründe in seinem Schädel.

›Doch nun will ich euch zeigen, was jenen geschieht, die sich mir in den Weg stellen.‹

Einer der Edelblüter trat vor, der hochgewachsene grobschlächtige Nordlunder mit dem dichten dunklen Haar, und er trug eine Gestalt über der Schulter. Sie war in grob gesponnenes Tuch gehüllt, mit Ketten gefesselt, blutbeschmiert und verdreckt. Ich wusste, wer es war, noch bevor das Sackleinen von seinem Gesicht gerissen und sein Körper in den Schnee geworfen wurde, noch immer in Eisen geschlagen, die Zunge geschwärzt. Lange Fangzähne schimmerten, als er den verfaulten Mund öffnete und stöhnte.

›Rafa …‹, flüsterte ich.

Der alte Priester lag auf dem grauen Boden und plapperte sinnlos vor sich hin, bis Danton ihm den Stiefel auf den Hinterkopf setzte und ihn wieder in den Schnee drückte. ›Noch eine Nacht, dann kehre ich zurück, Aveléne. Denkt gut darüber nach, ob ihr danach noch weitere Nächte erleben wollt.‹

Damit zog er sich in die Schatten am flackernden Rand des Fackellichts zurück. Die Dunkelheit schien anzuschwellen, nach ihm zu greifen und ihn schließlich zu verschlucken. Die Edelblüter folgten ihm, die hungrigen Augen auf die Stadtmauern gerichtet. Ich hörte die unzähligen Elenden, wie sie sich mit ihren Herren zurückzogen und nur einen Einzigen zurückließen, der, in Ketten geschlagen, mit seelenlosen Augen zu den Menschen auf den Zinnen hinaufstarrte und, von unmenschlichem Hunger erfüllt, schrie.

›O Gott …‹

Als ich mich umwandte, stand Dior hinter mir und sah voller Entsetzen zu dem gefallenen Priester hinab.

›O Rafa …‹

Der alte Mann heulte und stemmte sich gegen die Ketten, die ihn fesselten. So wie er aussah, waren ein oder zwei Tage vergangen, bevor er sich gewandelt hatte, und sein Intellekt, sein Scharfsinn, sein Wille waren alle den Weg des Fleisches gegangen. Jetzt war nur noch der Hunger übrig. Der Hunger und der Hass, der in seinem Blick aufflammte, als er die Zinnen absuchte und schließlich Dior und mich entdeckte. Er brüllte noch einmal auf, zu schwach und zu verhungert, um seine Bande zu zerreißen. Aber ich wusste es, und sie wusste es auch – hätte es keine Ketten, keinen Stahl und keine Mauern zwischen uns gegeben, er hätte uns beide leer gesaugt bis auf den Tod.

›Wir können ihn da nicht so liegen lassen‹, flüsterte Dior.

Sie blickte zu dem Priester hinab, der sich auf dem Schnee wälzte und heulte. Tränen glitzerten auf ihren Wangen, als sie sich zu mir umsah, eine stille Bitte in den Augen. Und da ich es nicht länger ertrug, riss ich dem Wächter neben mir den Bogen aus der Hand, entzündete einen seiner Talgpfeile an der Kohlenpfanne und spannte die Sehne, bis sie meine Lippen berührte. Der arme Rafa sah mich an, und ich stellte mir vor, dass hinter dem Wahnsinn und der Blutgier, die in seinen Augen standen, das bisschen, was noch von ihm übrig sein mochte, nickte und mich anflehte: Tu es. Tu es!

›Es ist immer besser, ein Arschloch zu sein als ein Narr‹, flüsterte ich.

Der Pfeil fand sein Ziel. Die Flammen erfassten die blutbefleckte Kutte und das untote Fleisch darunter. Ich gab den Bogen an seinen Besitzer zurück, nahm Diors Hand und wollte sie nach unten bringen, damit sie es nicht mitansehen musste. Aber sie zwang sich, zu bleiben, zuzusehen, den Rauch einzuatmen und Zeuge zu werden, wie Rafa sein Ende fand. Und als es vorüber war, als nur noch die Asche übrig war, sah sie die Menschen um sich herum an. Alle Männer und Frauen auf der Brustwehr blickten nun zu ihr, wogen ihren Wert in Gedanken ab. Sie wussten nichts davon, was sie war, was sie bedeuten konnte , sie wussten nur, dass sie und ich diese Gefahr an ihre Tür geführt hatten.

Aaron fing meinen Blick, sah zum Berg hinüber.

›Ihr beide solltet vielleicht besser in der Burg auf uns warten, Bruder.‹

Ich nickte. ›Komm mit, Dior.‹

Sie sah mich an, als ich ihre Hand drückte, und die Tränen für den armen Rafa schimmerten in ihren Augen. Dann gingen wir gemeinsam durch die raunende Menge, zurück zu dem alten Château und dem bisschen Sicherheit, das es uns vielleicht noch bieten mochte. Hinter uns glommen die Überreste des Priesters auf dem Schnee, und der Rauch stieg langsam in den Himmel. Aber der Himmel schwieg. Wie immer.

Und über den Geruch nach verkohltem Fleisch und Asche nahm ich es plötzlich wahr.

Nur ein Flüstern im Wind, das mein Herz schneller klopfen ließ.

Den Geruch nach Tod.

Nach Tod und Silberglöckchen.«