· XVIII · Der schlimmste Tag

»E s war ein ganz normaler Tag. Ich hatte ihn damit verbracht, oben im Leuchtturm auf dem Speicher zu arbeiten. Der Mauerstein war warm unter meinen nackten Füßen. Der Schweiß kühl auf meiner Haut. Unter mir konnte ich unser Haus sehen und die Felsnadel, auf der es errichtet war und die zum Meer steil abfiel. Patience und Astrid fütterten gemeinsam die Hühner. Das Wasser war beinahe blau. Das ist das Schlimme daran: dass die schlimmsten Tage des Lebens so anfangen wie alle anderen.

Die Schlacht bei den Zwillingen lag fünfzehn Jahre zurück. Es fühlte sich an, als wäre es eine Ewigkeit her, dass ich in San Michon gedient hatte. Der Krieg kroch näher an uns heran, Jahr um Jahr, aber wir waren so weit nach Süden gezogen, wie wir konnten. Zehn Jahre lang hatte ich kein Sakrament mehr geraucht. Trotz allem, wovor man mich gewarnt hatte – dem inneren Durst, dem Fluch meines Vaters –, ließ sich das alles dadurch beherrschen, dass Astrid mir allnächtlich Glückseligkeit aus ihren Adern schenkte und dass sie mich einfach in ihren Armen hielt. Der Krieg des Ewigen Königs, die Dinge, die ich getan hatte, das, was ich gewesen war – es war beinahe weit genug weg, um es zu vergessen, und ich gebe zu, das tat ich nur allzu gern. Und das ist es, was mich nachts immer wieder hochschrecken lässt, wisst Ihr? Ich hätte wissen sollen, dass es eine Abrechnung geben würde.

Er hatte mir schließlich gesagt, dass er eine Ewigkeit Zeit hatte.

Wie er uns fand, weiß ich nicht. Oder wie lange er schon wusste, wo wir uns versteckten. Vielleicht hatte er es immer schon gewusst – und mich ein paar Jahre Glück erfahren lassen, bis ich mich irgendwann der irrigen Hoffnung hingab, er hätte es vergessen. Ich weiß nur, dass es Frühling war, als er erschien. Die Brise, die vom Meer herüberwehte, war sanft und kühl. Die Silberglöckchen schickten sich an, zwischen den Steinen zu blühen.

Bei uns gab es eine Regel: Wenn es dunkel wurde, mussten wir im Haus sein. Immer . Aber Patience liebte den Duft dieser Blumen, Astrid auch. Und während meine Frau in der Küche beschäftigt war und ich den Tisch zum Abendessen deckte, war Patience noch einmal hinausgeschlüpft, um Blumen für den Tischschmuck zu pflücken. Nur eine Minute. Ein solcher Augenblick genügt, damit die ganze vertraute Welt zusammenbricht, wisst Ihr? Eine Sekunde Ablenkung. Ein einziger Moment, der einen das ganze Leben lang verfolgen wird.

Die Wellen brachen sich an den Felsen, aber es war kein Möwengeschrei zu hören. Das war es, was mich zuerst aufhorchen ließ – eine eigenwillige Stille, eine winzige Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte und die einen winzigen Splitter Eis in meinem Bauch entstehen ließ. Astrid sang in der Küche, und das, was von der Sonne noch übrig war, drückte dunkelrote Lippen auf den Horizont. Langsam wurde ich still und begann zu lauschen. Und der Splitter Eis wurde zu einem Stein, der kalt in meiner Magengrube lag, als Astrid über das Meeresrauschen rief: ›Patience, komm essen!‹

Kein Laut, abgesehen von den rauschenden Wellen und dem wispernden Wind und dem Schweigen anstelle der Möwenschreie. Und dann fühlte ich es – die fürchterliche Ahnung, die ich in all meinen wachen Jahren hätte lebendig halten sollen. Der winzige Teil von mir, der es gewusst, der es immer gewusst hatte, trieb mich zum Kamin, und ich fasste nach der Klinge, die ich vor so vielen Jahren auf der dunklen Holzvertäfelung aufgehängt hatte, in der stillen Hoffnung, sie niemals mehr ziehen zu müssen.

Aber als meine Hand sich um Flammenzunges Griff schloss, da hörte ich es, leise über dem Wind. Eine Stimme, so weich wie die Blüten der Silberglöckchen, versetzt mit einer brüchigen Note Angst. ›Mamá?‹

Astrid wandte sich zur Tür. ›Patience?‹

›Mamá?‹

Dann ertönte ein Klopfen, so sanft wie ein Federstrich. Drei leise Schläge auf dem Holz – das hat sich so scharf wie Tageslicht in meine Erinnerung eingebrannt. Eins. Zwei. Drei. Und dann überkam mich eine Hitze, die ich seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. In der Asche dessen, was ich einmal gewesen war, flammte es auf wie ein Phönix. Ein Feuer, das lange geschlafen hatte. Ich sah die Tinte auf meinen Händen an, und aus dem eisigen Stein in meinem Bauch wurde ein Messer, als mein Aegis zu glühen begann. Und unsere Blicke trafen sich, die meiner Geliebten und die meinen, über dem steinernen Fußboden des Hauses, das wir uns gebaut hatten, und ich glaube, in diesem Augenblick wussten wir es beide.

Astrid rannte zur Tür, und ich schrie, sie solle stehen bleiben; dabei wusste ich doch in meinem Innern, sie würde es nicht tun. Und als sie die Tür aufriss vor der Nacht, die inzwischen heraufgezogen war, da spürte ich ihn wie Schnee auf meiner Haut, als wäre jeder Albtraum erwacht, wie die Zähne der Zeit und der Geschmack von Blut und die Wärme der wartenden Hölle. Er stand auf der Schwelle des Hauses, das wir uns gebaut hatten, und er forderte sie ein – eine Schuld, die lange schon fällig war. Ein liebevolles Lächeln lag auf seinen Lippen, und seine Augen glühten wie Kohlen unter den schweren Lidern, scharf wie das Schwert, das noch in seiner Scheide in meiner Hand lag.

›Papá?‹, flüsterte Patience.

›O Gott‹, hauchte Astrid. ›Nein …‹

Er stand am Rand der Nacht, den Arm um die Schultern meiner Tochter geschlungen. Die Blumen, die sie gepflückt hatte, hielt er in seiner bleichen Hand wie ein Verehrer, der seine Liebste aufsucht. Er war in langen weißen Satinbrokat gekleidet und stand bewegungslos da, ohne ein Blinzeln; seit ich ihn vor so vielen Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sich nicht im Geringsten verändert. Es war, als ob all die Augenblicke, all die Entfernung, die zwischen damals und jetzt lagen, nur ein Traum gewesen waren, aus dem ich am Ende doch erwacht war.

›Darf ich hereinkommen, Gabriel?‹

›Oh nein, NEIN !‹, schrie Astrid, und ich sprang auf sie zu, damit sie sich nicht gegen seine steinerne Gestalt warf. Und ich hielt sie fest, während sie um sich schlug und schrie, und das Wesen vor unserer Tür zog Patience an sich und fuhr unserer Tochter mit einer knochenweißen Klaue über die Rundung ihrer Wange.

›O Gott‹, hauchte ich.

Fabién Voss blickte zum Himmel, als ob er dort prüfend in alle Ecken und Winkel schaute. Dann richtete er seine Augen wieder auf mich, und er flüsterte die Frage, die ich mir seitdem unaufhörlich gestellt habe.

›Wo ist er denn?‹

›Bitte‹, flehte ich. ›Tut ihr nicht weh.‹

›Lasst mich herein‹ , versprach der Vampir, ›und ich schwöre, dass ich sie freigeben werde.‹

Die größten Lügen sind jene, mit denen wir uns selbst etwas vormachen. Das tödlichste Gift ist das, welches wir freiwillig schlucken. Und dennoch halten wir uns an solchen Täuschungen fest, wie sich ein Ertrinkender an Strohhalme klammert, weil die Alternative einfach zu schrecklich wäre. Wir glauben an das Leben nach dem Tod, weil das endgültige Ende ein zu dunkler Abgrund wäre, in den man sich nicht zu blicken traut. Wir reden uns ein, dass unser Gott um uns besorgt ist, weil der Gedanke an einen Schöpfer, der das nicht tut, zu entsetzlich wäre. Und daher redete ich mir ein, wie ich dastand und die zitternde Astrid in meinen Armen festhielt, dass Fabién Voss die Wahrheit sagte. Dass er nur mich haben wollte, dass meine famille schuldlos war und er sie gehen lassen würde. Denn alles andere hätte mich wie Glas zerbrechen lassen.

Also blickte ich in die Augen meiner Tochter, groß und ängstlich und starr auf mich gerichtet, auf ihren Papá, ihren Felsen, den Mann, der alles tun und alles geben wollte, damit ihr nichts geschah.

›Papá?‹

›Schsch‹, machte der Vampir. ›Sei ganz ruhig, mein Kind.‹

›Es wird alles gut, Schätzchen‹, versicherte Astrid ihr. ›Hör mir zu. Es wird alles g-gut.‹

Der Vampir sah mich unverwandt an, aber die Fenster zu seiner Seele gewährten nur den Blick in einen leeren Raum. Die Tinte auf meiner Haut leuchtete mit kaltem Schein, aber er kniff die Augen nur leicht gegen dieses Licht zusammen; die dunkle Kraft in ihm war stärker als meine. Mein Blick fiel auf Flammenzunge, und alle möglichen verzweifelten Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Aber Voss bewegte nur leicht die Hand auf Patience’ Schulter, und seine Fingerspitzen tasteten kaum merklich nach ihrem Hals.

›Darf ich hereinkommen, Gabriel?‹

Alles, was nun noch zwischen uns stand, waren ein paar kleine Wörter. So viel Macht lag darin. So viel Gefahr. Wie viele Herzen haben durch zwei so winzige Wörter wie ›ich will‹ ihre Vollendung gefunden? Wie viele weitere wurden in einem Atemzug durch ein ›Es ist vorbei‹ gebrochen?

Nur ein paar Wörter.

Du darfst nicht.

Keine Wahl.

Mein geliebtes Kind.

›Kommt herein‹, sagte ich.

Er lächelte. Schön und schrecklich. Und nachdem er sich höflich die Stiefel auf der von Astrid gewebten Fußmatte abgetreten hatte, trat der Ewige König über die Schwelle unseres Hauses. Hinter ihm im Dunkeln sah ich verschwommene Umrisse, andere Gestalten, ein halbes Dutzend; es waren Fürsten und Fürstinnen des Ewigen, triefend vor Schrecken und Blut. Ich kannte ihre Namen: Alba, Alene, Falke, Morgane, Ettiene, Danton. Aber sie verharrten am Rand der Nacht und sahen schweigend zu, wie ihr Schreckensvater langsam ins Haus ging. Ich kann Euch nicht sagen, was ich bei diesem Anblick empfand. Dieses Ungeheuer mit meinem Kind an seinem Arm. Vor Wut und Entsetzen brachte ich kaum ein Wort über die Lippen.

›Lasst sie los.‹

›Gleich‹ , erwiderte er.

›Wenn Ihr ihr weh tut‹, zischte Astrid mit gebleckten Zähnen. ›Gott steh mir bei …‹

Nun lächelte der Ewige König und deutete auf den Esstisch.

›Ich habe Euch bei Eurer Abendmahlzeit gestört. Bitte verzeiht. Darf ich mich setzen?‹

Ich nickte, die Hand noch immer auf Flammenzunges Griff. Fabién bewegte sich fließend und mit der übernatürlichen, über Jahrhunderte gewonnenen Eleganz. Es war nichts Unbedachtes an ihm, keine unnötige Bewegung, kein verschwendeter Atem. Er bewegte sich wie eine zum Leben erwachte Statue. Alles an ihm war vom Lauf der Zeit knochenweiß verblichen, abgesehen von seinen Augen, die schwarz waren wie die Löcher zwischen den Sternen. Er schlang eine Hand um die Taille meiner Tochter und zog sie auf seinen Schoß.

›Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, Euch zu mir zu gesellen, alter Freund?‹

Ich nahm ihm gegenüber Platz, angespannt wie eine Bogensehne. Die Augen starr auf ihn gerichtet. Entsetzen tobte in mir. Ein alles durchdringendes, allumfassendes Grauen.

Voss ließ den Blick durch den Raum schweifen, über das prasselnde Feuer, Töpfe und Pfannen, den Haken, an dem mein Mantel hing – die winzigen Bruchstücke unseres Lebens, die auf einen Schlag so unwichtig geworden waren. Er nahm die Silberglöckchen, die Patience gepflückt hatte, und ließ sie in die Vase gleiten.

›Ein hübsches kleines Versteck habt Ihr Euch hier gebaut, wie ich sehe. In einem angenehmen Klima, um faul den Herbst verstreichen zu lassen, bevor der grausame Winter kommt.‹ Er blickte zu Astrid, die neben mir stand und in deren Augen Furcht und Entsetzen standen. ›Wir haben eine weite Reise hinter uns. Meine Kehle ist ganz ausgedörrt. Dürfte ich Euch, Madame, um ein Glas Wein bemühen?‹

›Wir haben keinen im Haus‹, gab Astrid zurück.

›Aber da wäre doch der Beaumont, meine Liebe. Der in der Speisekammer versteckt ist?‹

Astrid erbleichte ein wenig, und nach einem verzweifelten Blick zu mir verschwand sie in der Küche. Voss sah mich an, ein verschwörerisches Lächeln auf den blutleeren Lippen.

›Sie hatte ihn als Überraschung für Euren Hochzeitstag gedacht. Rührend, nicht wahr?‹

Daran erkannte ich, dass er ihre Gedanken gelesen hatte. Ich fühlte ihn auch in meinem Kopf. Wie ein Dieb durchstöberte er unsere Geheimnisse, unsere Gedanken, und nichts war ihm heilig, nichts blieb ihm verborgen. Ich dachte an Mord, daran, wie das Schwert in meiner Hand sich in seine Kehle bohrte, wie ich zum Feuer sprang und dort eines der brennenden Scheite herausriss, ich spielte alle verzweifelten Möglichkeiten durch, wie ich sie retten könnte – meine Tochter, meine Geliebte –, und sie alle wurden aufgedeckt. Patience sah mich an, dann flüsterte sie wieder, ›Papá?‹, und eine Träne rollte über ihre Wange. Voss wandte sich nun an sie, die Stimme wie schwarze Seide.

›O nein, nein, beruhige dich, kleine Blume. Es schmerzt deinen Onkel Fabién, dich weinen zu sehen. Sag mir, meine Süße, mein Schätzchen, mein lieber Engel, wie alt bist du?‹

Sie sah mich an, und ich nickte, während der Schmerz meine Brust zerfleischte.

›Elf‹, flüsterte sie.

›O du herrliche Liebe. Was für ein Alter! Das Leuchten der Kindheit noch kirschrot auf deinen Wangen, und gleichzeitig naht am Horizont bereits das Versprechen erblühender Weiblichkeit. Du heißt Patience, nicht wahr?‹

›Oui …‹

Nun betrachtete er sie mit bekümmerter Miene und strich ihr das lange schwarze Haar zurück.

›Ich hatte einst eine Tochter. Oh ja, ich hatte eine Tochter, gerade genauso schön wie du. Und ich liebte sie, Patience. Ich liebte sie so innig, wie dein tapferer und edler Vater dich liebt.‹

Astrid stellte einen Kelch mit Wein auf den Tisch, so leuchtend rot wie Blut. Und Voss blickte nun von meiner Tochter zu meiner Geliebten.

›Oh, nicht für mich, liebe Madame.‹ Sein dankbares Lächeln verschwand, und für einen kurzen Augenblick wurde sein Gesicht zu einer Maske reiner Bosheit, während seine Augen zu Astrids Kehle wanderten. ›Für Euch.‹

›Voss …‹

›Sie ist eine Schönheit, Gabriel.‹ Noch einmal lächelte er, und er drückte Patience einen so eisigen Kuss auf die Wange, dass ihre Haut unter seinen Lippen erbleichte. ›Sie beide sind strahlend schön wie die Sonne. Seid Ihr stolz? Auf dieses Versteck, auf dieses Leben, das Ihr aufgebaut habt?‹

›Das bin ich.‹

›Ihr liebt sie wohl, hm? Wie Gott seine Engel liebt?‹

›Ja.‹

›Und was würdet Ihr dafür geben, um sie in Sicherheit zu wissen, Eure Engel, Eure Lieben?‹

›Alles.‹

›Euer Leben? Eure Freiheit?‹

›Alles! Alles auf der Welt! Bitte!‹ Ich schlug mit Flammenzunge auf den Tisch. BITTE !‹

›Vier. Jahrhunderte.‹

Ich sah ihn verständnislos an, und mein Bauch war kälter als Eis. ›Was?‹

›So lange kannte ich meine Laure. Meinen Engel. Meine geliebte Tochter. Meinen Roten Geist. Vier. Hundert. Jahre.‹ Er liebkoste Patience’ Wange und flüsterte leise: ›Ihr habt diese Blume nur elf Jahre lang in Eurer Obhut gehabt, und schon würdet Ihr Eure Seele für sie geben. Ihr würdet vor nichts zurückschrecken, Vater, um das kostbare Leben Eurer Tochter zu retten. Was also, glaubt Ihr, würde ich nicht alles tun, um den Tod meiner Tochter zu rächen?‹

Seine Klaue lag noch immer an Patience’ Kehle. Und jede verzweifelte Idee, jede noch so triste Überlegung, die mir einfallen wollte, endete in Schrecken. Er wollte mich dazu bringen, dass ich bettelte, das wusste ich, und ich tat es dennoch. Ich hoffte auf einen Aufschub, und ich betete, o verdammter, mächtiger Gott, ich betete mit jeder Faser meines Ichs, mit jedem Körnchen meiner elenden Seele, dass er sie verschonen würde.

Ich hätte alles dafür gegeben, dass er es tat.

›Voss. Bitte. Ich bin es doch, mit dem Ihr Streit habt.‹

›Streit?‹ Der Vampir blinzelte irritiert. ›Wie Kontoristen über eine Rechnung? Nein. Zwischen Euch und mir ist nichts so Armseliges wie ein Streit. Bezeichnet es als das, was es ist, Silberwächter. Als Vendetta.‹

Sein schwarzer Blick erfasste nun wieder Astrid.

›Ihr trinkt ja nicht, Madame.‹

Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Hand, die sie bebend hinter dem Rücken hielt.

›Wofür ist das Messer?‹

›Für Euch‹, schwor Astrid. ›Euch.‹

›Voss‹, flüsterte ich. ›Hört mich an. Verdammt, SEHT MICH AN …‹

›Kennt Ihr den Namen Eurer Sünde, Gabriel? Eure Seele ist von allen Sünden befleckt, aber wisst Ihr um Eure größte? Kommt schon, sprecht sie aus. Wenn Ihr Euer Leben für das ihre geben wollt, dann muss ich Euch zuerst die Beichte abnehmen. Ich werde Euer Priester sein und Ihr mein Sohn. Gabriel de León. Der Schwarze Löwe. Der Retter des Nordlunds. Befreier von Triúrbaile. Erlöser von Tuuve. Schwert des Reiches. Silberwächter. Welche Sünde, mein Bester, ist die Eure?‹

Ich biss die Zähne zusammen. Die Fänge ragten lang hervor. Und ich dachte über mein Leben nach, wog ab, welche Antwort mir Aufschub gewähren mochte, welche Beichte er von mir hören wollte. ›Stolz‹, flüsterte ich.

›Früher einmal vielleicht. Doch heute nicht mehr. Sprecht noch einmal, und sagt die Wahrheit.‹

Mir stockte der Atem, und ich sah Astrid an. Dachte an die Schwüre, die wir beide gebrochen hatten. Zwar hatte ich unsere Liebe nie als Sünde betrachtet, aber dennoch sagte ich jetzt, verzweifelt, wie ich war: ›Dann also Wollust …‹

›Sicherlich eine Eurer Sünden, aber nicht die schlimmste. Euer Gott hört zu, Gabriel. Eure Trompeten erschallen. Wollt Ihr mit befleckter Seele sterben?‹

Ich fasste den Griff meiner Klinge fester und zischte, während mir alles, was ich diesem Bastard und seiner ganzen verfluchten Brut antun wollte, wie eine Flamme durch den Kopf schoss. ›Zorn.‹

Voss schüttelte den Kopf, als sei er enttäuscht.

›Es ist Trägheit, Gabriel. Das war am Ende Eure Sünde, und es ist die schlimmste von allen. Nicht Stolz. Nicht Wollust. Einfach nur Trägheit.‹ Er machte eine vage Handbewegung, die unser ganzes Haus einschloss, und verzog angewidert den Mund. ›Sich hier zu verkriechen, in dieser Hütte am Ende der Welt, wie ein Köter in seinem verflohten Körbchen? Meine Pläne zunichtezumachen, mir in den Weg zu treten – ja sogar das Leben meiner Tochter zu nehmen –, all diese Verfehlungen hätte ich Euch vergeben, wärt Ihr auf Eurem Kurs geblieben. Über viele Jahrhunderte habe ich mich nach einem Gegner gesehnt, der meines Zornes würdig ist. Und für einen düsteren und herrlichen Moment, da ich meine Tochter schreien hörte, als Ihr sie tötetet, da sang mein hohles Herz so laut wie schon lange nicht mehr. Vielleicht, dachte ich, vielleicht habe ich ihn gefunden. Den Mann, der mir zumindest eine Sekunde der Angst verschaffen könnte, auf dass ich mein Leben wieder spürte. Ich hoffte es. Und wahrlich, ich betete sogar dafür.‹

Er schüttelte den Kopf.

›Und dann ist das hier aus Euch geworden? Dieses bedauernswerte gewöhnliche Leben? Nein. Nein, das kann ich nicht verzeihen, alter Freund. Dass Ihr Euch abwendet, ohne die Tat vollbracht zu haben? Dass Ihr von der Bühne abtretet, ohne Euer Lied gesungen zu haben? Ihr wart einst so beeindruckend, Gabriel. Und jetzt? Ihr seid ein Löwe, der so tut, als wäre er ein Lamm. Und das ist der Grund, weshalb sich Gott von Euch abgewandt hat und weshalb er mich auf Euch losließ.‹

›Voss, bitte …‹

›Bitte‹, flüsterte Astrid. ›Tut es nicht.‹

›So schön‹, flüsterte er und fuhr mit seiner Klaue über Patience’ Hals. ›Aber schon jetzt welkst du dahin, Patience. Die Süße der Frucht ist die Vorbotin des Verfalls. Du stirbst bereits seit dem Tag, da du geboren wurdest.‹

›Beim verdammten allmächtigen Gott, Voss, Ihr sagtet, Ihr würdet sie gehen lassen !‹

Er sah mich an. Die Augen schwarzes Glas, wie Spiegel, in denen ich mich selbst erkannte. Elend. Bettelnd. Und dann sprach er sie aus, die Worte, die meine Welt zum Einsturz brachten.

›Und im Gegensatz zu Euch halte ich, was ich geschworen habe.‹

Seine Hand bewegte sich. Nur ein kleines Zucken. Und er …«

Gabriel versagte die Stimme. Asche lag auf seiner Zunge.

Wenn er es aussprach, würde es real.

Wenn er es aussprach, würde er es noch einmal durchleben.

»Er …«

Jean-François saß da, die bleiche Hand an die Brust gepresst, und ein Hauch von Mitleid lag in seinen seelenlosen Augen. Die Zelle, in der sie saßen, war kalt wie eine Gruft, und das bleiche Licht des Morgens war dem Horizont nicht mehr fern. Aber die Dunkelheit in diesem steinernen Gelass war so tief, wie der Vampir sie je erfahren hatte, und so lang und leer und trist wie ein Leben ohne Liebe. Und er starrte diesen Mann an, diese gebrochene Gestalt, die sich nun auf dem Sessel vorbeugte, das Gesicht in den Händen barg und deren Schultern unter stummem Schluchzen erzitterten. Und eine einzige, blutige Träne rann aus den Augen des Vampirs, als er flüsterte: »Allmächtiger Gott …«

Der Letzte der Silberwächter atmete erschauernd ein.

Blickte zum Himmel hinauf.

»Wo ist er denn?«