»I ch verstummte und starrte noch immer aus dem leeren Fenster im Château Aveléne. Dorthin, wo sie nie gewesen war. Zu der Kapelle, in der man uns getraut hatte. Erinnerungen an den glücklichsten Tag in meinem Leben. Dior kniete noch immer neben mir. Drückte meine Hand so fest, dass ich glaubte, sie würde mir die Finger brechen. Und weinte so sehr, dass ich fürchtete, sie würde niemals aufhören.
›Es tut mir so leid, Gabriel. Gott, es tut mir so leid.‹
›Jetzt verstehst du‹, flüsterte ich, ›warum ich nicht zulassen will, dass er dich in die Hände bekommt. Wieso ich nicht noch einen Tropfen an diese Sache verlieren will. Wieso ich das bis zum Ende ausfechten muss. Weil ich sie vermisse, als ob in mir ein Stück fehlt. Und ich liebe sie so, als hätte es nie etwas anderes als Liebe gegeben. Und da ist nichts, das ich nicht täte, keine Erniedrigung, die ich nicht in Kauf nähme, kein Preis, den ich nicht zahlen wollte, um sie wieder hier bei mir zu haben. Weil sie mein Ein und Alles waren.
Aber sie sind nicht mehr da.
Sie sind weg und werden nie zurückkehren. Und dieses Arschloch hat sie mir genommen. Dafür wird er sterben, Dior. Er und seine ganze verfluchte Linie.‹
›Gott, Gabriel‹, flüsterte sie. ›Vergib mir, wenn ich …‹
Ich schüttelte den Kopf. ›Die Hauptsache ist, dass du begreifst. Hier bist du am sichersten, und deswegen bleibst du hier. Egal, was es kostet.‹ Ich sah ihr in die Augen, und meine Stimme war eisenhart. ›Hast du mich verstanden?‹
›Oui .‹ Sie schniefte laut und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. ›Habe ich.‹
Ich blickte zur kaputten Fensterscheibe und in die Nacht hinaus. Der Schorf war jetzt von der Wunde gerissen, und der Anblick des leeren Fensters klaffte wie ein Loch in meiner Brust. Aber der Zorn half ein wenig, die Blutung zu stillen, und der Gedanke an das, was uns bevorstand, tat sein Übriges – es reichte, damit ich meine Trauer für einen weiteren Atemzug beiseiteschieben konnte. Um zu tun, was getan werden musste.
›Ich muss Flamm suchen gehen. Und dann mit Aaron sprechen. Und ich muss mich darauf verlassen können, dass du in dein Zimmer gehst und dort bleibst. Baptiste soll seine besten Leute dazu abstellen, deine Tür zu bewachen, bis ich zurück bin. Mach vorher niemandem auf.‹
Sie nickte mit gesenktem Blick. ›Oui.‹
›Versprich mir das.‹
›Versprochen.‹
›Mir ist es ernst .‹
Sie sah mir ins Gesicht, und ihre Augen blitzten. ›Versprochen.‹
Nun nickte ich, schluckte den Geschmack von Salz und Blut hinunter. Schob die Trauer beiseite und konzentrierte mich auf das Feuer im Innern, als ich wieder aufstand und auch Dior mit mir emporzog. ›Es ist fast hell. Ich weiß, dass es schwer ist, aber versuch, noch etwas zu schlafen. Die morgige Nacht wird lang. Die längste deines Lebens. Aber ich bin fest entschlossen, alles dafür zu tun, dass du sie überleben wirst.‹
Ich wandte mich zum Gehen.
›Gabriel.‹
Beim Klang ihrer Stimme blieb ich stehen. Und da schlang sie ihre Arme um mich, legte mir die Wange an die Brust und drückte mich, so fest sie konnte. ›Du bist ein guter Mann, Gabriel de León. Merci . Für alles.‹
Erst versteifte ich mich in ihrer Umarmung, dann ließ ich mich hineinsinken und musste blinzeln, weil meine Augen schon wieder brannten. Ich hatte bereits ganze Ozeane geweint. Und Tränen konnten hier ebenso wenig ausrichten wie Gebete. Aber dennoch …
›Ich bin bald zurück‹, schwor ich ihr. ›Und anschließend werde ich nicht wieder von deiner Seite weichen, bevor ich dich nicht sicher nach San Michon gebracht habe. Schlaf jetzt, Mädchen. Hab keine Angst vor dem Dunkel.‹
Ich brachte sie in ihr Zimmer, zog die Tür fest hinter mir zu, und mit einem misstrauischen Blick durch die schattenumlagerten Säle trottete ich hinaus in die Nacht. Ich schmeckte die Angst in der Luft und hörte das leise Raunen hinter meinem Rücken, als ich durch den rieselnden Schnee ging. Flammenzunge fand ich in einer Schneewehe bei der Kapelle, und die silberne Lady schimmerte im dumpfen Licht der Monde. Ein paar von Aarons Soldaten eilten vorüber und warfen mir seltsame Blicke zu, als ich das Schwert aus dem Schnee fischte und die Klinge sauber rieb.
Ist alles g-gut?
›So gut wie möglich.‹
D-Dann erzähltest du es ihr, es ihr?
›Wie du schon sagtest, Flamm. So etwas wie ein glückliches Ende gibt es nicht.‹
Es tut mir leid, Gabriel. Auf immer und ewig. An diesem T-Tag habe ich so versagt wie nie.
Ich sah ihr ins Gesicht, betrachtete ihre geborstene Spitze, die Worte, die auf der Klinge eingraviert worden waren und von denen nur wir beide wussten, was sie besagten. Wir waren gemeinsam durch Ströme von Blut gewatet, sie und ich. Wir hatten unsere Namen auf den Seiten der Geschichtsbücher verewigt.
›Suche die Schuld nie bei der Klinge. Ich war es, der versagte. Aber ich bin willens, einen Teil der Rechnung in der morgigen Nacht zu begleichen, wenn du mir helfen magst. Ich muss ein wahrhaftiges Ungeheuer erschlagen.‹
Jederzeit. Jederzeit.
Ich schob sie in die Scheide an meinem Gürtel, und ihr Gewicht ruhte tröstlich an meiner Seite, als ich wieder zum Bergfried ging. Dort fand ich Aaron und Baptiste mit ihren Offizieren im großen Saal um eine Landkarte versammelt, die sie auf einer der Festtafeln ausgebreitet hatten. Ich sprach leise mit Baptiste, und der Schwarzdaumen nickte und entsandte sofort drei kräftig gebaute Schwertfechter mit Fäusten wie Schmiedehämmer, um vor Diors Tür zu wachen. Und dann machten wir uns daran, die Schlacht zu planen.
Einige Stimmen erhoben sich im Zorn, Flüche wurden laut, und mich trafen finstere Blicke – ich wusste, dass mindestens die Hälfte dieser Leute den Tag verfluchte, an dem ich Aveléne betreten hatte. Aber sie alle waren ihrem Capitaine leidenschaftlich ergeben, und sie hassten alle Eisblüter, und so konnte Aaron sie bei der Stange halten. Alle wussten um die Stärke des schaurigen Heeres, das in der kommenden Nacht gegen unsere Mauern stürmen würde. Alle wussten, dass ein Sieg, wenn überhaupt, nur mit größter Anstrengung errungen werden konnte. Aber Aaron und seine Männer hatten sich seit Jahren auf die Verteidigung der Stadt vorbereitet, und Baptiste hatte nichts von seinem Genie verloren. Als das schwache Morgenlicht durch die hohen Fenster drang, wusste ich, dass wir zumindest eine reelle Chance hatten. Vor allem aber sagte ich mir, wenn ich mit der vollen Dosis Sanctus in meinem Körper und im Vollbesitz meiner Kräfte einen kurzen Augenblick erhaschen und nur kurz die Gelegenheit bekommen konnte, meine Hände um den Hals der Bestie zu legen, dann würde ich der Rache, wegen der ich in den Norden gekommen war, einen Schritt näher gekommen sein – einen Schritt näher daran, die verfluchte Linie des Ewigen Königs endgültig auszulöschen.
Wir frühstückten gemeinsam, Aaron, Baptiste und ich, und unwillkürlich erinnerte mich das an die Tage in San Michon, auch wenn ich nicht ohne Schmerz an jene Zeit zurückdachte. Aber es gibt eine eigentümliche brennende Liebe, die im Feuer der Schlacht entsteht, eine Bruderschaft, die nur in Blut geschrieben wird. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich sie vermisst hatte und wie froh ich war, sie jetzt wieder zu spüren.
›Euch gebührt mein Dank, meine Brüder‹, sagte ich. ›Und all die Liebe, die ich geben kann. Ihr setzt alles für mich aufs Spiel, und das allein wegen eines dünnen Versprechens.‹
›Das tun wir gern‹, erwiderte Aaron. ›Aber nicht nur deinetwegen, Gabriel.‹
Er schüttelte den Kopf und betrachtete den Silberstern in seiner Handfläche.
›Ich weiß, dass du deine Zweifel hegst, aber ich spüre den Willen des Allmächtigen hinter dieser ganzen Sache, Bruder. Ich spüre das Gewicht der Vorsehung, die Hand des Schicksals. Ich schwöre bei der Muttermaid, ich kann es nicht erklären. Aber irgendwie weiß ich, dass all das … dass jeder Augenblick unseres Lebens uns zu dieser Nacht geführt hat.‹ Seine Augen leuchteten entschlossen und stolz. ›Und ich bin bereit .‹
›Gott steht uns bei, Gabriel‹, sagte Baptiste und drückte meine Hand. ›So wie bei der Schlacht, die wir gemeinsam bei den Zwillingen schlugen. Damals wie heute – mit ihm auf unserer Seite können wir nicht scheitern.‹
›Keine Angst‹, raunte ich.
›Nur wilde Entschlossenheit‹, ergänzte Aaron und nickte.
›Du solltest schlafen, Bruder‹, sagte Baptiste. ›Ohne dir zu nahe treten zu wollen, du siehst fürchterlich aus.‹
Wir teilten ein erschöpftes Lachen, und ich dankte ihnen noch einmal. Dann umarmte ich die beiden und zog mich krank vor Sorge ins obere Stockwerk zurück. Dort nahm ich zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit ein ausgiebiges Bad, wobei ich vor lauter Blut und Dreck dreimal das Wasser wechseln musste. Ich kämmte mir die Kletten aus den Haaren. Rasierte mir mit einem Messer, das ich mir von Aaron geliehen hatte, den Reisebart ab. Und schließlich betrachtete ich den Mann im Spiegel und sah seine inneren und äußeren Narben. Fragte mich, ob er je seinen Frieden finden würde. Ob er sich selbst jemals verzeihen konnte. Ob es je vorbei sein würde.
Und dann schlurfte ich zu meiner Schlafkammer und wünschte mir nichts sehnlicher als ein paar Stunden zwischen sauberen Laken in einem weichen Bett … Bei Gott, es war ein himmlischer Gedanke. Aber erst blieb ich vor Diors Zimmer stehen und nickte den Schwertfechtern zu, die vor ihrer Tür Wache standen. Sie sahen mich mit grimmigen Gesichtern und zusammengekniffenen Augen an, ablehnend und vorwurfsvoll. Aber dann ergriff einer von ihnen das Wort, ein breit gebauter Ossianer mit einem Bart wie ein Pärchen Dachse.
›Ihr werdet Euch nicht mehr dran erinnern‹, brummte er. ›Aber wir ham bei Báih Sìde Seite an Seite gekämpft.‹
Ich sah ihn starr und erschöpft an.
›Redling‹, sagte ich dann schließlich. ›Redling á Sadhbh.‹
Verblüfft hob er den Kopf. ›Das stimmt. Woher wisst …?‹
›Ich erinnere mich‹, sagte ich. ›Ich erinnere mich an alles.‹
Der Mann maß mich mit einem langen Blick, die Augen flinthart, der Bart gesträubt. ›Ich bin Euch nicht dankbar dafür, dass Ihr das Böse an unsere Tür geführt habt‹, knurrte er. ›Aber wenn ich in dieser Nacht fallen sollte, dann werd ich stolz drauf sein, dass ich dabei neben dem Schwarzen Löwen gekämpft hab.‹
›Oui‹ , sagte der zweite Schwertkämpfer. ›Gott schütze Euch, de León.‹
Ich bedankte mich mit einem Nicken, schüttelte ihre Hände und beschwor sie, ohne Furcht in den Kampf zu ziehen. Dann öffnete ich Diors Tür einen kleinen Spalt und spähte ins dunkle Zimmer. Sie lag mit abgewandtem Gesicht eingerollt unter ihren Decken, geräuschlos und ruhig. Kurz ließ ich den Blick auf ihr ruhen, dachte an die Nächte, als ich an der Tür zu Patience’ Zimmer gestanden hatte, um einfach nur ihren Atemzügen zu lauschen und mich immer wieder zu fragen, wie um alles in der Welt ich etwas so Perfektes hatte erschaffen können.
Wieder spürte ich, wie meine Augen brannten.
Wieder blinzelte ich die nutzlosen Tränen weg.
Und dann wurde mir klar, dass Dior gar nicht atmete. Dass ihr Mantel nicht am Haken hing und ihre Stiefel nicht vor dem Bett standen. Mir wurde eiskalt, als ich ins Zimmer stürmte, obwohl ich bereits wusste, was ich vorfinden würde, als ich die Decken beiseiteriss.«
Jean-François tauchte den Federkiel ins Tintenfass und lächelte leise. »Kissen.«
»Dior Lachance war kein Feigling. Aber sie war verdammt nochmal eine Lügnerin.«
Gabriel schüttelte den Kopf und nahm einen großen Schluck Wein.
»Und das verlogene kleine Miststück war abgehauen.«