· XXVI · Gebrochene Schwüre

»M eine Zunge brannte, als das Dunkel allmählich wich. Ein Feuer strömte durch meinen Schlund und flutete meine Adern. Es war aus Kupfer und Rost, brennend rotem Herbst, eine Hymne, gleichzeitig vertraut und doch nichts zuvor Erlebtem gleich.

Blut.

Blut.

Meine Augen öffneten sich blitzartig, und mich überwältigte die Erkenntnis – dass ich nicht tot war, dass das hier nicht das Jenseits war, dass man mir den wohlverdienten Schlaf und die Wärme in den Armen meiner famille nicht gegönnt hatte. Aber vor allem wurde mir klar, dass der Schwur, den ich flüsternd in den Trümmern meines Hauses ausgesprochen hatte, dass das Versprechen, das ich hauchte, als mir meine Lady ihr letztes Geschenk machte, gebrochen worden war. Ich hatte geschworen, dass kein Tropfen je wieder über meine Lippen kommen sollte, und nun hatte man es mir aufgezwungen , es mir die aufgeschlitzte Kehle hinuntergeschüttet und mich von der Schwelle des Todes zurückgerissen.

Das Blut einer Altvorderen.

Sie kniete über mir und drückte mir ihr Handgelenk an die Lippen, dieses maskierte Ungeheuer im Körper einer Jungfrau, den blutigen Handabdruck über dem Gesicht, die bleichen toten Augen auf mir ruhend. Noch auf dem blutgetränkten Schnee liegend, holte ich nach ihr aus, aber sie trat beiseite, und ihre langen dunklen Haarsträhnen umflossen ihren Körper wie Öl, das auf Wasser schwimmt. Das blutige Schwert schimmerte jetzt in ihrer Hand.

›L-Liathe‹, keuchte ich. Mein Kehlkopf fühlte sich verkrampft an und schmerzte.

Sie verneigte sich wie ein Landedelmann, und wieder irritierte mich diese männliche Geste von einer so weiblichen Gestalt. Aber solche Gedanken waren nur wie ein Flüstern vor dem viel lauteren Zorn, der jetzt in mir aufwallte. Der Schwur, den ich meiner Geliebten gegeben hatte, war durch diese untote Blutsaugerin ohne mein Zutun gebrochen worden.

›Du hast es gewagt‹, knurrte ich und trat schwankend auf sie zu. ›Du hast es verd-dammt nochmal gewagt …

›Warum so wütend, Sssilberwächter? Wir haben dir gerade das Leben gerettet.‹

›Dazu hattest du kein Recht! Jedenfalls nicht so !‹

Ich spuckte rot in den Schnee. Das wundersame schreckliche Feuer dieser Frau überschwemmte noch immer meinen Mund und kribbelte in meinen Fingerspitzen. Obwohl mir die Kehle mit einer Silberstahlklinge glatt durchtrennt worden war, hatte sich die Wunde wieder geschlossen – ein erschreckender Beweis für die Kraft, die im Herzen dieses toten Wesens ruhte. Ich hatte früher schon das Blut von Altvorderen genossen – sicher, nur in der Pfeife geraucht und nicht getrunken, aber dennoch waren mir der Kitzel und die Kraft durchaus nicht neu, die über Jahrhunderte eingedicktes Blut besaßen. Das hier jedoch war eine Wirkmächtigkeit, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Ich wischte mir mit dem Ärmel den Mund ab, klebrig und rot, spuckte noch einmal aus, und meine Stimme zitterte vor Hass.

›Du Miststück‹, zischte ich und ballte die Fäuste. ›Du Blutsaugerin, du verdammte …

›Da haben wir dich mit unseren tausssend Flügeln vor dem Sturz bewahrt, dich dank unserer offenen Adern von der Schwelle desss Todesss zurückgeholt, und dennoch bedenkst du unsss mit Beleidigungen wie ein Junge, der nach dem Abendessen keine Sssüßigkeit mehr haben sssoll.‹ Liathe schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. ›So hat man es dir zu Hause nicht beigebracht.‹

›Du weißt nichts von mir. Du kennst weder die Mutter, die mich aufzog, noch das Heim, in dem ich aufwuchs. Weder das Blut in meinen Adern noch den Preis, den ich zahlte. Wenn du noch einmal so tust, als würdest du mich kennen, Vampir, dann reiße ich dir die Lügenzunge aus deinem beschissenen Totenschädel.‹

›Ein Teil von uns hasst dich genug, um dich das versssuchen zu lassen.‹ Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme klang beinahe traurig. ›Aber nicht heute Nacht.‹

›Du hasst mich? Du kennst mich nicht einmal.‹

›Sind wir so anders?‹, fragte sie. ›Haben wir uns so verändert, dass du uns nicht mehr erkennst?‹

Die Vampirin griff nach der Maske, die sie trug, und zog sie beiseite. Wie schon in San Guillaume richtete sich mein Blick unwillkürlich auf die untere Gesichtshälfte und die schreckliche Wunde, die dort klaffte. Ihre Unterlippe und die Haut darunter waren schlicht nicht mehr vorhanden. Die Ränder der Wunde waren ausgefranst, dauerhaft gequetscht, als wäre das Fleisch dort nicht weggeschnitten, sondern weggerissen worden, wie ein störender Handschuh. Die Zähne im Unterkiefer lagen offen da, und ich konnte Knorpel und Knochen ebenso sehen wie die Muskeln an ihrer Kehle, die sich obszön zusammenzogen, als sie wieder sprach.  

›Es war früher noch schlimmer. Ssso schrecklich, dass du unsss ganz sssicher nicht erkannt hättest. Aber inzwischen sssind wir unserer früheren Gestalt wieder näher. Alssso sssieh noch einmal hin, Gabriel. Sssieh noch einmal hin.‹

Meine Augen glitten höher, senkten sich in ihre, blass und ausgeblichen vom Tod. Aber da war etwas an ihrer Form, da war etwas … an der Art, wie sie sich mit einer schlanken Hand das lange dunkle Haar aus ihrem Gesicht strich, an der Form ihrer Wangen und dem Schwung ihrer Brauen, das mich innehalten ließ. Ein Funke des Wiedererkennens regte sich in mir.

›Sssiehst du esss denn wirklich nicht?‹

Und dann traf es mich wie ein Hammerschlag. Erinnerungen an eine verlorene Kindheit, an ein von Flammen verschlungenes Zuhause und eine Stadt in Trümmern und Asche. Aber ich schüttelte den Kopf. Unmöglich , dachte ich, unmöglich , und ich rief mir den Tag wieder ins Gedächtnis, als ich nach Lorson zurückgekehrt war und der Rache ansichtig wurde, die mir Laure Voss für meine Sünden zugemessen hatte. Meine Mamá, die tot im Schnee lag, einen Arm nach der Kapelle ausgestreckt. Und dort, umschlungen von den Armen des alten Père Louis, eine weitere Gestalt. Verkohlte Haut über Knochen wie Anmachholz. Aber ich hatte noch erkannt, dass es sich um ein Mädchen gehandelt hatte. Eine Kerzenmagd.

Meine kleine Schwester.

Mein kleiner Satansbraten.

›Celene …‹, flüsterte ich.

Mir drehte sich der Magen um, als sie versuchte, mit ihrem nur noch halb vorhandenen Gesicht zu lächeln.

›So sehen wir uns wieder, Bruder.‹

Sie war noch ein Mädchen gewesen, als ich nach San Michon gegangen war, und Mädchen wachsen schnell in diesem Alter. Nun, da ihr ein großer Teil ihres Gesichts fehlte und ihre Augen ausgeblichen waren, hätte man es mir vielleicht verzeihen können, dass ich sie nicht erkannt hatte. Dennoch konnte ich kaum glauben, was ich da sah. Nach all den Jahren …

›Aber … ich habe deine Leiche gesehen, verbrannt in der Kirche!‹

›Dasss war ich nicht‹, sagte sie und schüttelte den Kopf. ›Ich war an jenem Tag nicht in der Kapelle. Ich hatte Spaß mit dem Jungen des Maurers, Philippe. Du erinnerst dich sicher noch an ihn.‹

Die bleichen Augen verengten sich, als sei da die Erinnerung an Schmerz.

›Sssie fand unsss zuerst. Bevor sssie das Dorf niederbrannte. Laure war entzückt , als sssie entdeckte, dass ich deine Schwester war, Gabriel. Sie ließ mich zusehen, als sssie Philippe zum Sssingen brachte. Dann brachte sssie mich zum Weinen. Sssie ließ mich betteln. Sssie ließ mich glauben, sssie würde mich am Leben lassen. Und dann sssagte sssie mir, wieso sssie nach Lorson gekommen war. Was du getan hattest, um ihren Zorn zu verdienen. Und sssie küsste mich, und sssie riss mir das Gesicht mit ihren Klauen weg und sssaugte mich ganz langsam leer, damit ich es bisss zum letzten Augenblick spüren würde. Und dann ließ sie mich tot im Schnee zurück.‹

›Celene‹, flüsterte ich fassungslos. ›Schwester, ich …‹

›Aber ich starb nicht, Bruder. Ich erwachte, etwa eine Stunde nachdem mich der Rote Geist niedergemetzelt hatte. Gefangen in dem Körper, in dem ich gestorben war. In diesssem Körper.‹ Sie deutete auf ihr zerstörtes Gesicht.

›Du sagtest, dein Name sei Liathe.‹

›Das ist mein Titel. Nicht mein Name.‹

›Aber dein Blut‹, hauchte ich, und meine Zunge brannte immer noch davon. ›Selbst wenn du das Kind einer Altvorderen bist, wärst du selbst doch immer noch ein Frischling. Und deine Gaben …‹ Ich blickte auf die Klinge in ihrer Hand. ›Sanguimantik ist ein Erbe des Bluts Esani, nicht des Bluts Voss.‹

›Ssso vieles, wasss du nicht weißt. Ein Ozean zu deinen Füßen, den du nicht sssiehst. Aber während du dich nach deinem Sturz in den Schatten verkrochen hast, Bruder, habe ich sssie umarmt.

Sie hob ihre Hand, und die aus ihrem Blut geformte Klinge erschauerte und bewegte sich, schlängelte sich durch die Luft, als ob sie lebendig sei, umkreiste ihren Körper in langen spritzenden Bögen, bevor sie wieder die Form eines Säbels annahm.

›Im Gegensatz zu dir habe ich meine Zeit in diesssen letzten fünfzehn Jahren klug genutzt.‹

In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Tausend Fragen und ein schreckliches Gefühl von Schuld. Die Freude über die Erkenntnis, dass meine kleine Schwester nicht tot war, und das Entsetzen angesichts der Tatsache, dass sie stattdessen untot war. Und vor allem waren da das Blut, das sie mir geschenkt hatte, die Kraft, das Feuer, die Angst und der Hass, die in ihm steckten – mein Schwur war durch ihre Hand gebrochen worden, aber vor allem war mir bewusst, dass ich dadurch jetzt zumindest teilweise an sie gebunden war. Und dass ich ihr Sklave sein würde, wenn ich nur noch zweimal von ihrem Handgelenk trank.

›Wieso hast du nichts gesagt, als wir uns zuerst begegneten?‹, fragte ich verständnislos. ›Als wir in San Guillaume gegeneinander kämpften? Wir sind von einem Blut, du und ich. Wieso hast du mir das nicht erzählt , Celene?‹

›Weil alles, wasss ich erlitten habe, und alles, wasss ich bin, deine Schuld ist.‹

Wieder schenkte sie mir dieses scheußliche Lächeln.

›Weil ich dich hassse, Bruder.‹

Ich fuhr mir über das blutige Kinn und spuckte wieder rot aus. ›Wieso hast du mich dann gerettet?‹

Sie sah mich an, als wäre ich geistig minderbemittelt. ›Weil deine ehemaligen Brüder den Gral auf geweihtem Boden haben und ich dort nicht hingehen und ihn mir ssselbst holen kann.‹ Bleiche Augen glitten über meinen Körper, über den blutbespritzten Schnee. ›Wieso haben sssie versssucht, dich zu ermorden?‹

›Sie wollen Dior im Morgengrauen töten. Ich habe versucht, sie aufzuhalten.‹

›Sie töten ?‹ Celene riss die Augen auf. ›Warum?‹

›Ein Ritual. Um den Tagestod zu beenden.‹

›Diese Narren‹, hauchte sie. ›Diese elenden Narren …

Ihre todesgebleichten Augen richteten sich flehentlich auf mich.

›Du musst sssie aufhalten. Du musst . Sie begreifen überhaupt nicht, was sssie da tun.‹

›Celene, woher weißt du …?‹

›Es ist keine Zeit!‹, fauchte sie mich an. ›Die Sonne geht auf! Wenn das Blut dieses Mädchens auf geweihtem Boden vergossen wird, dann fällt alles auseinander! Alles!

Ich biss die Zähne zusammen, und verzweifelt sehnte ich mich danach, mehr zu erfahren, aber ich wusste, dass sie recht hatte – jedenfalls zum Teil. Wenn ich Chloe und die anderen nicht aufhielt, dann würden sie Dior ermorden. Unabhängig davon, welches Spiel meine Schwester hier spielte und welche Rolle sie Dior dabei zugedacht hatte, was auch immer diese Vampirin plante, die einst von meinem Blut gewesen war, ich konnte Dior nicht sterben lassen.

So einfach war das.

Ich sah zum Kloster hinauf, dessen Säulen sich fünfhundert Fuß hoch in den Himmel reckten, und zur Kathedrale, die wie eine schwarze Spinne inmitten eines scheußlichen Netzes in der Mitte der großen Anlage hockte. Es gab keine Möglichkeit, unbemerkt mit der Himmelsplattform dort hinaufzugelangen, und ich musste mich schnell und in aller Stille dort hineinschleichen, wenn ich mich gegen ein ganzes Kloster meiner ehemaligen Brüder behaupten wollte. Aber die Kraft des Blutes, das mich Celene zu trinken gezwungen hatte, floss noch immer durch meine Adern und erfüllte mich mit einer einzigartigen Stärke. Und mir fiel ein anderer Weg ein, wie ich diese Höhen erklimmen und tun konnte, was getan werden musste.

Ich sah Celene an, die sich die Maske wieder über das zerstörte Gesicht zog.

›Ich werde wiederkommen‹, versprach ich ihr. ›Und dann werden du und ich über die letzten fünfzehn Jahre sprechen. Über diese ungesehenen Ozeane.‹

Der Schnee fiel in grauen Flocken um uns herum, und der Wind heulte in der Kluft, die zwischen uns gähnte.

›… Es ist gut, dich wiederzusehen, Satansbraten. Es tut mir leid, dass ich deine Briefe nie beantwortet habe.‹

›Geh, Gabriel.‹

Ich schritt zum Sockel der Säule, auf der sich die Waffenschmiede erhob.

Und mit der Kraft gestohlener Zeitalter in meinen Adern kletterte ich an ihr hinauf.«