Western von Wilfried A. Hary
Der Umfang dieses Buchs entspricht 110 Taschenbuchseiten.
Fünf Jahre Haft hat John Stein hinter sich und will sich dafür an der gesamten Einwohnerschaft von Greak Town rächen. Als er in die Stadt zurückkehrt, muss er jedoch feststellen, dass hier einiges anders geworden ist. Jemand hat das Kommando über diese Stadt übernommen – jemand, der zwielichtige Geschäfte im Sinn hat. Und er, John Stein, soll sich daran beteiligen. Dann ist da noch Lilly, von der er glaubt, dass sie ihn damals verraten hat. Aber ist das alles wirklich so? Die fünf Jahre haben Stein verändert, er weiß es nur noch nicht.
Der Tag, an dem John Stein aus der Hölle des Zuchthauses von Utah entlassen wurde, war für ihn der Tag der Rache. Dafür hatte er fünf Jahre härteste Marter und schwerste Zwangsarbeit überlebt.
Der Tag der Rache.
Nicht nur allein für ihn: Seine Leute hatten auf ihn gewartet, treu, wie gewohnt. Sie hatten offensichtlich keinen Alleingang gewagt, weil sie genau wussten: Das hätte er ihnen nie verziehen.
Als John Stein vor die eiserne Pforte trat, waren sie vollzählig da – auch Billy, wie immer verlegen grinsend. Er wusste gar nicht, wie er sich verhalten sollte, druckste herum, schnippte den Hut in den Nacken.
Ein echter Stetson , dachte John Stein überrascht. Also ist es meinen Jungs all die Zeit nicht schlecht gegangen.
Was hatten sie eigentlich getan?
Flüchtig streifte sein Blick die schlaksige Gestalt von Wyoming Kid, den breitschultrigen, stets dümmlich grinsenden Muskelprotz Little King und den Mann mit dem Wieselblick und dem Rattengesicht Great Texas.
John Stein hatte nur ihre Spitznamen behalten. Ihre richtigen Namen waren uninteressant. Ihn interessierte nur, dass sie da waren. Sonst nicht einmal so sehr, wie sie die vergangenen höllischen Jahre verbracht hatten.
Keiner der Banditen hatte ihn besucht. Genau, wie er es gewünscht hatte. Niemand hatte die Chance haben sollen, sie festzunehmen.
Little King reichte ihm mit unentwegt dümmlichem Grinsen den Colt. Den hatte er fünf Jahre lang für seinen Boss aufbewahrt.
»Ihr seid pünktlich, als hätte ich euch persönlich bestellt«, sagte John Stein und nahm den Colt entgegen. »Wann gewöhnst du dir endlich das Grinsen ab, King? Jeder von uns weiß, wie schlau du bist.«
»Tarnung, Boss«, brummte Little King. »Wenn ich mal nicht mehr grinse … Yeah, Boss, dann weißt du, dass ich beschlossen habe, meinen eigenen Kopf zu gebrauchen.«
Eine Antwort, wie John Stein sie von ihm erwartet hatte.
»Kommt, Boys, der Krieg wartet. Unser Krieg. Yeah, let’s go to Greak Town. Bald wird sie anders heißen. Bloody Town – blutige Stadt.«
Wie abgesprochen, ritt John Stein zunächst allein in die Stadt. Man wusste offenbar längst, dass er wieder auf freiem Fuß war, sonst wäre die Main Street nicht so menschenleer gewesen.
Fünf Jahre. John Stein schnalzte mit der Zunge und spuckte in den Straßenstaub.
Greak Town hatte sich in diesen fünf Jahren verändert. Aber es war nicht etwa schöner geworden.
Steins Lippen wurden zu einem schmalen Strich, als er den Braunen genau auf das Sheriff-Office zutrotten ließ.
Hier hatte er gelebt. Von hier aus hatte er die Stadt mit eiserner Faust regiert.
Er kniff die Lippen so fest zusammen, wie es ging, dennoch konnte er das leichte Beben nicht verhindern. Seine Wangenmuskeln spielten.
John Stein dirigierte den Braunen nicht mit den Zügeln, sondern mit kaum hörbaren Schnalzlauten.
Hinter einem Fenster war eine Bewegung. Jemand ging rasch in Deckung.
Er wurde beobachtet, von allen Seiten, aber keiner dieser feigen Memmen zeigte sich ihm offen.
Die Hitze ließ Schweiß unter der Hutkrempe hervorsickern. In dünnen Rinnsalen bahnte er sich einen Weg über Steins in diesem Augenblick unnatürlich bleiches Gesicht. Der Schweiß sickerte zwischen die Bartstoppeln. Als John Stein sich dort unbewusst kratzte, gab es ein schabendes Geräusch.
Der Braune trippelte unruhig. Seine Augen waren leicht geweitet. Das Tier war höchst nervös. Die Spannung, die in der Luft lag, wirkte auch auf den Braunen.
Mit der Linken tastete John Stein unwillkürlich nach dem Revolverholster.
Natürlich, das Holster war leer. John Stein hatte die Waffe in die Decke gerollt, hinter dem Sattel. Er hatte den feigen Bürgern von Greak Town demonstrieren wollen, dass er unbewaffnet zurückkehrte. Wenn nun einer auf ihn schoss, war das glatter Mord.
Er lachte heiser, als er daran dachte.
In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür zum Sheriff-Office.
Darauf hatte John Stein gewartet.
Immer wieder hatte er sich die Begegnung mit seinem Todfeind vorgestellt. Manchmal hatte er aber auch lauthals darüber geflucht. Eine seltsame Mischung von widersprüchlichen Gefühlen hatte ihn immer beherrscht, wenn er sich die Begegnung ausgemalt hatte. Auch Angst war dabei gewesen.
Ja, er hatte unterschwellige Angst vor seinem Widersacher, dem er die ärgste Niederlage seines Lebens verdankte. Dieser Mann, dem er die fünf Jahre verdankte, der ihn wie einen räudigen Köter aus der Stadt gejagt hatte – ihn, John Stein.
Wie gebannt starrte John Stein auf die langsam auf schwingende Tür. Sie ging nach innen auf. John Stein war von der Sonne geblendet und konnte im Schatten des Raumes nichts sehen.
Die Angst fiel ab. Da war nur noch Hass.
Jemand trat aus dem tiefen Schatten vom Office.
Nein, der tritt nicht, sondern der wankt, dachte John Stein erstaunt.
Sein ärgster Feind: Moore Hendriks.
Aber das war nicht der Moore Hendriks, der ihn mit zwei Colts in den Fäusten über die Main Street gehetzt hatte.
Was John Stein hier vor sich sah, das war nur noch ein Abklatsch da von. Das war ein menschliches Wrack mit schlotternden Knien, schlaffen Schultern, einem Gurt, der an den ausgemergelten Hüften kaum noch Halt fand und ausgebrannten Augen.
Ein Wrack namens Moore Hendriks.
Wie sollte John Stein einen solchen Gegner hassen können?
Immer wieder hatte sich John Stein diese Begegnung ausgemalt. Er hatte Pläne geschmiedet und wieder verworfen. Und dann war ein einziger Plan geblieben: er würde in die Stadt kommen, verstaubt, verschwitzt, erschöpft, anscheinend unbewaffnet.
Niemand ahnte indessen, dass er in Wirklichkeit die Fahrt bequem in einem Wagen zurückgelegt hatte.
Vom Pferd herunter und in das Office, Moore Hendriks in Sicherheit wiegen, mit ihm einen Scheinfrieden schließen. Und dann der Colt in der Decke. Mit diesem in der Faust hatte er Moore Hendriks genauso über die Main Street jagen wollen, wie dieser vor fünf Jahren ihn.
Seine Leute wären schon nach dem ersten Schuss herbeigeprescht, aus allen Himmelsrichtungen, um John Stein Rückendeckung zu geben.
Und dann wäre die Herrschaft über Greak Town erneuert worden. John Stein, der jeden unnachsichtig bestrafte, der sein Spiel nicht mitspielte – ein Spiel mit Namen Macht.
Ja, das war sein glorreicher Plan gewesen, der beste Plan von allen anderen. Und nun war dieser Plan keinen Cent mehr wert, denn wenn er dieses Wrack von einem Sheriff über die Main Street hetzte, konnte er sich nur lächerlich machen, weil er sich an einem Schwächling vergriff.
John Stein glitt aus dem Sattel.
Die Zähne des feigen Moore Hendriks schlotterten wie spanische Kastagnetten. In seinen Augen war Todesangst.
John Stein wollte es immer noch nicht glauben. Er hatte sich so in seinen Hass hineingesteigert, dass es ihm unendlich schwer fiel, praktisch keinen Grund mehr für diesen Hass zu sehen.
»Du – du bist also wirklich gekommen«, lallte Moore Hendriks. Eine Alkoholfahne wehte dabei John Stein ins Gesicht.
Aha, nun begriff er endlich. Moore Hendriks war dem Alkohol verfallen. Dieser muskelstarrende Bursche, der so schnell seinen Colt zog, dass man die Bewegung nicht mit den Augen verfolgen konnte. Dieser eisenharte Kerl. Der Schnaps hatte ihn zerstört. Innerhalb von nur fünf Jahren.
Selbst der hartgesottene John Stein spürte eine Gänsehaut.
Da griff Moore Hendriks nach seinem Colt. Die Bewegung war noch genauso schnell wie früher, nur hatte er mit dem Gewicht des Colts deutlich Schwierigkeiten.
Der Lauf der Waffe zitterte zu stark. Damit würde er nicht treffen. Mir der anderen Hand half Moore Hendriks nach. Nun war der Lauf ruhiger und deutete genau auf das Herz von John Stein.
Stein schnippte seinen breitkrempigen Hut in den Nacken und grinste breit.
»Wen willst du damit erschrecken, Hendriks? Alte Ladies?«
Er riss schneller sein Bein hoch, als Moore Hendriks abdrücken konnte. Die Stiefelspitze traf Hendriks’ Hände und prellte die Waffe weg. Sie flog im hohen Bogen in den Straßenstaub.
Moore Hendriks schrie auf. Wimmernd massierte er die geschundenen Hände.
Ein versoffener, wehleidiger Jammerlappen , dachte John Stein verächtlich.
Er schob den Betrunkenen beiseite. Dabei dosierte er seine Kraft nicht richtig, setzte zu viel ein, denn Moore Hendriks, dieses Alkoholwrack, flog seiner Waffe nach und landete neben ihr im Staub der Main Street.
Er war sogar zu feige, noch einmal danach zu greifen. Obwohl John Stein offensichtlich unbewaffnet dastand.
John Stein betrat das Office, ohne dem Sheriff weiter Beachtung zu schenken.
Vom Lüften hielt der Sheriff wohl gar nichts. John Stein musste sich zusammennehmen, um das Office nicht augenblicklich wieder zu verlassen.
Er fragte sich unwillkürlich, warum diese heruntergekommene Stadt einen solchen Sheriff überhaupt ertrug? Warum jagten sie ihn nicht zum Teufel?
Kopfschüttelnd sah er sich um. Seine Augen gewöhnten sich rasch an das hier herrschende Halbdunkel.
Und da erst bemerkte er den Schatten, der im Durchgang zu den Zellen stand. Der Schatten eines hoch gewachsenen Mannes, in beiden Händen eine Unterhebel-Repetierbüchse der Marke Winchester. Der Lauf der Waffe deutete genau auf John Stein.
Der Fremde lachte. Er trat auf John Stein zu.
Ein verirrter Lichtstrahl streifte sein Gesicht. Ein Gesicht, das John Stein nicht kannte. Dieser Mann stammte nicht aus Greak Town.
Von dem Fremden ging eisige Kälte aus. Eine Kälte, die an die Kälte des Todes erinnerte.
»Das also ist der berüchtigte John Stein«, sagte der Fremde grinsend.
»Wer sind Sie?«
»Ja, John Stein, das würdest du wohl gern wissen, was?«
»Sonst würde ich nicht fragen.«
Der Fremde bohrte ihm den Lauf seiner Winchester in den Nabel.
Steins Bauchmuskeln spannten sich, als könnten sie damit die Kugel aufhalten. Der Fremde brauchte nur den Zeigefinger krumm zu machen.
John Stein wagte es trotzdem: er machte eine halbe Drehung nach links, packte gleichzeitig den Lauf der Winchester und zog kräftig daran.
Es löste sich kein Schuss, wie er erwartet hatte, aber die Büchse ließ ein metallisches Klicken hören. Als wäre sie überhaupt nicht geladen.
Der Fremde prallte gegen John Stein und verlor sein Gewehr. Doch kein Grund für John Stein, zu triumphieren. Er spürte einen scharfen Stich in der Herzgegend. Blut sickerte aus einer Wunde. Er wagte nicht sich zu bewegen.
Der Fremde lachte ihm ins Gesicht. »Ein Messer«, klärte er John Stein auf. »Die Spitze hat sich in dein Fleisch gebohrt, Bandit. Nur ein kleines Stückchen, direkt zwischen zwei Rippen. Ein kleiner Stoß, Kerl, und du gehst vor die Hunde.«
»Wer sind Sie?«, fragte John Stein erneut.
Der Fremde stieß ihm mit der freien Hand vor die Brust. John Stein taumelte rückwärts gegen die Wand und blieb dort stehen. Er knirschte mit den Zähnen. Seine Fingernägel krallten sich in den morschen Verputz.
John Stein schätzte seine Chancen ab. Aber er zögerte. Dieser Fremde erschien ihm irgendwie unheimlich.
»Du bist doch zurückgekommen, Stein, um wieder die Macht an dich zu reißen, nicht wahr?«
John Stein blieb stumm.
Der Fremde fuhr fort: »Du bist hier, weil du dich rächen willst. Erst an Moore Hendriks. Das hat sich ja erledigt, wie du gesehen hast. Brauchst ihm nur genügend Whisky einzuflößen. Das beschleunigt seinen Abgang. Und anschließend wolltest du den Bürgern dieser Stadt wieder zeigen, wer der Herr ist.«
Er bückte sich, ohne John Stein aus den Augen zu lassen, und hob die Winchester auf, John Stein hatte sie nicht in den Händen behalten. Was sollte er mit einer ungeladenen Waffe?
Blitzschnell warf ihm der Fremde die Winchester zu. Unwillkürlich fing John Stein sie auf.
»Es soll alles so kommen, wie du es dir ausgemalt hast, John Stein. Ich weiß, deine Leute warten außerhalb der Stadt auf ein Zeichen von dir. Schieß einfach in die Luft, wie mit ihnen verabredet.«
Woher wusste der Fremde dies alles?
John Stein betrachtete die dunkle Gestalt. Sollte er es wagen, den Mann anzugreifen? Aber wer sagte ihm, ob der Mann außer dem Messer nicht noch eine Waffe bei sich trug? Der Fremde gab sich sehr selbstsicher. Also hatte er vorgebaut.
»Hast du begriffen, John Stein? Du kannst die Stadt haben. Ich schenke sie dir. Erwähne mich niemals, hörst du? Du wirst herrschen, aber nicht ganz ohne mich. Wenn es dir nicht passt, dann greif mich an. Na los, worauf wartest du?«
Ja, der Fremde erschien John Stein unheimlich. Aber, damned, war er fünf Jahre in der Hölle von Utah gewesen, nur um abergläubisch zu werden? Dies war ein Wesen aus Fleisch und Blut, und die Überlegenheit, die von dem Mann ausging, begründete sich nur darauf, dass John Stein unbewaffnet war. John Stein ließ die Winchester wütend zu Boden fallen.
»Ich weiß alles über dich, John Stein. Du solltest dich in den letzten fünf Jahren daran gewöhnt haben, dass es Leute gibt, die dir überlegen sind. Auch im Zuchthaus hast du dich unterordnen müssen. Vor fünf Jahren hast du deinen Meister gefunden. Ich weiß, was dir widerfuhr. Deine Leute waren unterwegs, von Moore Hendriks aus der Stadt gelockt. Oh, damals war Hendriks noch ein schlauer Bursche. Du warst allein zurückgeblieben. Lilly aus dem Saloon kam, um dir Gesellschaft zu leisten. Du hast dich über ihren Besuch gefreut, wie immer, nicht wahr? Aber du hast nicht ahnen können, dass sie sich mit Hendriks verbündet hatte, um dich loszuwerden. Sie konnte dich entwaffnen, bevor Moore Hendriks das Büro hier betrat. Und dann begann für dich der Höllentanz. Die Bürger von Greak Town haben über dich gelacht, als Moore Hendriks dich aus der Stadt jagte.
Mit geschundenen Gliedern hast du dort draußen gelegen, als die Bürger einen Trupp bildeten und dich wieder zurückbrachten. Sie schleiften dich wie ein Stück Dreck über die Main Street. Moore Hendriks hieß der neue Sheriff, weil er die Stadt von dir befreit hatte. Und es war seine Aufgabe, dich dem District-Marshal zu übergeben. All die Jahre war niemals die Rede von deinen Kumpanen gewesen. Du hast sie gedeckt. Sie blieben für die Hüter des Gesetzes verschwunden. Es sind treue Leute, John Stein. Und du wirst mir genauso treu ergeben sein. Du wirst besser arbeiten als Moore Hendriks.«
»Er hat für Sie gearbeitet?«
»Sonst wäre er längst kein Sheriff mehr.«
»Wer sind Sie?«
»Dein Gönner, John Stein – oder dein Todfeind. Du kannst es dir aussuchen. Und ich bin nicht allein. Du wirst uns nicht entkommen.«
»Was verlangen Sie von mir?«, fragte John Stein gepresst.
»Nichts. Du sollst hier alles haben, wie du es willst. Fang an, deine neue Herrschaft aufzubauen. Dann wirst du von mir hören.«
Moore Hendriks hat für den Mann gearbeitet? , überlegte John Stein. Dann hat Moore Hendriks das damals nur getan, um die Stadt für den Fremden und seine Hintermänner zu erobern?
Noch bevor er diesbezüglich eine Frage stellen konnte, wandte sich der Fremde ab und verschwand im Durchgang zu den Zellen.
John Stein eilte hinterher, aber der Zellengang war leer.
Er suchte nach Spuren, fand aber keine.
»Ein ganz normaler Mensch aus Fleisch und Blut«, murmelte er vor sich hin, »aber ein Mann, der einige Tricks auf Lager hat. Man sollte ihn nicht unterschätzen.«
Er richtete sich auf.
Was ist in den letzten fünf Jahren in dieser Stadt geschehen? Und was sind das für Fremde? Was wollen sie von der Stadt und von mir, dachte er.
Lilly , dachte John Stein. Fünf Jahre lang habe ich jeden Gedanken an sie verdrängt. Obwohl Hendriks ohne sie gar nicht an mich herangekommen wäre. Wenigstens auf diese dramatische Art und Weise nicht.
Er trat auf die Straße hinaus.
Da krachte ein Schuss. Die Kugel verfehlte ihn knapp, heulte an seinem Ohr vorbei und trieb ihn in das Office zurück.
»Ich bringe dich um«, lallte Moore Hendriks draußen.
»Dazu müsstest du noch mehr Zielwasser saufen, damned«, brummte John Stein und hechtete durch die offene Tür.
Ein weiterer Schuss, bevor er noch den Boden berührte. Eine Rolle vorwärts, John Stein sprang auf, war dann an seinem Sattel und zog den Colt aus der Decke.
Auch der dritte Schuss verfehlte ihn. Moore Hendriks war am Ende. Kein Revolverheld mehr, sondern ein Sterbender. Nur schien er das nicht zu wissen.
John Stein traf besser. Er hatte in fünf Jahren Utah nichts verlernt. Seine Kugel prellte den Revolver aus der Hand von Moore Hendriks.
Der verhinderte Mordschütze heulte lauthals los.
Lauschend hob John Stein den Kopf: Hufgetrappel. Seine Leute? Zufrieden schnalzte er mit der Zunge. Sein Brauner trippelte und schnaubte. Beruhigend tätschelte Stein seine Flanke.
John Stein steckte den Colt in das Holster und ging zum Sheriff hinüber. Kurz bückte er sich und verabreichte Moore Hendriks eine schallende Ohrfeige.
»Das nächste Mal überlegst du dir besser, auf wen du schießt.«
»Ich – ich habe nichts mehr zu verlieren«, lallte Hendriks.
Stein packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Sein Gesicht war ganz nahe, obwohl ihm der Schnapsgestank den Atem raubte.
»Wer war der Fremde?«
»Was für ein Fremder?«, lallte Hendriks und rollte mit den Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Er lachte heiser. »Es gibt keinen Fremden, hörst du? Überhaupt keinen. Höchstens Freunde.«
»Er war in deinem Büro, Hendriks.«
Moore Hendriks kniff mehrmals die Augen zusammen. Sein Atem ging schwer. Als er endlich den forschenden Blick von John Stein erwiderte, stahl sich ein verzerrtes Lächeln um seine Lippen.
»Niemand war im Büro, außer mir. Du siehst Gespenster, glaube mir. Habe schon gehört. Utah soll den Leuten mächtig zusetzen. Scheint, es hat auch auf deinen Verstand gewirkt.«
»Na gut«, knurrte John Stein und ließ ihn fallen. Wimmernd landete Hendriks am Boden.
»Hundesohn«, schimpfte er. »Knall mich endlich ab. Dann habe ich es hinter mir.«
Little King preschte über die Main Street heran. Von der gegenüberliegenden Seite kam Billy.
Er konnte es offenbar nicht lassen, er schwang seinen Colt wie wild und fing an herumzuballern.
Scheiben gingen zu Bruch.
John Stein dachte an den Fremden.
Der hatte ihn dazu aufgefordert, alles genauso ablaufen zu lassen wie geplant – außer mit Moore Hendriks, der es gar nicht verdiente, dass man ihn überhaupt beachtete.
Irgendwie war Stein die Lust absolut vergangen. Am liebsten hätte er Greak Town für immer den Rücken gekehrt. Wie aber sollte er das seinen Leuten plausibel machen?
Und noch etwas hielt ihn – die Neugierde. Er wollte wissen, was hier gespielt wurde.
John Stein stieg in den Sattel seines Braunen, gerade als Little King ihn erreichte.
King zügelte sein Pferd und schaute auf Moore Hendriks hinab, der sich am Boden wand und vergeblich versuchte aufzustehen.
»Damned!«, sagte Little King.
»Yeah!«, schrie John Stein, ließ den Braunen auf die Hinterhand steigen und galoppierte zur Straßenmitte.
»Feige Bastarde!«, brüllte Billy und schoss in ein Fenster. Von drinnen ertönte prompt ein Schrei. »Zeigt euch, oder ich blase euch alle aus!«
Great Texas und Wyoming Kid ritten herbei.
John Stein dirigierte seinen Braunen in Richtung Saloon. Er hatte sich entschlossen.
Seine Leute folgten ihm. Nur Little King zögerte. Er konnte anscheinend seinen Blick nicht mehr von dem Wrack namens Moore Hendriks lassen.
Vor dem Saloon tauchte Lilly auf. Sie war somit der zweite Mensch seit seiner Ankunft, der es wagte, John Stein gegenüberzutreten – den Fremden nicht einbezogen.
Billy pfiff laut durch die Zähne. »Alle Achtung, die hat sich besser gehalten als Trockenfisch im Keller.« Er gab seinem Pferd die Hacken und galoppierte die Main Street entlang. Wyoming Kid schloss sich ihm an.
John Stein kümmerte sich weiter nicht um die beiden. Er brauchte sie im Moment nicht. Sie grölten herum, ballerten mit ihren Revolvern in die Gegend. Angstschreie von Bürgern waren zu hören.
Auch das interessierte John Stein zur Zeit nicht. Er hatte nur noch Augen für Lilly. Das verdammte Weibsbild hatte ihm damals die Falle gestellt, doch das schien ihr gar nichts auszumachen. Sie stand vor dem Eingang zu ihrem Saloon, als wollte sie ihn persönlich beschützen, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und lächelte süffisant.
»Der Zuchthäusler ist also wieder da«, sagte sie abfällig. »Ein Halunke namens John Stein.«
»Knall sie nieder«, forderte Great Texas erbost.
Stein winkte ab. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und schlang die Zügel um die Haltestange.
Lilly erklärte: »Von mir aus kannst du gleich wieder verschwinden.«
John Stein lächelte. Langsam ging er auf sie zu.
Er hatte fünf Jahre lang seinen ganzen Hass auf Moore Hendriks konzentriert. Das war ein verdammter Fehler gewesen. Hendriks war es nicht wert. Aber Lilly. Sie hatte sich zu einer wahren Furie entwickelt.
Seltsam, sein Hass verrauchte so schnell, wie er gekommen war. John Stein ließ den Revolver sinken.
»Wer hat mich denn fünf Jahre lang bei dir vertreten?«
Sie lachte spöttisch. »Was denn, soll ich dir nun eine komplette Liste anfertigen? Wird nicht leicht sein. Hör mal gut zu: Zieh Leine, aber ein bisschen plötzlich. Falls du es wirklich wagst, mich anzufassen, bist du dran, denn zwei Gewehre sind in diesem Augenblick auf dich gerichtet.«
»Mist«, zischte Great Texas, und im nächsten Moment bewies er sein artistisches Können, indem er sich rücklings über die Hinterhand vom Pferd rollen ließ. Als er auf beiden Beinen am Boden landete, hatte er seine Colts in den Händen und schoss in den ersten Stock hinauf.
Die Kugeln verfehlten ihr Ziel genauso wie die Kugeln aus den beiden Gewehren. Sie zischten über den leeren Sattel hinweg.
Little King ließ sich seitlich aus dem Sattel gleiten. Das rettete ihm ebenfalls das Leben.
John Stein blieb stehen und richtete den Revolver auf Lilly. Um die Heckenschützen brauchte er sich nicht zu kümmern. Auf King und Texas war Verlass.
Sie schossen gleichzeitig, In der nächsten Sekunde platzten zwei Scheiben im ersten Stock in tausend Scherben.
Die Kerle kamen zum Vorschein. Sie kippten vornüber, verloren die Gewehre und fielen auf den hölzernen Steg vor dem Saloon.
John Stein sagte: »Und nun, Lilly? Willst du nicht endlich deinen lang vermissten Geliebten begrüßen?«
Sie war blass geworden, mit einer Farbe um die Nase wie frisches Gras.
»Eher krepiere ich!«, schwor sie und machte den rechten Arm krumm.
John Stein starrte direkt in die Mündung eines kleinen Damenrevolvers.
Sofort warf er sich zur Seite. Keine Sekunde zu früh. Der Derringer entlud sich krachend. Die Kugel sirrte dicht an John Stein vorbei.
Es war nur ein Einschüsser. Lilly ließ ihren Arm wieder sinken.
John Stein wog sein Eisen wie prüfend in der Hand.
»Wann knallst du sie denn endlich ab?«, brüllte Great Texas außer sich. »Hast du immer noch nicht genug?«
John Stein tat das genaue Gegenteil. Er steckte seine Waffe weg.
»Ich biete dir Waffenstillstand an, Lilly.«
»Der spinnt.« Great Texas tippte sich vielsagend an die Stirn.
Little King knirschte nur mit den Zähnen. Er ließ Lilly keine Sekunde aus den Augen.
»Wie bitte?«, fragte sie überrascht.
»Waffenstillstand«, wiederholte John Stein.
Sie lächelte auf einmal. »Na gut, Gringo.«
»Keine Bedingungen deinerseits?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Finger weg von mir. Das ist alles. Ich habe dich oft genug ertragen müssen, Bastard.«
»Einverstanden.«
»Warum tust du das eigentlich? Warum schießt du mich nicht nieder oder sperrst mich wenigstens ein oder überlässt mich deinen Leuten?«
»Vielleicht, weil ich dich immer noch liebe. Obwohl du mich verraten hast. Obwohl du versucht hast, mich umzubringen.«
»Ich werde es wieder tun, sobald ich Gelegenheit dazu kriege.«
John Stein musterte Lilly. Sie hatte ein bodenlanges Kleid an, mit einem gewagten Ausschnitt. Ihre festen Brüste wogten bei dem Atemzug.
Die beginnende Erregung schnürte ihm die Kehle zu.
Nein, Lilly sollte leben. Aber er musste höllisch aufpassen. Sie war gefährlich.
Kurz lauschte er auf die wüsten Schreie am anderen Ende der Stadt.
John Stein ging an Lilly vorbei und betrat den Saloon.
Mindestens zwanzig Bürger befanden sich hier, alle bewaffnet. Feige duckten sie sich unter die Tische.
»Kommt herein!«, rief Stein seinen Leuten zu. »Ich gebe einen aus.«
Ich werde Lilly einweihen , dachte er. Ich werde sie über den Fremden ausfragen. Sie weiß am besten Bescheid über alles, was in diesem Nest geschieht.
Great Texas schoss zwei Kugeln in die Decke. Das genügte, um die verängstigten Bürger zum fluchtartigen Verlassen des Saloons zu bewegen.
John Stein erkannte sie. Damals waren sie dabei gewesen, als man ihn über die Main Street geschleift hatte.
Aber er ließ sie unbehelligt ziehen.
Nur noch einer war geblieben: der Barkeeper. Er richtete sich hinter der Theke auf, die Ärmel hochgekrempelt, eine speckige Schürze vor dem Spitzbauch, wieselflinke Augen unter der spiegelnden Halbglatze.
Stein kannte auch ihn. Nur an den Namen konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Jeder sagte Keeper zu ihm.
»Whisky«, raunzte Great Texas ihn an.
Der Keeper betrachtete ihn abschätzend. Er schien keine Angst zu haben vor diesem Mann, der einen Ruf genoss, dass es jedem Eingeweihten bis in die Oststaaten eiskalt den Rücken herunterlief, wenn er nur den Namen hörte.
Great Texas grinste breit. Er steckte die Waffen weg und legte beide Hände mit dem Handrücken nach oben auf den Tresen.
Der Barkeeper zögerte. Er putzte mit seinem Lappen ein Whiskyglas, als wollte er damit den Boden durchscheuern. Dann stellte er das Glas vor Great Texas und sagte: »Bin schon dabei, Sir.« Er zog das Sir so lang, dass es schon wieder abfällig klang.
Great Texas wartete, bis sein Glas voll war. Dann nahm er es zwischen Daumen und Zeigefinger, hob es langsam hoch und machte Anstalten, es an die Lippen zu setzen.
Blitzschnell schüttete er es aber dem Keeper ins Gesicht.
Der Mann hatte Glück. Früh genug hatte er die Augen geschlossen. Kein Tropfen von dem scharfen Zeug geriet hinein. Er hob den Lappen und wischte sich das Gesicht ab. Dann goss er ungerührt nach.
Great Texas schürzte die Lippen und sagte zu Lilly, ohne allerdings den Blick von dem Keeper zu wenden: »Du hast den besten Keeper unter Vertrag, den ich je gesehen habe. Alle Achtung. Man sollte ihn einrahmen und an die Wand hängen, damit ihn jeder bestaunen kann.«
Der Barkeeper griff unter die Theke und brachte eine abgesägte Schrotflinte zum Vorschein. Die Mündung wies zur Seite.
Great Texas hatte nach seiner Waffe greifen wollen, aber seine Hand stoppte in halber Bewegung.
»Ich kann für mich selber sorgen«, sagte der Keeper hart. »Wie du siehst.« Er knallte die Schrotflinte auf den Tresen und ließ sie dort liegen. Dann nahm er neue Gläser und bediente John Stein und Little King.
Texas nahm die Schrotflinte an sich und wog sie kopfschüttelnd in den Händen. »Der ist nicht nur ein guter Keeper, sondern auch ungewöhnlich schlau. Er weiß, wann es besser ist, die Waffen zu strecken.«
Lilly stemmte zornig die Arme in die Seite und fauchte: »John Stein und seine dreckige Bande.«
Great Texas schielte nach seinem Boss. »Ich tue es für dich, John.«
Lilly lachte auf. »Nun hör sich einer diese schäbige Laus an. Eine halbe Portion, mehr nicht. Man sollte ihm ordentliche Manieren beibringen.«
Texas wandte sich ihr zu. Sein Gesicht war auf einmal kreidebleich. In seinen Augen loderte Feuer.
Lilly hielt dem Blick stand.
»Halbe Portion«, wiederholte sie.
Das war seine empfindliche Stelle. Nun hatte sie erkannt, wie sie ihn am besten verletzen konnte.
Sie fügte hinzu: »Begegne mir niemals ohne Waffe. Hörst du, Laus? Ich breche dir sämtliche Knochen im Leib, obwohl ich eine Frau bin. Nur eine Frau, kapiert?«
Great Texas richtete die Schrotflinte auf sie. Ehe es jemand verhindern konnte, drückte er ab.
Der Schuss traf sie nicht. Absicht? Die Schrotkörner holten den Kronleuchter herunter. Das Glas war zerfetzt. Der Leuchter krachte hinter Lilly auf den Holzfußboden.
»Schluss jetzt!«, brüllte John Stein außer sich. »Alle beide!«
Sie lächelte ihn an. »Der Boss befiehlt mal wieder. Das hast du in Utah nicht verlernt, wie ich sehe.«
Great Texas ließ die Schrotflinte fallen und griff nach seinem Whisky. Wie ein Verdurstender stürzte er ihn hinunter. Er atmete ein paar Mal tief durch. Dann schien er sich wieder völlig in der Gewalt zu haben.
John Stein ging auf Lilly zu, als wollte er sie schlagen.
Der Barkeeper putzte wieder mal Gläser, aber seinen wieselflinken Augen entging nichts. Little King stand ein wenig abseits. Auch er hatte alles im Auge, hielt sich aber zurück. Seine Rechte lag wie zufällig auf dem Griff seiner Waffe. Seine Armmuskeln waren leicht gespannt. Sie waren so dick wie Männerschenkel.
John Stein erreichte Lilly und griff mit beiden Händen nach ihr. Sie wich nicht aus, schaute ihn nur starr an.
»Was ist in den letzten fünf Jahren hier vorgefallen?«, fragte John Stein.
»Was ist mit dir passiert?«
»Mit mir?«
»Du hast dich verändert.«
»Ja, ich bin fünf Jahre älter geworden.«
Er wollte sie umarmen. Dabei spürte er ihren Widerstand. Unter ihrer weichen, glatten, erregend weiblich duftenden Haut verbargen sich kräftige Muskeln, die man ihr nicht zutraute.
Sie konnte Great Texas wirklich die Knochen im Leib brechen, wenn er sie an sich heranließ. John Stein wusste das. Great Texas ebenfalls. Deshalb sein Hass.
Und man sah es Lilly tatsächlich nicht an. Sie war schlank, wirkte eher zierlich. Sie hatte einen nicht zu üppigen, aber hoch angesetzten Busen.
Lilly war eine Raubkatze, gefährlich, unberechenbar. Sie war eine Westfrau, wie sie im Buche stand.
Und in diesem Moment konnte John Stein endlich die Blicke deuten, die Little King ihr die ganze Zeit schon zuwarf: er begehrte sie. Ihre Stärke imponierte ihm. Aber Little King war ein Mann, der niemals um eine Frau warb. Sie musste ihn freiwillig nehmen oder gar nicht. Sein Stolz war so eisern wie seine Muskeln.
John Stein verdrängte die Gedanken an Little King und die Möglichkeit, dass er ihm Lilly abspenstig machen könnte.
Konnte ihm denn Little King eine Frau ausspannen, die ihm gar nicht gehörte?
Lilly befreite sich mit einem einzigen Ruck aus der halben Umarmung. Sie lief davon, auf die breite Treppe zu, die aus dem Schankraum zur Galerie hinaufführte. Dort oben waren die Türen zu den Hotelzimmern. Das mittlere Zimmer, wo die Treppe endete, hatte Lilly schon vor vielen Jahren zu einem Büro umfunktioniert.
Sie erreichte die Treppe.
»Stehen bleiben!«, befahl John Stein. Er hatte seinen Colt bereits in der Hand und wusste nicht einmal zu sagen, wie er dort hingekommen war. Beinahe hätte er auf Lilly geschossen.
John Stein knirschte mit den Zähnen. Nein, das war keine Lösung. Er musste das Problem anders angehen.
Rasch steckte er den Colt wieder weg. Er hörte das schadenfrohe Kichern von Great Texas und rannte los.
Lilly hetzte die Treppe hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Ihr bodenlanges Kleid hielt sie gerafft, um nicht über den Saum zu stolpern.
Sie lief mit der Kraft und der Anmut einer ausgereiften Wildkatze. John Stein konnte sie nicht rechtzeitig einholen. Das war sicher. Aber er gab nicht auf.
Nun, vielleicht liebte er diese Frau tatsächlich? Vielleicht war er deswegen ein verdammter Narr?
Sie war gefährlicher als eine Klapperschlange, die man an der eigenen Brust nährte.
Warum wollte sie in ihr Büro? Hatte sie dort eine Waffe versteckt?
Little King lachte lauthals. Ihm imponierte Lilly. Für ihn war das ein grandioses Schauspiel, denn jeder wusste in diesem Augenblick, dass John Stein um sein Leben lief, wenn er schon seinen Colt nicht benutzen wollte.
Sie erreichte ihr Büro, stieß die Tür auf, wirbelte hinein.
John Stein hatte es fast geschafft. Noch ein paar Stufen. Er sah, dass sie zum Schreibtisch lief.
Also doch. Sie riss die Schublade auf, griff hinein.
John Stein war an der Tür. Er hatte den Colt wieder in der Faust.
»Lass!«, herrschte er sie an.
Lilly brachte ihre Hand zum Vorschein. Ein Revolver. Sie hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und hob ihn hoch. Die Mündung zeigte nach unten. Sie ließ ihn fallen. Schwer landete der Revolver in der Schublade.
Lilly ließ die Arme hängen und schob die Schublade mit der Hüfte zu. Ihre Augen glitzerten. Um ihre Mundwinkel spielte ein spöttisches Lächeln.
John Stein hielt seinen Colt unschlüssig in der Hand. Eine wilde Hoffnung entstand in ihm: Vielleicht hatte Lilly ihn hier herlocken wollen, um mit ihm allein zu sein?
Ein Blick in den Schankraum. Der Barkeeper putzte immer noch Gläser. Wahrscheinlich dieselben wie vorhin. Er schaute mit ausdrucksloser Miene herauf.
Great Texas hob die Schrotflinte auf und legte sie auf den Tresen. Sie war leer geschossen. Davon hatte er sich überzeugt.
Der Barkeeper verstaute die Flinte an ihrem Platz.
Great Texas sah kopfschüttelnd zu Boden. Er kicherte vor sich hin wie ein Irrer. Dann blickte er hinauf. Er legte den Kopf schief.
»Du bist verrückt, John Stein, total verrückt. Aber sage ihr, ich würde sie einer Sonderbehandlung unterziehen, falls sie es wirklich schafft, dich umzulegen.«
Little King hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Breitbeinig stand er da. Seine Wangenmuskeln spielten.
John Stein hatte genug. Er betrat das Büro und stieß die Tür zu. Seine wilde Hoffnung. Er wollte sie nicht mehr loslassen, denn er war unfähig, Lilly etwas anzutun. Trotz allem, was geschehen war. Er würde sogar andere daran hindern. Er würde Lilly mit seinem Leben verteidigen.
Er sah zu ihr. »Du hast es gehört?«
Sie antwortete nicht darauf, wartete, bis er seinen Colt wegsteckte und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Warum bist du wirklich gekommen?«, fragte sie mit verkniffener Miene.
»Nur, um Rache zu nehmen, Lilly.«
»Nichts weiter? Rache an Hendriks, an den Bürgern von Greak Town? Du hast eine blutige Stadt daraus machen wollen. Die fünf Jahre waren dir wohl nicht genug? Mit welchem Recht kreuzt du hier auf? Mit welchem Recht beanspruchst du Rache?«
»Mit welchem Recht?«, echote er.
»Ja, was haben dir die Feiglinge denn wirklich getan?«
»Sie haben …«
»Pass auf, John Stein, ich sage es dir im Klartext, und ich rate dir, hör gut zu und vergiss es nicht: Greak Town hat dir zukommen lassen, was du verdient hattest – und davon sogar noch zu wenig. Sie hätten dich besser gleich über den Haufen schießen sollen wie einen räudigen Köter. Dann wäre das heute allen erspart geblieben. John Stein, du hast dich in das Vertrauen der Leute geschlichen, die diese Stadt aus dem Nichts aufgebaut haben. Du hast dich von ihnen zum Sheriff ernennen lassen. Sie haben einen starken Mann haben wollen und bekamen dafür einen Desperado. Eine aufstrebende Stadt, John Stein. Viele Cowboys kamen. Mehr und mehr wurde Greak Town zu einem Umschlagplatz, zu einem Treffpunkt auf dem langen Trail vieler Herdenbosse. So etwas hat auch Nachteile, John Stein. Es gibt Probleme mit betrunkenen Cowboys. Die Stadt wird sehr schnell zu einem Hexenkessel.
Genau das solltest du verhindern. Du solltest der gute Sheriff sein, der stets für Ruhe und Ordnung sorgt. Stattdessen hast du deine Macht rigoros ausgebaut und ein Terrorregime ausgeübt. Wer, das sage mir nun, John Stein, hat denn wirklich ein Recht auf Rache? Sind es nicht die Bürger von Greak Town?«
John Stein schüttelte den Kopf. Er dachte an fünf Jahre in der Hölle. Nur der Hass hatte ihn am Leben gehalten. Fünf verdammte Jahre, die er allein den Menschen von Greak Town verdankte.
Moore Hendriks, der war nur das ausführende Organ gewesen. Hinter allem steckten indessen die sauberen Bürger.
Und Lilly?
Er runzelte die Stirn.
»So lange ich Sheriff war, herrschte Ruhe und Ordnung.« Es klang wie eine Ausrede.
»Ja, John Stein, denn es waren deine Ruhe und deine Ordnung. Du hast Banditen zu Hilfssheriffs gemacht und hattest sie dadurch unter Kontrolle. Und sie wiederum hatten die Stadt unter Kontrolle.«
»Das hatten wir schon«, sagte er ärgerlich. »Ich kenne deine Meinung, Lilly. Wir sollten nicht immer von vorn anfangen. Ich brauche mich nur umzusehen, um zu wissen, dass sich die Stadt während meiner Abwesenheit keineswegs erholt hat. Du stellst mich als einen Bastard von einem Sheriff dar. In Wahrheit ging es in den letzten fünf Jahren eher weiter abwärts denn aufwärts. Scheint, ich habe der Stadt gefehlt, nicht wahr?«
Am Ende der Straße krachten Schüsse.
Lilly deutete mit dem Daumen in diese Richtung. »Ja, Recht und Ordnung kehren mit dir wieder zurück. Herrlich.«
Er betrachtete sie. Ein eigenartiges Gefühl war in ihm.
Sie steigerte sich in ihren Hass gegen John Stein und seine Leute hinein. Sie schleuderte ihm ins Gesicht: »Deine Leute sind wilde Tiere, wahre Bestien, keine Menschen. Sie gehören gejagt und erlegt. Man sollte mit solchem Abschaum kurzen Prozess machen. Ja, wenn ich ein Mann wäre …«
Ihre Augen schienen zu glühen, und da war es John Stein, als könnte er in sie hineinsehen, wie in zwei kleine Fenster, und dort glaubte er etwas zu erkennen, was überhaupt nicht zu ihrer Hasstirade passte.
Wie ernst war es ihr? Musste sie sich in diesen Hass hineinsteigern, um etwas anderes zu verbergen? Ein anderes Gefühl? Ein Gefühl für ihn? Er ging auf sie zu.
Sie schien es nicht zu bemerken, fuhr stattdessen fort: »Fünf Jahre in der Hölle machen einen Teufel nicht zum Engel. Du warst Dreck und kehrst als Dreck zurück.«
»Nur fünf Jahre, Lilly«, sagte er betont. »Fällt dir daran eigentlich überhaupt nichts auf?«
»Du warst schlau genug, die wahre Drecksarbeit immer von anderen erledigen zu lassen. Beispielsweise von Little King, diesem Muskelprotz.«
»Was man mir hat anhängen können, das hat man auch. Am liebsten hätte man mir alle Schandtaten der letzten fünfzig Jahre angehängt. Man hat sich verdammt viel Mühe gegeben, mich fertig zu machen. Aber nun bin ich hier, Lilly. Nach nur fünf Jahren. Mehr war nicht drin. Fünf höllische Jahre für Amtsmissbrauch. Nicht einmal der Vorwurf der Veruntreuung hat sich in allen Punkten schlüssig nachweisen lassen. Dabei gab es genügend Zeugen. Aber sie machten keinen Hehl daraus, dass sie mich zum Teufel wünschten. Das sprach für mich, nicht gegen mich. Sie haben sich in Widersprüche verwickelt. Das einzige, was sie dabei erreichten: andere kriegen für dieselbe Sache nur zwei Jahre. Bei mir waren es fünf. Das absolute Maximum überhaupt, meine Liebe.«
»Weil es nicht nach mir ging«, fauchte sie. »Ich war dafür, dich abzuknallen oder am nächsten Baum aufzuhängen. Die Menschen, an denen du dich rächen willst, haben dir das Leben gerettet. Sie haben dafür gesorgt, dass du vor ein ordentliches Gericht kamst.«
Zum Teufel, so hatte er es noch gar nicht gesehen. Auch Moore Hendriks hätte ihn niederschießen können. Niemand hätte ihn zur Rechenschaft gezogen.
John Stein dachte an den Fremden, dachte daran, dass dieser hinter Moore Hendriks stand.
Und die Bürger von Greak Town?
Damned, er war ganz durcheinander.
»Ich soll verflucht sein, wenn ich der einzige in diesem Raum hier bin, der Dreck am Stecken hat.« Damit machte er sich nun Luft. »Du bist eine Hure, Lilly. Du ziehst den Cowboys, die deinen Laden betreten, das Fell über die Ohren. Sie haben für ihr Geld hart arbeiten müssen, und was bekommen sie dafür?«
»Vergnügen, John Stein. Sie tun es freiwillig und gern.«
»Wie viel hat man dir damals für deinen Verrat an mir gezahlt? Bist du vielleicht besser als ich? Zugegeben, ein Heiliger war ich nie, aber dafür habe ich schließlich fünf Jahre gebüßt. Und was ist mit dir?«
Er hatte sie erreicht, griff nach ihr, riss sie an sich und schaute ihr fest in die brennenden Augen.
Er drückte seine Lippen auf den roten, lockenden Mund. Dabei schmeckte er Lippenstift. John Stein erwartete, dass der Mund für ihn geschlossen blieb, aber er öffnete sich.
Wie eine verdammte Falle , ging es ihm durch den Kopf. Aber sie legte ihre Arme in seinen Nacken und schmiegte sich fest an ihn.
Sie küssten sich. Er hatte die Frau seiner Träume in den Armen. Er dachte an keine Falle mehr. Sein Kopf war leer, und in seinen Adern schien flüssige Lava anstelle von normalem Blut zu rinnen.
Sie erwiderte seinen Kuss, und er spürte deutlich, wie ihr ganzer Körper nach ihm verlangte.
Das raubte ihm den Rest von Widerstand.
Draußen waren Schritte auf der Treppe.
Die beiden fuhren auseinander, wie von einer Tarantel gebissen. Sie sahen sich an, verwirrt, mit glühenden Gesichtern.
»Die einzige Schuld, die geblieben ist«, murmelte er leise. »Ich liebe dich, Lilly.« Er schluckte schwer. »Damned, ich liebe dich, Lilly, und ich möchte, dass du mich nicht länger hasst.«
Sie schüttelte den Kopf, scheinbar immer noch verwirrt. Als könnte sie nicht begreifen, was soeben geschehen war.
Und er dachte, deshalb hat sie dich verraten, John. Sie hat dich verraten, um von dir loszukommen. Sie hat dich verraten, aber sie hat niemals geheuchelt, wenn sie zu dir von Liebe sprach. Aber sie verachtete dich als Desperado und wollte dir deshalb entrinnen.
Es schwindelte ihm.
Da flog die Tür auf.
Little King stand im Türrahmen, breitbeinig, mit drohendem Colt.
Aus schmal zusammengekniffenen Augen musterte er die Szene, die sich ihm darbot. Aber er konnte nichts Verfängliches erkennen. Er steckte den Colt wieder weg.
»Boss, Billy ist unten. Er will zu dir. Der verdammte Kerl ist stockbesoffen. Sie haben anscheinend die Schnapsbrennerei überfallen und alles kaputt geschossen – außer dem, was sie selber gesoffen haben.«
»Was ist mit Kid?«
»Nicht dabei, Boss. Scheint so, als hätten sie ihm die Waffen abgenommen. Billy konnte fliehen.«
»Nimm dich der Sache an, King. Ich habe noch zu verhandeln.«
»Aber, Boss, ich …«
Sein Blick wanderte zu Lilly hinüber. Misstrauen war in diesem Blick.
Lilly hielt ihm stand. Ein geringschätziges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.
»Du musst es selber tun, Boss. Scheint so, als wollten dich die Bürger mit Kid erpressen.«
»Geh nach unten!«, befahl John Stein.
Little King gehorchte zögernd. Er zog sogar die Tür hinter sich ins Schloss.
Lilly legte den Kopf schief und betrachtete ihn. Schon wieder wirkte sie verwirrt.
John Stein drückte ihre linke Schulter und sah sie ernst an. »Hör zu, Lilly. Ich bin gekommen, um Rache zu nehmen, zugegeben, aber ich habe eine andere Stadt vorgefunden. Sie ist nun völlig anders. Ich möchte wissen, was hier los ist. Wieso wirkt die Stadt heruntergekommen?« Er zögerte einen Augenblick. Dann fragte er: »Wer ist dieser Fremde? Er empfing mich im Sheriff-Office. Wer ist es? Was will er von der Stadt?«
Lilly wurde kreidebleich.
»John!«, rief sie erschrocken.
»Wer ist es?«, bohrte er.
»Ich …« Ihre Stimme versagte ihr den Dienst. »Du – du musst hinuntergehen, John, bevor wieder ein Unglück passiert.«
»Ich habe zu keinem davon gesprochen«, John Stein blieb beharrlich. »Du bist die einzige. Lilly, seit ich dich wiedergesehen habe, ist mir vieles klar geworden. Ich meine, was uns beide betrifft. Ich frage mich, ob der Hass größer ist als unsere Liebe. Soll unsere Liebe in diesem Hass ertrinken?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dich noch nie so reden hören, John. Fast poetisch.«
Sie lächelte, aber das war kein Spott.
»Vertrau mir, John, und geh nun hinunter.«
»Mir bleibt nichts anderes übrig, als dir zu vertrauen«, knurrte er und schritt zur Tür. Er öffnete sie.
»Deinen Leuten scheinst du weniger zu vertrauen, nicht wahr?«, fragte sie.
Er wandte kurz den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Ich meine, weil du ihnen nichts von dem Fremden erzählt hast:«
»Vielleicht.«
Er ging hinaus. Auf dem obersten Treppenabsatz blieb er stehen und rief hinunter: »King, du bewachst Lilly. Ihr wird kein Haar gekrümmt, Kapiert?«
»Ja, Boss!« Little King kam herauf. Sie begegneten sich auf halber Höhe. Der Muskelmann beobachtete John Stein. Das spürte dieser ganz deutlich. Aber er tat so, als hätte sich nichts geändert.
War denn wirklich etwas anders geworden?
Ein Geheimnis , hämmerte es in John Steins Schädel. Und er hasste Geheimnisse wie nichts auf der Welt.
Ich werde es herausfinden , schwor er sich. Und dann räume ich auf. Unwillkürlich tastete er nach seinem Colt.
Ja, er hatte schon auf Menschen geschossen, hatte seine Gegner aber immer nur kampfunfähig gemacht und niemals getötet. Obwohl manch einer dieser Hunde es verdient hätte.
Er blieb vor dem zitternden Billy stehen. Natürlich, der musste annehmen, dass er seinetwegen nach der Waffe getastet hatte. Billy wagte es gar nicht, zu ihm aufzusehen.
John hatte ihn stets wie einen jüngeren Bruder behandelt, der halt ein bisschen missraten war. Nun schnellte seine Linke vor und packte Billy am Halstuch.
Billy gurgelte. Er rang nach Luft. Die Augen drohten aus ihren Höhlen zu quellen.
»Spuck’s aus, Gringo: was ist passiert?«
Billy röchelte nur. John Stein lockerte seinen Griff.
»Die Schnapsbrennerei …«, hob der Junge endlich an.
»Wie viel Tote?«
»Keinen, Boss, Ehrenwort.«
»Gut. Ihr habt alles zerschossen und euch volllaufen lassen?«
»Die haben schreiend die Flucht ergriffen«, berichtete Billy. Er grinste böse. »Die konnten wir gar nicht abknallen. So schnell waren die weg. Die Weiber haben gekreischt. He, das war vielleicht ein Spaß.«
»Glaube ich dir aufs Wort.« John ließ Billy ganz aus dem Griff. Er wischte seine Hand am Hemd ab, als hätte er in einen Haufen Kot gegriffen.
Können fünf Jahre Zuchthaus einen Menschen verändern? , dachte er. Ja, wenn er all die verdammten fünf Jahre nur noch für seine Rache gelebt hat – und wenn er anschließend feststellen muss, dass es dafür keinen Grund mehr gibt!
Er knirschte mit den Zähnen, dass Billy erschrocken zusammenzuckte.
»Die kamen dann zurück, Boss. Ich habe sie nicht mehr getroffen. War zu besoffen. Da bin ich abgehauen.«
»Hast deinen Freund im Stich gelassen?«
Tränen rannen plötzlich über Billys Wangen.
John musste sich eisern beherrschen, damit er sich nicht angewidert abwandte.
»Ja, Boss, was sollte ich denn anderes tun? Die hätten mich getötet, ehrlich. Ich musste weg. Aber doch nur, um dir zu berichten, Boss.«
Noch größere Überwindung kostete es John Stein, Billy auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: »Na, dann lass man gut sein.« Er zog die Hand wieder zurück. »Was fordern sie?«
»Wir sollen aus der Stadt verschwinden. Ansonsten ziehen sie Kid die Fingernägel und machen noch andere Sachen mit ihm, ehe sie ihn umbringen.«
Abermals knirschte John Stein mit den Zähnen. Er schaute nach Great Texas. Der lauerte wie ein Kojote auf seine Beute. Nun leckte er blitzschnell seine Lippen. Er erwartete eine spektakuläre Entscheidung von seinem Boss.
Und Great Texas wurde nicht enttäuscht.
»King!«, brüllte John Stein. Der erschien oben in der Tür. »Sperr Lilly ein und komm runter. Du und Texas – ihr gebt mir Feuerschutz. Ihr kennt euch in der Stadt genügend aus.«
»Und und ich?«, stotterte Billy.
»Du bleibst hier. Versager sollten sich aus allem heraushalten, was Männer betrifft.«
»Aber, Boss, ich …«
»Shut up! Und lass die Finger weg von Lilly. Möchte nicht, dass dir dabei was zustößt.«
Billy hob wieder zu einem Einwand an, aber er wagte es dann doch nicht. Schwankend, mit hängenden Schultern, stand er im Schankraum, als John Stein zum Ausgang ging. Steins Colt steckte locker im Holster. Seine Sporen klirrten. Seine Absätze knallten über das blank gescheuerte Holz der Dielen.
So war er früher immer aufgetreten, wenn er Angst und Schrecken verbreitet hatte.
Bisher ging es immer ohne Toten ab , dachte er.
Hinter den harten Gesichtszügen vermutete man alles, nur eines nicht: Angst.
Und die hatte John Stein nun, obwohl er mitten auf die Main Street trat, sie entlangging, in Richtung Schnapsbrennerei. Obwohl er mit keinem Schritt zögerte und so tat, als wäre er unbesiegbar.
Aber die Bürger von Greak Town hatten ihn vor fünf Jahren zum ersten Mal als Verlierer erlebt. Ob sie noch so viel Respekt vor ihm hatten, dass er sich durchsetzen konnte?
Ich muss es tun , dachte er. Es bleibt mir keine Wahl. Wenn ich abziehe, wenn ich die Stadt mit meinen Leuten verlasse, bin ich zum zweiten Mal ein Verlierer, und dann für immer. Außerdem verliere ich die Ergebenheit meiner Leute, denn Wyoming Kid wird es nicht überleben. Das ist sicher. Ich bin hier, um zu kämpfen. Und nur so kann ich erfahren, welches Geheimnis sich in Greak Town verbirgt.
Die Main Street war nicht kerzengerade. Sie machte einen sanften Bogen nach Westen. Damit folgte sie der Form des Tales. Außerhalb der Stadt, rechts und links davon, erhoben sich sanfte Hügel, die in dieser Jahreszeit trocken wie Sanddünen erschienen. Jenseits davon begannen die Berge. Die Rockys wirkten bei klarem Wetter wie greifbar nahe, aber in Wirklichkeit waren es schon noch einige Meilen.
Nur nach Osten hin zeigte sich ein Einschnitt in dem Bergmassiv. Greak Town befand sich in einer halbrunden Nische des Hauptgebirgsmassivs. Als die großen Rinderherden vorbeigetrieben wurden, fanden sie in diesem Halbrund Schutz, und die Herden brauchten niemals direkt durch die Stadt getrieben zu werden. Hierher kamen nur die Herdenbosse, die Treiber und Cowboys.
Auf dem Weg zu den großen Bahnhöfen weiter im Osten war das kein Geschäft für die Stadt, aber dann, wenn die Cowboys zurückkamen. Dann war in Greak Town die Hölle los. Das im wahrsten Sinne des Wortes. Jeder in der Stadt profitierte davon. Auch der Sheriff, der dafür sorgte, dass die Ordnung niemals zusammenbrach.
Es war die Ordnung von John Stein gewesen.
Als er die Stadt unfreiwillig verlassen hatte, war hier etwas geschehen, worüber niemand sprechen wollte.
John Stein kam um die sanfte Biegung der Main Street und hatte offene Straße vor sich. Bis zum Ortsrand konnte er sehen. Die Nachmittagssonne warf Schatten auf die überdachten Stege vor den Häusern. John Stein war leicht geblendet, obwohl er die Augen zusammenkniff.
Trotzdem konnte er eine rasche Bewegung links von sich wahrnehmen.
Seine Hand flog zum Colt. Sein Körper vollführte eine halbe Drehung und wechselte gleichzeitig die Stellung. Sekundenbruchteile bevor der Schuss die Stille zerfetzte, sirrte die Kugel knapp an John Stein vorbei.
Auch der ehemalige Sheriff schoss nun. Seine Kugel traf besser. Sie erwischte den Heckenschützen am Oberarm. Der Mann ließ mit einem gellenden Aufschrei seine Waffe fallen und griff nach der Wunde.
John Stein lief mit langen Schritten hinüber, packte den Verletzten und zerrte ihn unter der Haltestange hindurch auf die Straße. Mit nur einer Hand schaffte er das. Er schleifte den Verletzten, der nur noch wilder schrie, bis zur Straßenmitte und ließ ihn dort los.
Da lag der Mann nun. John Stein musterte ihn knapp. Er kannte den Burschen. Fünf Jahre hatten aus einem Jungen einen Mann gemacht. Aber dieser Mann hatte sich gegenüber John Stein zu viel zugemutet.
John Stein ließ ihn liegen und ging weiter, mit wachen Sinnen, den Colt weggesteckt, aber die Hand immer am Griff. Er war bereit, den Kampf aufzunehmen. Sein Krieg konnte beginnen.
»Meinetwegen gegen die ganze Stadt«, knurrte er. Er spuckte in den Straßenraub. Da vorn war die Schnapsbrennerei. Das Geschäft war nur zur Hälfte legal. Das hatte sich also nicht geändert. John Stein hatte es geduldet, aber er hatte für diese Duldung auch kräftig kassiert.
»Und auch Lilly, mit ihrem verrufenen Saloon, hat ihren Vorteil davon gehabt«, murmelte er vor sich hin.
Seinen Augen entging nichts. Auch nicht der Mann auf dem Dach.
Der Heckenschütze bewegte sich nicht, verschmolz regelrecht mit dem Dach. Der Lauf seines Gewehres war auf die Straße gerichtet. Bald würde John Stein sich ganz von selbst in die Schusslinie begeben.
John Stein zog den Colt und richtete ihn nach oben.
Der Gewehrschütze zuckte erschrocken zusammen. Er zögerte sekundenlang. Dann entschied er sich für die Kapitulation und warf sein Gewehr auf die Straße.
Es war einer der alten Vorderlader. Damit konnte man keinen präzisen Schuss abgeben, aber auf die geringe Distanz wäre John Stein schwerlich mit dem Leben davongekommen.
Der Mann auf dem Dach zeigte ihm die leeren Hände. John Stein konnte passieren.
Sein privater Krieg. Er schoss nur, wenn es sein musste. Jede Kugel in Reserve war wichtig und konnte ihm das Leben retten.
Er beobachtete weiter. Noch fünfzig Yards bis zur Brennerei. Vorn war der Verkaufsraum, klein und unscheinbar. Es durften nur geringe Mengen an Schnaps abgegeben werden. Das war Gesetz. Aber jeder Besitzer eines Stores wollte natürlich so viel verkaufen wie möglich. Deshalb wurde in der Brennerei mindestens fünfmal so viel gebrannt, wie es gesetzlich Käufer gab.
Das war die eine Hälfte der Illegalität.
Außerdem war der Schnaps meistens von schlechter Qualität. Da wurde weder der Vorlauf noch der Nachlauf weggeschüttet.
Und das nannte sich dann Whisky. Es war die einzige Kleinbrennerei in diesem Teil der Staaten, die John Stein kannte. Die anderen Brennereien waren größer und wurden direkt überwacht.
Ein Sonderprivileg also in Greak Town, gestärkt und gefördert durch die durchziehenden Trailer.
Und gefördert von allen, die ihren Nutzen daraus hatten.
Und weil John Stein im Nehmen von Geld niemals kleinlich gewesen war, hatte er in dem Brennereibesitzer trotz der Duldung einen Todfeind. Damals und heute.
Ein paar Fensterscheiben fehlten, und dahinter, in den dunklen Fensterhöhlen, duckten sich Gestalten.
Eine legte mit dem Gewehr an.
John Stein schoss schneller. Diesmal direkt aus der Hüfte, die Waffe kaum vom Holster entfernt.
Die Kugel sirrte in das Fenster und traf irgendwo.
Der Gewehrschütze vergaß vor Schreck zu zielen. Sein Schuss fauchte in den Himmel.
John Stein ging weiter wie ein Uhrwerk. Seine Stiefel wirbelten kleine Staubfahnen hoch. Seine Augen waren so kalt wie Bergseen. Er wich keinen Zoll vom Kurs ab. Er schritt unbeirrt auf den Verkaufsraum mit den kleinen Schaufenstern zu … Gebrannt wurde im rückwärtigen Schuppen. Wenn man eine gute Nase hatte, roch man es.
Noch einer, der es wagte, seinen Kopf zu zeigen.
Der Colt von John Stein bellte auf und fegte dem allzu Mutigen den Hut vom Kopf.
Keiner der Männer im Innern des Hauses wagte mehr zu schießen, wie es schien. Sie hatten Angst vor dem Mann, der zu ihnen kam. Sie fürchteten seine Rache, falls sie ihn nicht mit einer einzigen Kugel tödlich trafen. Jeder glaubte, dass John Stein auch noch schoss, wenn ein normaler Mensch eigentlich schon hätte tot sein müssen. Daran änderte auch seine Niederlage vor fünf Jahren nichts.
Und doch wagte es nun einer: im ersten Stock des Gebäudes.
Das Fenster stand offen. Der sanfte Wind spielte mit den Gardinen. Der Mann stand im Innern des Raumes. Fast wäre er den Blicken von John Stein entgangen.
Der Mann hatte ebenfalls ein Gewehr, mit dem er auf John Stein anlegte.
John Stein wartete buchstäblich bis zur letzten Sekunde, ehe er schoss. Er traf den Heckenschützen in die Schulter. Der Mann wurde halb herumgerissen. Die Kugel war gegen das Schultergelenk geprallt. Eine böse Verletzung. Der Mann konnte vor Schmerz die Mordwaffe nicht mehr halten und ließ sie fallen. Er versuchte, gegen den Schmerz anzukämpfen. John Stein sah, wie er rang. Er versuchte sogar, den Colt aus dem Holster zu ziehen, mit der linken Hand.
Und obwohl die linke Schulter unverletzt war, schaffte er es nicht mehr.
Ein gurgelnder Laut kam über seine Lippen. Er fiel auf die Knie, vor Schmerz halb ohnmächtig, und geriet somit aus dem Blickfeld von John Stein.
Aus den geborstenen Schaufenstern wurden Waffen geworfen. Die Kapitulation der vorderen Verteidigungsfront.
Aber John Stein sah keinen Grund, nun schon zu frohlocken.
Er trat die Tür ein. Sie fetzte aus dem Rahmen. Er ging einfach in den Verkaufsraum und betrachtete die drei wimmernden Waschlappen aus mitleidlosen Augen, die sich zu seinen Füßen wanden. Sie bettelten um ihr Leben.
»Wo ist Wyoming Kid?«, herrschte John Stein sie an. Seine barsche Stimme ließ sie sich noch tiefer hinabducken.
John Stein verachtete sie, aber er fürchtete sie nicht. Obwohl sie noch Waffen hatten. Er fand es nicht einmal für notwendig, ihnen die Waffen abzunehmen.
Er steckte den Colt in das Holster und wartete auf die Antwort.
Sie sagten nichts.
Er trat dem Vorderen gegen die Schulter, dass dieser rückwärts gegen die Wand flog. Der Mann schrie auf, als hätte John Stein einen Krüppel aus ihm gemacht. Aber es war nur die Angst.
John Stein wusste: Nun habe ich wieder die Macht. Sie haben nicht vergessen, dass ich stets stärker war, obwohl sie meine einzige Niederlage erlebten.
Aber es war nicht die Niederlage gegenüber ihnen gewesen, sondern die Niederlage gegen einen anderen.
»Im Schuppen«, sagte einer der anderen beiden nun. Seine Stimme zitterte. Er hatte die beiden Worte kaum über die Lippen gebracht.
John Stein durchquerte den Verkaufsraum, in dem es bestialisch nach billigem Whisky stank. Kein Wunder. Billy und Wyoming Kid hatten einige Flaschen zerschossen. Der billige Inhalt hatte die derben Bodenbretter getränkt.
John Stein trat den Hinterausgang auf. Es waren nur wenige Schritte bis zum Schuppen. Die Schuppentür stand offen. John Stein sah im Halbdunkel den glänzenden Kupferkessel und die zum Teil geborstenen Glasröhrchen der Destillation.
Unbeirrbar ging John Stein weiter. Anscheinend ließ er sämtliche Vorsichtsmaßregeln außer acht.
»Halt!«, brüllte jemand aus dem Innern des Schuppens. John Stein sah ihn nicht, aber er kannte die Stimme: es war der Brennereibesitzer selbst. »Noch einen Schritt, und Wyoming Kid stirbt!«
John Stein ließ sich nicht beirren.
»Tu, was er sagt!«, schrie Wyoming Kid gellend.
John Stein ging auf die offene Tür zu, obwohl sie aussah wie eine Falle. Er wusste genau, dass Waffen auf die offene Tür gerichtet waren. Sie würden in dem Augenblick losdonnern, wenn er den Schuppen betrat.
Aber er ging weiter.
Es waren nur Sekundenbruchteile, die ihn noch vom Eintreten trennten. Der nächste Schritt brachte ihn in die Schusslinie.
Wyoming Kid schrie wie am Spieß. Niemand sah John Stein. Sie alle hörten ihn nur kommen, und sie konnten sich nicht vorstellen, dass der letzte Schritt ausbleiben sollte.
Doch er blieb aus.
Dafür bellten mehrere Waffen los. Ein wahrer Kugelhagel fauchte aus der offenen Tür ins Freie, verfehlte John Stein nur knapp.
Und dann sprang John Stein hinein in das Halbdunkel. Er hatte es genau berechnet. Kaum berührten seine Füße den Boden, als er herumwirbelte, mit gezogenem Colt.
In dem Sekundenbruchteil, ehe er sich fallen ließ und am Boden abrollte, sah er den Brennereibesitzer mit dem Revolver an der Schläfe von Wyoming Kid. Wenn er ihm in den Arm schoss oder gar versuchte, mit einem gezielten Schuss die Waffe wegzuprellen, konnte das den Tod von Kid bedeuten. Aus der Bewegung heraus einen solch präzisen Schuss zu wagen, konnte wahrlich ins Auge gehen.
John Stein wagte es nicht. Er schoss den an, der am schnellsten reagierte: ein älterer Angestellter der Brennerei, mit einem Colt bewaffnet, dessen Lauf der Bewegung von John Stein folgte.
John traf die Waffe des Schützen.
Dann war der Augenblick vorbei. John Stein rollte über die Schulter ab. Seine Füße krachten in das Gewirr der größtenteils bereits beschädigten Destillationsröhrchen. Ein Risiko, das er eingehen musste, auch wenn er sich die Beine zerschnitt.
Aber er hatte Glück. Mit ohrenbetäubendem Krachen zersplitterten die Röhrchen. John Stein kam in Deckung des dickbauchigen Kupferkessels federnd auf die Beine.
Nun war er nur noch durch einen gefährdet, der auf der anderen Seite des Eingangs lauerte und gerade auf ihn anlegte. Mit einem Gewehr. Eine denkbar ungeeignete Waffe auf solch kurze Distanz, weil der Lauf viel zu lang war.
John Stein schoss und traf den Mann unter der rechten Achsel. Das Gewehr entlud sich ebenfalls. Der Schuss heulte an John Stein vorbei und knallte in die Wandverkleidung hinter ihm.
Ganz am Rande registrierte John Stein, dass der Brennereibesitzer es nicht gewagt hatte, Wyoming Kid zu töten. Er hatte zu viel Angst vor der Rache.
»Weg mit der Waffe«, sagte John Stein mit eisiger Stimme, und der Brennereibesitzer gehorchte. Er stieß Wyoming Kid von sich. Kid wimmerte leise. Die Nerven gingen ihm durch. Er hatte gewiss schon mit seinem Leben abgeschlossen.
John Stein kam aus seiner Deckung und richtete die Waffe auf den Brennereibesitzer und den unverletzten Jungen neben ihm.
Der Junge hatte keine Angst vor ihm, seltsam. Aber er hatte die Waffe sinken lassen, auf ein Zeichen des Brennereibesitzers hin.
John Stein betrachtete den Jungen stirnrunzelnd. Fünf Jahre. Ja, er kannte den Jungen. In diesen fünf Jahren hatte er sich verändert. Das war der Sohn des Brennereibesitzers, ein stiller, verträumter Bursche, so ganz anders als sein Vater. Aber nun schien er sich angepasst zu haben.
Auch wenn er wesentlich mutiger als sein Vater erschien.
Der Junge spuckte zu Boden. »Ich hätte den Kojoten abgeknallt.«
»Ist Wyoming Kid einen Selbstmord wert?«, fragte ihn John Stein.
Der Junge schmiss die Waffe in die Ecke und verschränkte die Arme über den Knien. Er zog die Beine noch ein wenig an, kauerte so am Boden und stierte trotzig vor sich hin.
John Stein zögerte. Er schaute nach Wyoming Kid, der sich allmählich beruhigte. Nun richtete Kid seinen Blick auf den Brennereibesitzer. Hass sprach aus diesem Blick.
Die steile Falte auf der Stirn von John Stein blieb. Er schaute nach dem Sohn des Brennereibesitzers. Der Junge war völlig ruhig. Als würde er kein Gefühl kennen. Und warum hatte er dann kapituliert?
John Stein stieß ihn mit dem Fuß an. Der Junge hob den Kopf.
Das Gesicht eines vielleicht Zwanzigjährigen, aber die Augen eines reifen Erwachsenen. John Stein hatte noch nie so wissende Augen gesehen bei einem Zwanzigjährigen. Was ging in dem Burschen vor?
John Stein erinnerte sich an den Namen: Fred Bannister.
Fred grinste ihn frech an. Die Augen blieben kalt und regungslos.
»Du bist mutig, nicht wahr?«
»Sie töten nicht, John Stein. Nur wenn es nicht anders geht«, sagte Fred Bannister ruhig.
»Du bist deiner Sache sicher?«
»Man hört so einiges.«
»Was denn noch?«
»Sie sind gekommen, um sich zu rächen. Ihre Leute haben schon damit angefangen, wie man sieht.«
»Sei still!«, zischte der Brennereibesitzer.
Der Junge achtete überhaupt nicht auf ihn.
»Ihr wisst euch zu wehren«, entgegnete Stein. »Ihr hättet ihn beinahe getötet.«
Fred Bannister zuckte mit den Achseln und starrte wieder zu Boden.
Nun wusste John Stein, was das für Augen waren: die Augen eines Menschen, der über Leichen ging. Die Augen eines Menschen, der genau wusste, was er wollte – schon mit zwanzig Jahren. Ein Junge, der niemals verträumt gewesen war, sondern nur so gewirkt hatte. Ein Junge, der still gelernt hatte, was er für seinen Lebensweg brauchte. Und dieser Lebensweg war vorgezeichnet: jeden Vorteil für sich selbst. Jeden Nachteil für die anderen.
Als Mann würde er Karriere machen, und er war schlau genug, dabei nie auf die falsche Seite des Gesetzes zu gelangen.
Hatte er deshalb nicht versucht, John Stein zu töten?
John Stein war für einen Moment verwirrt. Er wandte sich um und ging zur offenen Tür.
Da blieb er stehen und machte auf dem Absatz kehrt.
Der Junge hatte ihn verschont. Das war klar. Er war kein Jammerlappen, hatte keine Angst vor dem Colt von John Stein. Er hätte geschossen, wäre es für ihn von Vorteil gewesen.
Johns Herz schlug kräftig. Ihm wurde heiß. Ein Verdacht keimte in ihm auf.
Aber das war doch nicht möglich?
Er hatte den Verdacht, dass ihm der Sieg eigentlich zu leicht gefallen war. Er hatte diesen Sieg einfach erringen müssen. Oder alles wäre sinnlos gewesen. Es gab nur zwei Möglichkeiten für ihn: siegen oder sterben. Ja, er hätte gesiegt, aber Fred Bannister, dieser Zwanzigjährige, der ihm nun eine dicke Gänsehaut auf dem Rücken bescherte, hätte es verhindern können. Er hätte darin nur einen Sinn zu sehen brauchen.
Es gab nur noch einen Gedanken, der John Stein von seinem Verdacht abbringen wollte: Vielleicht war der Junge ein schlechter Schütze?
Nein , entschied er, denn dann wäre er nicht hier gewesen. Der Junge hatte mit der Waffe in der Faust hier gelauert. Aber nicht, um John Stein zu töten.
John Stein musste das zuerst verarbeiten. Er konnte nicht länger darüber nachdenken. Fred Bannister war sein Todfeind. Das war sicher. Und nun war für John Stein auch sicher, dass man seinen Sieg einkalkuliert hatte.
Selbst die Opfer, die John Stein auf seinem Weg hierher angeschossen hatte, waren einkalkuliert gewesen.
Von wem?
Von dem Brennereibesitzer William Bannister und seinem Sohn?
Aber wieso?
Das war die Frage, die offen blieb, und sie bewirkte, dass John Stein sich wieder fing. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Er musste ganz der Mann sein, der einen großen Sieg über seine Gegner errungen hatte.
»Komm«, befahl er Wyoming Kid barsch, »und bring die beiden Bannisters mit. Wir haben noch Platz in den Zellen. Freiheitsberaubung, Bedrohung von Leib und Leben eines unbescholtenen Bürgers und so weiter.«
Grinsend holte sich Wyoming Kid seine Waffe zurück und befahl den beiden Bannisters, mit erhobenen Armen vor ihm her die Scheune zu verlassen.
Draußen tauchten Great Texas und Little King auf, wie aus dem Boden gewachsen.
John Stein wusste, dass sie die ganze Zeit hinter ihm gewesen waren. Sie hätten eingegriffen, wäre er der Situation nicht gewachsen gewesen.
Aber die hatten nicht eingreifen müssen.
Es brachte ihn zu seinem Verdacht zurück. Es musste irgendwie mit dem Geheimnis der Stadt und jenem Fremden zusammenhängen. John Stein hatte das Gefühl, als wäre er der Lösung schon sehr nahe. Es musste eine ganz simple Lösung sein, und irgendwie hatte man ihn auserkoren, eine Hauptrolle in diesem Spiel zu spielen. Ob er nun wollte oder nicht.
Dabei kannte er nicht einmal die Spielregeln.
Billy hörte die Schüsse und wusste: der Kampf war im Gange. Nun fühlte sich Billy allein und ungestört.
Ungestört mit Lilly.
Billy hatte nur auf diesen Augenblick gewartet. Es interessierte ihn nicht mehr, was aus Wyoming Kid wurde, oder ob sein Boss John Stein seine Schlacht gewann. Das vom Alkohol halb umnebelte Gehirn kannte nur noch ein einziges Ziel: Lilly.
Er zog den Revolver und stieg langsam die Treppe hinauf. Sie musste ihn kommen hören. Und sie musste auch wissen, dass sie ihm ausgeliefert war, diesem gut aussehenden jungen Mann mit dem Gesicht, das junge Mädchen verrückt machte. Sie wusste, dass dies alles nur eine schöne Maske war. Dahinter verbarg sich der Abschaum, das Böse.
Sie rührte sich nicht. Sie lauschte auf die Schritte auf der Treppe und glaubte sogar, den keuchenden, gierigen Atem zu hören.
Lilly blieb ruhig, während Billy mit brennenden Augen und drohendem Revolver emporstieg.
Er konnte es kaum erwarten, aber er zügelte noch seine bestialische Gier, kostete jede Sekunde aus.
Lilly war die Frau, die ihn herausforderte, allein schon mit ihrer Stärke.
Es war für ihn völlig bedeutungslos, dass John Stein an ihr Interesse hatte oder John Stein ihn vor ihr gewarnt hatte.
Lächerlich! Er sollte sich vor einer Frau in Acht nehmen?
Er legte es natürlich so aus, dass John Stein es eigentlich umgekehrt gemeint hatte.
Billy lachte heiser, als er kurz daran dachte: Im Nachhinein würde sich rasch eine gute Ausrede finden. Hatte Lilly halt eben versucht auszureißen oder so.
Er erreichte die Tür zum Büro. Sie war von außen abgeschlossen. Das hatte Little King getan.
Billy drehte den Schlüssel herum. Seine Revolverhand zitterte leicht. Aber nur für eine Sekunde, dann war sie wieder ruhig wie vorher.
Er stieß die Tür auf, stand breitbeinig im Türrahmen, wie der Teufel in Person, der gekommen war, um Rache zu nehmen.
Lilly saß hinter ihrem Schreibtisch. Sie wirkte ganz ruhig. Nun spielte sogar ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel. Sie zeigte keine Angst.
Das irritierte Billy.
Er knirschte mit den Zähnen und bedrohte Lilly mit dem Revolver.
»Aufstehen!«, herrschte er sie an. Lilly blieb sitzen.
»Aufstehen – und Kleider runter!«
Lilly lachte leise. Sie beobachtete, wie sich sein Zeigefinger um den Abzug krümmte.
»Du bist ein dreckiger, verkommener Bandit, Billy, aber als Leiche bin ich wertlos für dich, stimmt’s?«
Die Bewegung stoppte. Er hatte sie nur bluffen wollen, und nun kam er näher. Seine Stiefel knallten auf dem Holzfußboden. Der Revolver schwankte hin und her. Billy war unschlüssig.
Vor dem Schreibtisch blieb er stehen. Die Mündung der Waffe zeigte auf die Schreibtischplatte.
Nun grinste Billy. Es war ein gemeines Grinsen, vor dem Lilly eigentlich sich hätte ducken müssen. Aber sie lachte nur wieder auf.
»Ein verkommener, verlauster Bastard, der sich in Anwesenheit von Damen schlecht benimmt, nicht wahr, Billy?«
Er grinste breiter, steckte den Revolver in das Holster. Beide Daumen hakte er hinter das Koppelschloss. Er zögerte eine Sekunde, dann öffnete er das Schloss. Mit einer entschlossenen Bewegung warf er Koppel und Holster mitsamt der Waffe in die Ecke.
Nun war Billy unbewaffnet. Aber er fühlte sich dennoch überlegen. Schließlich war sie »nur« eine Frau.
Ihr Lächeln wirkte herausfordernd. Billy konnte das nicht begreifen. Aber er überlegte nicht mehr lange. Gier brannte in seinen Augen, als er den Schreibtisch umrundete und nach Lilly griff.
Sie wich nicht aus. Sie ließ sich brutal an den Armen packen und aus dem Sessel zerren.
Er presste sie an sich. Sie spürte seinen Atem, seine widerliche Gier, dass sie sich beinahe hätte übergeben müssen. Aber Lilly blieb äußerlich kühl.
Er versuchte sie zu küssen.
Erst da riss sie sich los. Mit einem einzigen Ruck gelang ihr das. Sie sprang einen Schritt zurück.
Er hielt verblüfft inne. Diese Kraft hätte er ihr nicht zugetraut.
Entschlossenheit war in ihrem Gesicht. Das hätte Billy warnen müssen, aber er sah es gar nicht. Sein Blick war verschleiert, als hätte sich ein blutiger Nebel über seine Augen gelegt. Er wollte wieder nach Lilly greifen.
Aber Lilly war eine Westfrau. Sie war in einer rauen Zeit, in einer rauen Welt, aufgewachsen. Eine Welt, in der weder Milch noch Honig flössen, dafür aber reichlich Blut und Tränen.
Das hatte sie hart gemacht – härter als manchen Mann.
Sie hatte diesen Saloon hier aufgemacht. Sie war der Boss. Ein Boss, wie es ihn westlich von Kansas nicht schöner gab. Ohne ihre Härte, ihren Mut und ihre Kraft hätte sie das nicht geschafft. Sie wäre längst den harten Kerlen zum Opfer gefallen, die in ihrem Saloon jahrelang ein und aus gingen.
Etwas, was Billy in seiner Brutalität und Gier nicht bedachte.
Und genau das wurde ihm zum Verhängnis.
Billy war stets wie ein Sohn von John Stein behandelt worden. Wahrscheinlich wusste John Stein überhaupt nicht, was er in Wirklichkeit für ein Kerl war. Vielleicht hätte John Stein frühzeitig zur Besinnung kommen müssen. Er hätte sich von Billy sogar trennen müssen.
Lilly ließ den Unhold kommen. Sie wartete, bis er nahe genug heran war. Bis dahin bewegte sie sich überhaupt nicht.
Dann verschränkte sie plötzlich die Hände ineinander und riss die Arme hoch.
Gerade hatte der Unhold zupacken wollen. Lilly sprengte seine Arme auseinander, riss ihr Knie hoch, schmetterte die ineinander verkrallten Hände auf die Nasenwurzel des Angreifers, ließ die Arme sinken und stieß ihm ihr Knie mit voller Wucht in den Bauch.
Aber damit nicht genug: Lilly drehte sich, um Schwung zu nehmen. Mit voller Wucht traf sie ihn in die Seite.
Lilly war keine verweichlichte Frau, wie es sie im Osten gab. Lilly wusste sich und ihr Leben zu verteidigen.
Sie bewegte sich mit der Schnelligkeit und Eleganz einer Raubkatze. Dem war Billy nicht gewachsen.
Er taumelte gegen das Fenster. Beinahe platzte die Scheibe. Er wäre fast hinausgestürzt.
Lilly wollte an ihm vorbei zum Revolver, der am Boden lag.
Aber da begann auch Billy, sich zu verteidigen.
Für einen Sekundenbruchteil hatte Lilly nicht aufgepasst. Dies nutzte Billy, obwohl ihn der Schmerz halb blind machte.
Er gab Lilly einen Stoß und sprang an ihr vorbei. Er hechtete zu seiner Waffe, erreichte sie mit ausgestreckten Händen und auf dem Bauch liegend, riss sie aus dem Holster und wirbelte herum.
Er wollte schießen. Er wollte Lilly töten.
Lilly tat nichts, um ihn daran zu hindern. Jedenfalls sah es so aus. Sie stand am Schreibtisch, war Billy nicht gefolgt, um mit ihm um den Colt zu kämpfen.
Was der Unhold jedoch als einen Fehler betrachtete, stellte sich sehr schnell als tödliche Gefahr für ihn heraus, denn Lilly hatte die Schublade ihres Schreibtisches halb geöffnet und hob nun die Waffe hoch, die sie darin versteckt hielt.
Lilly hatte das Äußerste vermeiden wollen. Sie hatte Billy nicht töten wollen. Aber nun blieb ihr nichts anderes übrig. Sie handelte in Notwehr, denn Billy stand die blanke Mordlust ins Gesicht geschrieben. Er wollte sie töten, und dem musste sie vorbeugen.
Ihre Waffe bellte auf. Ein Laut, der die Ohren singen ließ.
Billy wurde von der Kugel in der Brust getroffen.
Auch aus seiner Waffe löste sich ein Schuss. Die Kugel stanzte ein rundes Loch in die holzvertäfelte Decke.
Dann konnte Billy die Waffe nicht mehr halten. Seine schlaff werdende Hand öffnete sich. Die Waffe polterte zu Boden.
Mit ungläubigem Gesichtsausdruck sank der Unhold zurück.
Lilly starrte auf den Rauch, der aus der Mündung ihres Revolvers emporkringelte.
Sie hatte es nicht gewollt, aber sie hatte getötet.
»John, verzeih mir, aber mir blieb wirklich keine andere Wahl«, sagte sie leise und ließ die Hand mit der Waffe sinken. Sie legte den Revolver in die Schublade zurück, als wäre er ihr plötzlich zu heiß geworden.
John Stein befand sich schon auf dem Weg zurück zum Saloon, als er den Schuss hörte. Er ahnte, dass etwas Schlimmes passiert war und rannte los. Auf Wyoming Kid, Little King und Great Texas achtete er nicht mehr. Auch nicht darauf, ob sie mit den Bannisters und deren Leuten klarkamen.
Er stieß die beiden Schwenkflügel am Eingang auf und lief in den Schankraum.
Niemand war zu sehen. Der Barkeeper war schon weg gewesen, als Little King John Stein gerufen hatte.
Ein Blick hinauf.
Die Tür zum Büro von Lilly war nur angelehnt.
John Stein rannte nach oben. Unterwegs zog er den Revolver.
Als er die Tür erreichte, stieß er sie auf und ging gleichzeitig hinter dem Türpfosten in Deckung.
Nichts geschah. Kein Schuss, kein Laut. Als wäre der Raum leer. Und doch war John Stein sicher, dass er den Schuss von hier gehört hatte.
Er tauchte zögernd aus der Deckung auf und schaute in den Raum.
Sein Blick fiel auf Lilly. Sie stand hinter dem Schreibtisch und sah ihm entgegen. Eine Hand hatte sie in der Schublade.
John Stein sicherte automatisch nach allen Seiten, als er den Raum betrat.
Und da sah er den Leichnam von Billy. In verkrümmter Haltung lag er in seinem Blut. Die Augen starrten tot und staunend zur Decke.
John Stein hatte das Gefühl, es schnüre ihm jemand die Kehle zu. Unwillkürlich hatte er die Waffe sinken lassen. Als er nun wieder in die Richtung von Lilly blickte, zog diese die Hand aus der Schublade. Ihre Hand hielt die Mordwaffe, und die Mündung war auf John Stein gerichtet.
Lillys geschminktes Gesicht war völlig unbewegt, wirkte wie eine Maske.
Nur ihre Nasenflügel begannen nun leise zu beben. Sekundenlang bedrohte sie John Stein mit der Mordwaffe, aber dann senkte sie ihren Blick und legte den Colt mitten auf den Schreibtisch. Die Mündung zeigte auf das Fenster.
»Was ist passiert?«, fragte John Stein brüchig. Er kam einen Schritt näher, blieb wieder stehen.
Lilly zuckte mit den Achseln und hob den Blick wieder zu ihm auf.
»Er wollte mich vergewaltigen. Ich wehrte mich. Dann wollte er mich töten, da schoss ich zuerst.«
John Stein schüttelte den Kopf. Er dachte an die Warnung, ehe er das Haus verlassen hatte.
Nun war Billy tot.
Kurz lauschte er hinaus. Lärm auf der Straße. Die Bannisters ließen sich nicht so einfach abführen, aber das bekam ihnen nicht.
Im Moment jedenfalls würden John Stein und Lilly nicht gestört werden.
»Es war eine Falle«, sagte John.
»Falle?«
»Die Bannisters hatten Wyoming Kid. Ich habe ihn befreit, aber diese Befreiung war einkalkuliert gewesen.«
Ihre Augen weiteten sich erstaunt.
»Du bist verrückt.«
»Nein, Lilly, ich weiß, wovon ich rede. Man hat es darauf angelegt, mich einen Kampf gewinnen zu lassen. Ich habe ihn auch prompt gewonnen. Noch spektakulärer ging es nicht. Nun zittert die Stadt wieder mal vor dem großen John Stein.«
»Aber warum sollten die Bannisters das tun?«
»Das wollte ich eigentlich dich fragen, Lilly.«
»Mich?«
»Fünf Jahre sind vergangen. Was passierte in diesen fünf Jahren?«
»Die Rinderherden kommen nicht mehr«, antwortete sie knapp. »Die Stadt lebt praktisch nur noch von den Ranchern und Farmern der Umgebung.«
»Seit ich weg war?«
»Ja, John, das fiel tatsächlich zusammen. Zunächst allerdings sah es nicht danach aus. Die Stadt war zufrieden. Man feierte deine Niederlage. Moore Hendriks war der absolute Held. Alles begann wieder in normalen Bahnen zu verlaufen. Hendriks meisterte seine Aufgabe als Sheriff großartig. Nur führte er verschiedene Dinge ein, die du abgeschafft hattest.«
»Zum Beispiel?«
»Die rauen Cowboys aus dem Süden durften wieder in der Stadt Waffen tragen. Es wurde von den Bannisters mehr Whisky hergestellt, als für die Stadt gut war. Die Cowboys brachten sich gegenseitig um. Die ersten Treiberbosse begannen, die Stadt zu meiden.«
»Und Hendriks?«
»Der sorgte dafür, dass die Bürger der Stadt nicht direkt gefährdet waren. Er sagte offen, dass es ihm egal sei, wie viele Cowboys in Greak Town ins Gras beißen. Für ihn waren das Fremde, für die er sich nicht verantwortlich fühlte.«
»Und die Bürger? Vor allem: Was tat der Bürgermeister?«
»Die waren schwach wie eh und je, John. Sie haben sich unter dir geduckt und duckten sich nun unter Moore Hendriks. Auch als am Ende keine Cowboys mehr kamen und die Stadt mehr und mehr verkam. Die Bürger mussten ihre Gürtel enger schnallen und nahmen es hin. Weil sie es nicht anders gewohnt waren. Du hattest sie nachhaltig zur Unterwürfigkeit erzogen. Hier regierte der Colt von Moore Hendriks.«
»Aber er verfiel dem Alkohol«, wandte John Stein ein.
Lilly wich seinem Blick aus.
»Es kamen andere.«
»Andere?«
»Ja, Fremde. Mexikaner, Männer aus dem Osten und Männer aus dem Norden. Sie kamen und gingen. Manchmal fiel in der Nacht ein einsamer Schuss. Dann sahen wir am Morgen, wie Moore Hendriks mit seinen beiden Hilfssheriffs draußen vor der Stadt einen Leichnam begrub. Wie man einen Tierkadaver verbuddelt.«
Sie sah John Stein wieder an.
»Die Fremden wohnten unter meinem Dach, John Stein. Sie redeten nicht viel – es sei denn miteinander. Sie mieteten das Nebenzimmer und wollten nicht gestört werden. Sie ließen sich vom Leibwächter bewachen. Aber manchmal kam es vor, dass ich einen der Gäste tot in seinem Bett fand. Erschossen war keiner von ihnen. Sie waren entweder erstochen oder erwürgt worden. Moore Hendriks kam mit seinen Hilfssheriffs und transportierte die Leichen nach außerhalb der Stadt, um sie dort wie die anderen zu vergraben.«
John Stein spürte einen leichten Schwindel, als hätte er zu viel getrunken. Er schloss die Augen. Was er soeben gehört hatte, war völlig unbegreiflich.
»Was ging hier vor?«
»Ich habe es dir erzählt. Du wolltest es wissen.«
Er öffnete die Augen wieder. »Und niemand hat etwas dagegen unternommen?«
»Doch, John Stein – ich. Ich schickte mehrmals Abordnungen zum Gouverneur, einmal sogar nach Washington.«
»Und?«
»Diese Abordnungen blieben unterwegs verschollen, obwohl ich alles natürlich heimlich getan habe.«
John Stein ballte die linke Hand zur Faust. »Du meinst, sie wurden unterwegs abgefangen und getötet?«
»Ja, John Stein, das meine ich.«
»Aber warum habt ihr denn nichts direkt gegen Moore Hendriks unternommen? Er war ein Trunkenbold mit zwei Hilfssheriffs. Mehr nicht.«
»Du verstehst offenbar nicht, was ich sage, John Stein. Die Fremden, die hier ein und aus gingen, waren die Herren von Greak Town. Keineswegs verwilderte Burschen, sondern durchaus Männer, die mehr als nur ein paar lumpige Dollars in den Taschen hatten. Im Laufe der Zeit erkannte ich ein gewisses System in diesen Begegnungen. Es sah so aus, als wären das regelmäßige Treffen.«
»Eine Organisation?«
»Ja, John. Ich schätze, da sind fünf Leute an der Spitze, über das ganze Land verteilt.«
»Und ihre Gesprächspartner haben alle nur ein einziges Ziel: Greak Town«, murmelte John Stein nachdenklich.
»Unsere Stadt liegt zentral, John, einmal so gesehen. Es führen keine großen Verkehrswege vorbei. Die Rinderherden nehmen inzwischen auch einen anderen Weg. Greak Town liegt zentral und ist dennoch abgeschnitten von der Welt. Wenn wir alle mal an einer Seuche zugrunde gehen, dauert es Jahre, bis das irgendwer merkt.«
»Außer den Herren, die hier öfter mal auftauchen«, erwiderte John Stein zähneknirschend. »Kommen die eigentlich mit oder ohne Gepäck?«
»Manchmal sind sie sogar mit komplettem Planwagen gekommen. Niemand hat erfahren, was sich darin befand. Selbst Hendriks wusste es anscheinend nicht. Es geschah vor nicht einmal einer Woche.«
»Was geschah vor einer Woche?«
»Ein Planwagen kam in die Stadt. Die beiden Kerle in ihren verstaubten Anzügen waren uns bereits bekannt. Sie hielten vor dem Sheriff-Office, gaben dem Sheriff Instruktionen und kamen zu mir. Sie aßen, tranken und legten sich anschließend ins Bett. Das waren wir ja schon gewohnt. In der Nacht gab es beim Sheriff-Office einen lauten Disput. Dann krachten Schüsse. Seitdem haben wir keine Hilfssheriffs mehr.«
»Du meinst, die waren neugierig und wollten mal nachsehen?«
John Stein dachte an den Fremden, der ihn im Office empfangen hatte. Nun sah er wesentlich klarer.
War Greak Town zu einem Umschlagplatz für Diebesgut und dergleichen geworden? Vielleicht waren das Goldtransporte, aus Mexiko geschmuggelt?
John Stein sagte kopfschüttelnd: »Die Banditen und Desperados hausten früher in den Bergen. Heute laufen sie herum wie feine Herren.«
»Seit sie sich einig geworden sind, John Stein. Aber sie sind so gefährlich wie eh und je, und ihre Colts sitzen genauso locker, auch wenn man ihnen das nicht sofort ansieht.«
»Greak Town als Zentrum des Verbrechens«, sagte John, abermals den Kopf schüttelnd. »Und ich soll zum Werkzeug werden, soll womöglich Moore Hendriks ablösen.«
»Ich frage mich nur, wie die ausgerechnet auf dich gekommen sind, John?«
Er sah Lilly erstaunt an.
Sie fuhr fort: »Ich meine, anfangs dachte ich, du wärst eingeweiht und würdest mit denen unter einer Decke stecken. Ist. doch einleuchtend, nicht wahr?«
John Stein vergaß zu atmen.
»Was?«
»Du hast schon richtig gehört, John: Wieso können die so sicher sein, dass du mitmachst? Ich meine, du bist ihnen doch ein Unbekannter?«
»Sagst du das, weil du mir vertraust?«
Sie deutete auf die Waffe, die auf dem Tisch lag.
»Würde ich dir nicht vertrauen, John Stein, hätte ich dich längst erschossen. Oder traust du mir das nicht zu?«
John Steins Haltung versteifte sich. Er lauschte nach unten.
Schritte auf dem Weg vor dem Saloon.
Seine Leute kamen.
»Ja, dir traue ich alles zu, Lilly.«
Er hob seine Waffe und legte an. Dann drückte er ab.
Little King betrat als Erster den Schankraum, als oben der Schuss krachte. Es folgten noch zwei weitere Schüsse.
Little King und Wyoming Kid blieben wir angewurzelt stehen. Great Texas war noch im Sheriff-Office. Es war für die drei eine Kleinigkeit gewesen, Moore Hendriks zu überwältigen und die Bannisters mitsamt ihren engsten Vertrauten einzusperren.
Falls man betreffend Hendriks überhaupt noch von überwältigen reden durfte, denn der Sheriff hatte total besoffen in einer Ecke gelegen und nicht einmal die Kraft besessen, seinen Revolver zu ziehen.
Hendriks war keine Gefahr mehr. Wenn er so weiter soff, lebte er sowieso nicht mehr lange.
Trotzdem hatten ihn John Steins Leute vorsichtshalber mit in die Zelle gestopft.
In der offenen Tür zum Büro oben erschien John Stein. Der Revolver steckte im Holster. Er schleifte etwas aus dem Raum. Atemlos schauten sie zu, bis sie endlich sahen, was es war.
»Billy!«, brüllte Wyoming Kid.
Er wollte losstürmen, aber die Beine versagten ihm offenbar den Dienst.
Little King blieb gefasster. Er runzelte die Stirn. In seinem Gesicht zuckte es. Das war alles.
John Stein ließ die Leiche auf dem obersten Treppenabsatz liegen. Er kehrte zum Büro zurück und schloss die Tür. Dreimal drehte er den Schlüssel herum. Dann zog er ihn ab und steckte ihn in die Tasche.
»Wer?«, fragte Little King, mühsam beherrscht.
»Er kam Lilly wohl zu nahe. Ein Handgemenge. Lilly hat gewonnen. Sie hat es mir erzählt, hat versucht, sich zu verteidigen. Aber sie hat einen Fehler gemacht.«
»Fehler?«
»Sie hat geglaubt, sich besser aus der Affäre zu ziehen, wenn sie sich mir ergab.«
»Du hast sie …?«
John Stein nickte. »Sie ist tot«, bestätigte er. Mit dem Daumen deutete er über die Schulter zurück. »Liegt in ihrem Büro. Wir kümmern uns später um ihre Leiche. Erst müssen wir Billy begraben. Ich schätze, das hat er verdient.«
Little King und Wyoming Kid kamen die Treppe hinauf und nahmen Billy in Empfang.
»Nur ein einziger Schuss«, sagte Kid überrascht. »Ein Teufelsweib!«
Schwang da sogar so etwas wie Bewunderung mit?
John Stein achtete nicht mehr auf die beiden und ging die Treppe runter.
»Warum hast du abgeschlossen?«, rief Little King hinterher.
Statt einer Antwort knirschte John Stein nur mit den Zähnen.
»Lass ihn doch«, riet Wyoming Kid. »Du weißt, dass Billy sein Lieblingskind war. Da fängt der natürlich an zu spinnen.«
Little King schien das zu überzeugen. Er sagte nichts mehr. Gemeinsam mit Wyoming Kid schleppte er die Leiche die Treppe hinunter.
John Stein hielt ihnen die Tür auf. Sie trugen die Leiche hinaus und legten sie quer über Billys Pferd. Little King band sie fest.
»Jetzt gleich?«, fragte er John Stein.
Der nickte mit maskenstarrem Gesicht, wandte sich brüsk ab und stiefelte in Richtung Sheriff-Office davon.
»Du gehst nicht mit zum Friedhof?«
John Stein antwortete nicht.
Wyoming Kid rief hinterher: »Wir haben Moore Hendriks auch eingesperrt. Die ganze Stadt scheint nun menschenleer zu sein, aber diese feige Bande versteckt sich nur hinter den Fenstern.«
Auch diesmal reagierte John Stein nicht. Er ging einfach weiter.
Achselzuckend wandte Wyoming Kid sich seinem Pferd zu und tätschelte seine Flanke. »Wird Zeit, dass du versorgt wirst, Guter. Damned, nicht einmal dazu bin ich gekommen. Erst verscharren wir Billy. Dann kommst du dran. Das verspreche ich dir.«
Little King grinste.
»Meinst du, der versteht dich?«
»Der ist vielleicht schlauer als du glaubst, Muskelprotz.«
Little King lachte. »Wenn er dich tatsächlich versteht, ist er nun beleidigt. Hat ja gerade so geklungen, als würdest du ihn als nächsten unter die Erde bringen.«
Es war schon ein recht seltsamer Trauerzug, als die beiden mit ihrem toten Kumpan zum Friedhof zogen.
Geweint wurde dabei nicht, aber reichlich gescherzt.
Die Bürger von Greak Town verkrochen sich zwar ängstlich in ihren Häusern, aber sie bekamen alles mit. Da wurde manche Faust in ohnmächtiger Wut geschwungen. Da wurde mancherorts auch gesagt: »Wenigstens einen hat es diesmal erwischt!«
Aber es wurde auch gemurmelt: »Die haben Lilly umgebracht. Sie war die Beste von uns allen, und sie hat es nun auch noch getroffen.«
In einem wenigstens irrten sich die Bürger von Greak Town, die sich selbst zu Zaungästen eines Geschehens gemacht hatten, das sie eigentlich mehr anging als alles andere. Sie irrten sich, wenn sie glaubten, Lilly wäre nicht mehr am Leben. Ganz im Gegenteil – sie war sozusagen quicklebendig.
Nachdem John Stein dreimal absichtlich vorbeigeschossen hatte, war sie vorläufig außer Gefahr. Die anderen hielten sie für tot. Also rechnete man nicht mehr mit ihr.
Kaum hatte John Stein die Bürotür hinter sich abgeschlossen, als Lilly sehr aktiv wurde. Sie riss den Schrank auf, schlüpfte aus dem zwar schönen, aber sehr unpraktischen Kleid, warf auch die Schuhe in den Schrank. Dann zog sie eine Männerhose, ein Männerhemd und Stiefel an.
Es dauerte nicht lange, und Lilly hatte sich verwandelt. Als sie ihr wallendes Blondhaar unter einem Hut verstaut hatte, war sie fertig. Sie schloss die Schranktür und ging zum Fenster.
Kurz lauschte sie hinaus. Gerade wurde der tote Billy die Treppe hinuntergeschleift. Niemand würde Lilly hören, wenn sie durch das Fenster ihr Haus verließ.
Sie schob das Fenster hoch, lauschte wieder. Dann erst schwang sie die Beine hinaus.
Als sie auf dem schmalen Absatz unter dem Fenster stand, schob sie das Fenster vorsichtshalber zu. Sie peilte nach unten. Niemand zu sehen. Kein Mensch interessierte sich im Moment dafür, was auf dem Hinterhof von Lillys Saloon geschah. Das war ein Fehler, wie nur Lilly selber und John Stein wussten.
Sie sprang.
Federnd kam sie am Boden auf.
Lilly hatte die Waffe im Büro gelassen. Sie brauchte sie nicht. Sie rannte zum Schuppen, der bis zur Hälfte voll von scheinbar unnützem Gerümpel war. Kurz kramte sie herum.
Einen Revolver brachte sie zum Vorschein. Die Griffschalen waren mit Silber beschlagen. Eine Sonderanfertigung. Lilly hatte ihn sich vor Jahren von einem Büchsenmacher anfertigen lassen. War ziemlich teuer gewesen.
Ich habe gute und schlechte Zeiten erlebt, dachte sie. Damals, das waren gute Zeiten. Nun scheinen nur noch schlechte zu kommen.
Aber dann dachte sie an John Stein und daran, dass sie sich in ihm getäuscht hatte. Oder die fünf Jahre im berüchtigten Zuchthaus von Utah hatten ihn wirklich zu einem besseren Menschen werden lassen?
Sie kramte noch einmal in dem Durcheinander und zog ein Koppel hervor. Ein Holster folgte. Sie legte das Koppel an, band das Holster am Oberschenkel fest und sicherte den Revolver mit einem Lederriemen.
Nun war sie fertig.
Zögernd schielte sie zum Stall hinüber. Nein, auf ein Pferd konnte sie verzichten. Musste sie sogar. Es hätte zu viel Aufsehen erregt.
Besser, wenn sie ihre Angelegenheiten zu Fuß erledigte.
»John«, murmelte sie vor sich hin, »sei vorsichtig.«
John Stein spielte ein doppeltes Spiel mit seinen eigenen Leuten. Das konnte ins Auge gehen.
Er tat es Lilly zuliebe, aber auch, weil er einen schlimmen Verdacht hegte.
Deshalb musste er Lilly vertrauen. Und sie würde alles tun, um dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen.
Sie lief an der Rückseite des Gebäudes entlang bis zur Grundstücksmarkierung. Hier gab es einen schmalen Durchgang zur Straße. Lilly eilte hinüber, um einen Blick zu riskieren.
Sie schaute zu, wie Wyoming Kid und Little King die Leiche abtransportierten. John Stein ging zum Sheriff-Office hinüber.
Es war ein Handikap, dass das Office auf der anderen Straßenseite lag. So musste es Lilly riskieren, die Straße zu überqueren.
Sie lief hinter den Häusern entlang, nutzte jede Deckung dabei aus, um nicht gesehen zu werden. Obwohl sich aller Aufmerksamkeit sicherlich der Straße zuwandte, wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen.
Sie war allein auf sich gestellt. Die Leute, die sie in den letzten Jahren auf ihre Seite hatte ziehen können, waren entweder tot oder zu feige.
Bevor John Stein aus dem Zuchthaus zurückgekommen war, hatten ein paar noch das Weite gesucht. Sie würden nie mehr hierher zurückkehren.
Einer hatte sogar Frau und Kinder im Stich gelassen.
Sie knirschte erbost mit den Zähnen, als sie daran dachte. Aber es war nicht mehr zu ändern. Vor allem durfte sie nun nicht an so etwas denken.
Sie kam an ein Haus, das leer stand. Davon gab es inzwischen schon ein gutes Dutzend in der Stadt.
Es muss alles anders werden, schwor sie sich. Besser.
Sie betrat das Haus. Die Hintertür hing windschief in den Angeln. Sie war kein Hindernis. Die Bohlen knarrten leise unter ihren Schritten. Aber das würde niemand hören. Sie durchquerte das Haus. Die Fenster nach vorn der Straße zu, waren halb blind vor Schmutz. Lilly spähte hindurch. Schräg links war das Office. John Stein war nicht zu sehen. Er hatte das Büro bereits betreten.
Nein, hier durfte Lilly es nicht wagen, die Straße zu überqueren.
Sie wich vom Fenster zurück und wollte wieder nach hinten. Da hörte sie ein Geräusch im ersten Stock.
Mäuse, die an den Balken nagten?
Nein, das war keine Maus. Das war ein ausgewachsener Mensch. Ein Scharren, metallisches Klicken, als würde jemand die Trommel seines Revolvers überprüfen.
Ein Blick zum Büro hinüber.
War da oben jemand, der auf John Stein schießen wollte?
Sie zögerte. Eigentlich hatte sie weitereilen wollen, bis, hinter die sanfte Straßenbiegung, hatte dort die Straße überqueren wollen …
Sie musste erst hier nach dem Rechten sehen. Die Gefahr für John Stein war zu groß. Wenn er starb, gab es für die Stadt keine Rettung mehr. Er, der als der größte Feind der Stadt galt, hatte sich zu ihrer einzigen Rettung entwickelt.
Eine Chance, die man nicht leichtsinnig vertun durfte.
Und Lilly war sogar bereit, für diese Chance zu töten, falls es sich als notwendig erwies.
Sie trat durch die halb offene Tür ins Treppenhaus. Diesmal vermied sie es, Geräusche zu verursachen. Vielleicht wusste der Heckenschütze noch gar nichts von ihr.
Sie schlich bis zum untersten Treppenabsatz und sah hinauf.
Unter dem Fenster duckte sich eine schmächtige Gestalt, wie die Gestalt eines Kindes. Der Lauf eines Revolvers schob sich über den Fenstersims.
Der Schütze wartete. Er war bereit, auf die Straße zu schießen, sobald John Stein sich zeigte.
Lilly setzte den Fuß auf die unterste Stufe.
Ein hässliches Knarren.
Der Heckenschütze fuhr herum. Der Lauf des Revolvers machte die Bewegung mit und richtete sich auf Lilly.
Und Lilly vergaß, ihren eigenen Revolver einzusetzen. Sie erkannte den Heckenschützen: Freddy Tornstone, der Sohn von Craig Tornstone. Und Craig war der Mann, der Frau und drei Kinder im Stich gelassen hatte, nur weil er sich vor der Rückkehr John Steins fürchtete.
Denn Craig war damals dabei gewesen, als sie John Stein nach seiner Niederlage demütigte. Er musste fürchten, dass Stein ihm das nie vergessen hatte.
Die Waffe, die der Fünfzehnjährige in den Händen hatte, war die Waffe des feigen Vaters.
»Freddy!«, sagte Lilly eindringlich.
Der Junge hatte Schwierigkeiten, den Abzug zu betätigen. Aber er würde es schaffen. Er würde Lilly töten.
Und sie konnte sich nicht einmal wehren. Sollte sie denn auf ein halbes Kind schießen?
John Stein trat in das Büro des Sheriffs. Er durfte nicht daran denken, dass dies einmal sein Zuhause gewesen war. Drei Jahrelang.
Aber er hatte es sich im Grunde selber zuzuschreiben, dass alles so gekommen war. Das sah er inzwischen ein.
Er hatte den Rachedurst gebraucht, um die fünf Jahre in Utah zu überstehen. Nun war er nicht mehr notwendig. Nun hatte er eine wichtige Aufgabe zu erledigen.
Hoffentlich ist das für einen einzelnen Mann überhaupt zu schaffen , dachte er zerknirscht.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Great Texas saß hinter dem Schreibtisch des Sheriffs, die Stiefel auf der Schreibtischkante. Er schaukelte mit dem Stuhl und grinste John Stein entgegen.
»Was ist denn passiert?«, fragte er.
»Billy ist tot«, sagte John Stein hart.
Überrascht nahm Texas die Füße vom Tisch und sprang auf.
»Was?«
»Erschossen«, bestätigte John Stein.
»Wer war der Halunke.«
»Lilly«, gab John Stein Auskunft. »Ich habe sie dafür getötet. Sie liegt in ihrem Büro. Kid und King sind auf dem Weg zum Friedhof, um Billy zu beerdigen.«
Stirnrunzelnd betrachtete Texas seinen Boss. Ein listiger Bursche, dem man so schnell nichts vormachen konnte.
Im Gesicht von John Stein zuckte kein Muskel, als er sich der Zwischentür zuwandte, die zu den Zellen führte.
»Du hast sie wirklich getötet?«, fragte Texas zweifelnd. »Mit eigenen Händen?«
John Stein ging überhaupt nicht mehr darauf ein. Er öffnete die Zwischentür und verließ den Büroraum, der gleichzeitig Schlafraum des Sheriffs war.
Eine üble Alkoholfahne wehte ihm entgegen: Moore Hendriks. Er hielt sich am Gitter fest und hatte alle Schwierigkeiten, auf den Beinen zu bleiben.
Als er John Stein erkannte, lachte er heiser. Er versuchte auszuspucken, stieß sich dabei jedoch die Stirn am Eisen.
»Narr«, lallte er. »Was für ein Narr. Der große Rächer, was?« Er lachte wieder.
Der junge Bannister packte ihn an den Schultern und riss ihn vom Gitter zurück.
Was machte ihn so wütend? Hatte er Angst, Hendriks würde etwas sagen, was für sie nicht gut war?
Vielleicht irrt ihr euch alle in dem Trunkenbold , überlegte John Stein. Man ließ Moore Hendriks so lange am Leben, wie man ihn unterschätzte, aber vielleicht war sein Verstand noch nicht ganz so vernebelt, dass er nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte? Vielleicht war er sogar in der Lage, die Chance durch John Stein zu erkennen?
Er hatte gegen John einmal einen großen Sieg errungen, aber das bewies noch lange nicht, dass er stärker war als John Stein. Sonst wäre er nicht so heruntergekommen.
»Lass ihn in Ruhe«, herrschte John Stein den jungen Bannister an.
Texas trat hinter ihm in den Zellengang. Es gab hier insgesamt drei Zellen. Die mittlere Zelle war am größten. Dort saßen die beiden Bannisters, der betrunkene Sheriff, der Alte aus dem Brennereischuppen und noch zwei unbedeutende Gesichter, die mehr Angst vor John Stein hatten, als für die Bannister wahrscheinlich gut war.
»Wo ist der Schlüssel?«, fragte John Stein, ohne Great Texas dabei anzusehen.
»Schlüssel?«, echote der verblüfft.
John Stein streckte die Hand aus, schnippte mit den Fingern. »Her damit!«
Texas zögerte. »Die sind draußen«, sagte er bekümmert.
»Wie lange soll ich denn noch warten?«, brüllte John Stein unbeherrscht.
»Ich – ich geh ja schon!« Great Texas beeilte sich. Als er zurückkam, fragte er: »Was willst du machen, Boss?«
John Stein gab keine Antwort. Er probierte die Schlüssel durch, bis er den richtigen hatte. Das Schloss schnappte. Er zog die Gittertür auf.
Die Bannisters sahen ihm verständnislos entgegen.
John Stein stand im Zelleneingang, die Beine leicht gespreizt, die Rechte auf dem Coltgriff, in der Linken den Schlüsselring.
»Was hat er vor?«, fragte William Bannister.
Sein Sohn zischte: »Ist mir doch egal. Er kann uns nicht töten. Dann geht es ihm an den Kragen.«
»Meinst du?«, fragte John Stein hart und zog den Colt. Er legte auf den Alten an. Langsam schwenkte der Lauf der Waffe herum und deutete schließlich auf William Bannister.
Der Hahn war nicht gespannt.
Trotzdem zitterte William Bannister wie Espenlaub.
»Nun, Bill? Noch ein letztes Stoßgebet, ehe du die Himmelfahrt antrittst?«
Great Texas murmelte verstört: »Das kannst du nicht tun, Boss.«
»Ja, er hat Recht«, rief William Bannister mit heiserer Stimme. Er litt Todesangst.
Sein Sohn lachte verächtlich. »Nun schau dir diese Memme an. Das soll mein Vater sein? Ich pfeife auf ihn.«
William Bannister war es egal. Er wimmerte leise vor sich hin.
»Steh auf, Bill.«
William Bannister wollte gehorchen, aber es ging einfach nicht, die Beine versagten ihm den
Dienst.
»Bitte«, bettelte er.
»Aufstehen!«, brüllte John Stein ihn an. »Sei ein Mann!«
»Der doch nicht«, knurrte der Sohn.
Diesmal schaffte William Bannister es. Er musste sich allerdings an der Wand abstützen, um nicht zusammenzubrechen.
John Stein schüttelte den Kopf.
Er wusste nun, was er hatte wissen wollen.
Ein Bluff, der ihm zeigen sollte, ob William Bannister eine Schlüsselfigur war. Nein, ein solcher Feigling bestimmt nicht. Aber William Bannister war ein Eingeweihter. Sonst hätte er nicht die Falle für John Stein bauen können. Damit hatte er John Stein zum Supermann in Greak Town gemacht.
Wenn John Stein nun wollte, hätte er mehr Macht über die Stadt als jemals zuvor. Aber er würde der Organisation dienen müssen. Wie vorher Moore Hendriks.
Ein Blick auf den jungen Bannister.
Nein, aus dem war nichts herauszuholen. Und sein Vater hatte vor der Organisation mehr Angst als vor dem Tod. Es wäre aussichtslos gewesen.
John Stein steckte grinsend seinen Colt ins Holster zurück. Rückwärts verließ er die Zelle.
»Weg mit euch!«, sagte er.
Die Bannisters schienen es nicht begreifen zu wollen.
»Wie?«, fragte Fred Bannister überrascht.
Auch Great Texas war verblüfft.
John Stein verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab. Er wusste, dass von diesen Männern keine Gefahr drohte. Vorläufig jedenfalls nicht. So lange halt eben, wie sie ihn auf ihrer Seite glaubten.
»Warum tust du das?«, fragte Great Texas.
»Lass das nur meine Sorge sein. Wir verstehen uns, Bannister, nicht wahr?« Er sah dabei Fred Bannister an.
Und da grinste dieser breit. Ja, er hatte verstanden. Er wusste, dass John Stein das Spiel durchschaut hatte. Und weil er kein großes Aufhebens daraus machte, zeigte das außerdem, dass er mit der Sachlage anscheinend einverstanden war.
Es war mehr, als die Bannisters erwarten konnten, fand John Stein.
»Willst du ihnen auch die Waffen zurückgeben?«, fragte Great Texas leicht verstört.
»Natürlich nicht«, antwortete John Stein. »Du wirst durch die Straßen von Greak Town gehen und laut verkünden, dass das Tragen von Waffen in dieser Stadt streng verboten ist. Auch für Bürger. Wir sind die einzigen, die Waffen tragen dürfen. Falls jemand Waffen daheim hat, macht er sich strafbar. Er soll umgehend alles hier bei mir abgeben.«
Great Texas zögerte.
»Kapiert?«, herrschte John Stein ihn an.
Great Texas zuckte zusammen. Unschlüssig schaute er von einem zum anderen. Dann wandte er sich kopfschüttelnd ab. Als er hinausstiefelte, fummelte er an seinem Coltgriff herum. Mit der anderen Hand kratzte er sich am Hinterkopf, als würde er an seinem Verstand zweifeln.
Die Bannisters und ihre Leute gingen ebenfalls. Auch der Sheriff wollte die Zelle verlassen.
John Stein drückte ihn zurück.
»Außer einem«, sagte er bestimmt. »Dieser eine bist du, Moore Hendriks.«
John Stein übersah nicht das Aufblitzen in den Augen von Fred Bannister.
Der Junge war gefährlicher als eine Klapperschlange. John Stein würde ihn im Auge behalten.
Gegenüber tat sich was. Auch Freddy musste es hören. Er zögerte.
»Freddy!«, sagte Lilly eindringlich.
Und da erst erkannte er sie.
»Ma’am!«, entfuhr es ihm. Der Lauf der Waffe senkte sich. »Sie hier?«
Draußen wurde eine Stimme laut. Was rief sie?
Lilly achtete nicht darauf. Freddy war nun wichtiger.
»Hör zu, mein Junge. Du solltest nicht hier im Hinterhalt lauern und den Heckenschützen spielen. Das ist kein Job für dich.«
»Der Keeper ist da anderer Meinung, Ma’am«, entgegnete Freddy trotzig. »Und Sie haben mir gar nichts zu sagen. Wo mein Vater nicht mehr daheim ist, hat Mama gesagt, ich müsste der Mann im Hause sein. Hat sie gesagt. Und ich werde ihr zeigen, dass ich ein mutiger Mann bin.«
»Indem du aus dem Hinterhalt jemanden erschießt?«
Er machte große Augen. »Aber, Ma’am, ich will gar keinen erschießen.« Er schluckte schwer. Dann fügte er hinzu: »Das heißt, Ma’am, falls es nicht notwendig wird.«
Lilly senkte den Kopf. Sie winkte mit beiden Händen ab. »Moment mal, Freddy, der Reihe nach, denn ich kapiere nicht ganz: Hat der Barkeeper aus meinem Saloon …?«
»Jawohl, Ma’am«, erwiderte Freddy wie aus der Pistole geschossen. »Er hat mich auf diesen Posten hier beordert. Vor zehn Minuten war’s. Wir sind richtige Partner, wissen Sie?«
»Und wie kam er dazu?«
»Nun …« Freddy wich ihrem Blick aus. »Vater hatte Angst vor diesem John Stein. Ich habe ein Gespräch mit Mama belauscht. Ich nahm Daddys Revolver und wollte John Stein umlegen, damit Daddy wieder zu uns zurückkommt.«
»Das wolltest du wirklich tun?«, fragte Lilly ungläubig.
Eifrig erzählte er weiter:»Ja, Ma’am, und da traf ich den Keeper. Der einzige auf der Straße. Er sagte mir gleich, dass ich nicht richtig vorgehe. Ich hätte zu wenig Erfahrung, sagte er. Man kann nicht gegen einen zu überlegenen Gegner angehen, und wenn einem die Umstände dazu zwingen, muss man die Überlegenheit irgendwie – ausgleichen. Ja, so hat er das gesagt. Er hat gesagt, es stünde gar nicht fest, dass John Stein ein Feind sei. Seine Leute wären es jedenfalls. Er hat mich hierhergeführt und mich gebeten, ihm Rückendeckung zu geben.«
»Dem Keeper?«
»Ja, dem auch, aber auch John Stein. Der braucht es ja nicht zu merken.«
»Du meinst, Freddy, du hattest überhaupt nicht vor, John Stein in den Rücken zu schießen?«
»Natürlich nicht, Ma’am.«
»Und wo ist der Keeper jetzt?«
»Wollte zu Ihnen, Ma’am. Hat er Sie denn nicht getroffen?«
Lilly überlegte kurz. Nein, der Keeper war ihr unterwegs nicht begegnet. Was hatte der Kerl vor? Warum dieser Alleingang?
Lilly knirschte mit den Zähnen. Auf ihren Keeper konnte sie sich verlassen. Jedenfalls war das bisher zugetroffen. Wie es aussah, hatten John Stein und sie noch zwei Verbündete: den Keeper und den Jungen mit Namen Freddy.
»Nein, Freddy, ich habe ihn nicht unterwegs getroffen. In welche Richtung wollte er denn? Geradewegs zum Saloon?«
In Gedanken: Du bist mir eine schöne Hilfe, Freddy.
Gut, dass der Junge diese Gedanken nicht mitbekam. Schließlich meinte er es gut.
»Direkt zum Saloon!«, bestätigte der Junge eifrig.
Lilly deutete auf die Waffe in seiner Hand.
»Kannst du denn überhaupt damit umgehen?
»Natürlich, Ma’am! Ich habe damit geübt. Schon vor Jahren. Erst heimlich. Dann hat mein Vater mich unterstützt. Dad schießt gut, aber längst nicht so gut wie ich. Das hat ihn so geärgert, dass er es mir verboten hat. Und da habe ich heimlich geübt. Niemand weiß, wie gut ich bin, als Schütze.«
Na, hoffentlich! , dachte Lilly.
Und dann überlegte sie praktisch: Warum nicht? Freddy ist überzeugt davon, auf der richtigen Seite zu stehen. Man konnte es unverantwortlich nennen, wenn hier ein halbes Kind in einem schier aussichtslosen Kampf mitmischte. Aber wenn sie nicht alles versuchten, wenn sie nicht Freddy mitmachen ließen, dann war für den Jungen nichts gewonnen. Irgendwann würde er doch durchdrehen und in den Tod gehen.
Dann war es schon besser, wenn er unter Aufsicht blieb, und von Lilly und deren Barkeeper schien er viel zu halten.
Lilly konnte sich zwar denken, dass Freddys Mutter da ganz anderer Ansicht war, aber der Junge schien sich nicht so sehr um die Meinung seiner Eltern zu kümmern.
Er hatte sein eigenes Urteil gefällt, sonst wäre er nicht mit dem Colt seines Vaters hier und würde Wache schieben.
Lilly ging die Stiege hinauf zu ihm. Sie duckten sich unter das Fensterbrett und wagten einen Blick auf die Straße hinunter.
Seltsames ging dort vor, wie Lilly fand. Nun wusste sie auch einzuordnen, was sie da gehört hatte. Von Waffen war die Rede.
Es war Great Texas, der sich als eine Art Ausrufer betätigte.
Lilly sah kopfschüttelnd zu.
Die Tür zum Office war geschlossen. Gerade gingen Fred Bannister und sein Vater die Straße hinunter.
Lilly runzelte die Stirn.
Hatte John Stein die beiden nicht einsperren lassen?
Ihr wurde heiß. Was war inzwischen vorgefallen? Was hatte sie während des Gespräches mit Freddy versäumt?
»Alle Bürger der Stadt werden unverzüglich aufgefordert, beim Sheriff ihre Waffen abzuliefern!«, brüllte Great Texas. »Alle! Hört ihr, ihr Bastarde? Ich werde in jedes einzelne Haus gehen und mir jeden Mann einzeln vorknöpfen. Und jeder, der es wagt, eine Waffe zu verstecken, wird eingesperrt!«
Es war klar, dass er etwas anderes hatte sagen wollen, aber ein kurzer Blick zum Office hatte ihn eines Besseren belehrt.
Er schwenkte den Colt in der Hand und schoss in die Luft.
»He, habt ihr alles gehört?«
»Der eignet sich schlecht als Ausrufer«, kommentierte Lilly mit Galgenhumor.
»Bitte, Ma’am?«, fragte Freddy verständnislos.
»Ich habe versucht, einen Scherz zu machen«, gab Lilly Auskunft. Sie legte ihre Hand auf seine schmächtige Schulter.
»Hör zu, Freddy. Bleib auf dem Posten. Beobachte das Office. John Stein braucht unsere Hilfe. Ich nehme an, dass der Keeper mich verpasste, weil ich aus dem Fenster kletterte. Es ist allerhand vorgefallen, verstehst du? Und noch etwas, was sehr wichtig für uns ist, Freddy: Ich gelte als tot. Kapiert, Freddy? Offiziell hat mich John Stein umgebracht, erschossen. Das glauben alle. Nur du weißt, dass es nicht so ist. Und du kannst es auch dem Keeper sagen, wenn er kommt. Meine Leiche liegt angeblich in meinem Büro, über dem Saloon.«
»Aber, Ma’am, Sie …«
»Sag nicht immer Ma’am zu mir, mein Junge. Sag einfach Lilly, klar? Du bist schließlich nun ein Kampfpartner, nicht wahr?«
»Klar!«, sagte er stolz.
Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Und sei vorsichtig, mein Junge.«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Wohin?«, rief er alarmiert.
»Ich will versuchen, auf die andere Straßenmitte zu kommen, zum Office. Ich muss zu John Stein. Wir konnten schließlich nicht Hand in Hand aus dem Saloon spazieren, nachdem er mich umgebracht hatte.«
Er machte ein verständnisloses Gesicht, aber darauf achtete sie nicht mehr. Sie ging zum Hinterausgang und lief hinaus.
Draußen war niemand zu sehen.
Bin gespannt, was die Bürger unternehmen werden – in Sachen Waffen, dachte sie. Bis jetzt hat sich noch nichts gerührt. Scheint so, als hätte John Stein damit gerechnet. In ihren Häusern fühlen sich die Bürger dieser Stadt einigermaßen sicher, obwohl sie es nicht sind. Kann sein, dass es doch noch zu Schießereien kommt, wenn Great Texas versucht, ihnen die Waffen gewaltsam abzunehmen.
Sie blieb stehen.
Oder John Stein hat das inszeniert, um seine Leute erst einmal zu beschäftigen und seine Ruhe zu haben?
Sie beschleunigte ihre Schritte, obwohl sie gar nicht mehr so überzeugt davon war, dass sie wirklich John Stein in seinem alten Office treffen sollte. Vielleicht war es sogar viel besser, sich vorerst zurückzuhalten?
Lilly hatte das Gefühl, als würden sich die Ereignisse in den nächsten Stunden dramatisch zuspitzen.
John Stein ging ins Büro nach vorn und schaute auf die Straße. Irgendwo war Lilly.
»Bleib bloß, wo du bist, gutes Mädchen«, sagte er vor sich hin. »Das hier muss ich allein erledigen.«
Er drehte sich um und stiefelte zu den Zellen zurück. Er war allein mit Moore Hendriks, und als dieser ihn kommen sah, zitterte er wie Espenlaub.
John Stein zeigte ihm die Flasche, die er von vorn mitgebracht hatte.
»Dein bester Freund, nicht wahr, Moore? Aber vielleicht ist das nicht dein einziger Freund?«
Moore Hendriks leckte sich die Lippen. In seinen Augen war ein fiebriger Glanz.
»Wie – wie meinst du das, Stein?«
»Ich meine mich damit, Moore.« John Stein schloss die Zelle auf und ließ den Schlüssel stecken. Er ging zu Moore Hendriks hinein.
Der Sheriff drückte sich bibbernd in eine Ecke. Seine Augen weiteten sich.
»Was – was willst du mir antun?«
»Nichts, Moore. Ich bin hier, um dir etwas zu trinken zu geben. Du hast doch großen Durst, nicht wahr?«
Der Trunksüchtige zögerte. Aber dann streckte er langsam die Rechte vor.
John Stein gab ihm die Flasche in die Hand.
Hendriks wollte es nicht glauben. »Was – was willst du dafür?«
John Stein schüttelte den Kopf. »Gar nichts, mein Freund. Ehrlich. Ich will nichts mehr von dir. Du brauchst nur zu trinken. Alles ist in Ordnung.«
John Stein hörte ein leises Geräusch in seinem Rücken. Er hätte allein sein müssen mit Moore Hendriks. Was war das? Eine Ratte?
Ja , dachte John Stein, möglich, aber vielleicht sogar eine zweibeinige Ratte?
»Trink nur, Moore, mein Freund«, sagte er ruhig.
Wie zufällig lag seine Hand auf dem Coltgriff.
Moore Hendriks wollte es immer noch nicht glauben, aber die Gier nach dem Alkohol war größer als sein Misstrauen.
»Wird schon nicht vergiftet sein, Moore. Oder vertraust du nur nicht mehr?«
Mit zitternden Händen entkorkte Moore Hendriks die Flasche.
John Stein trat einen Schritt zurück, um Bewegungsfreiheit zu haben.
Hendriks setzte die Flasche an den Hals und ließ das scharfe Zeug in den Hals gluckern.
»Tut gut, nicht wahr, Moore? Hast du dir auch redlich verdient. Wenn die Bannisters wüssten, was? Von uns beiden, meine ich. Und von dem, was du mir von den Fremden erzählt hast. Das werden wir gut hinkriegen, nicht wahr? Du wirst auch noch viel mehr guten alten Whisky von mir kriegen, wenn du weiterhin brav mit mir zusammenarbeitest. Darf bloß niemand was merken.«
Moore Hendriks setzte die Flasche ab. In seinem umnebelten Gehirn schien es mächtig zu arbeiten. Es schien sich krampfhaft mit der Frage zu beschäftigen, wovon John überhaupt sprach.
Da klappte ihm die Kinnlade herunter. Vor Schreck hätte er beinahe die Flasche fallen lassen. Aber dann drückte er sie wie einen kostbaren Schatz an sich.
»Nein«, stammelte er.
Er schaute an John Stein vorbei.
Darauf hatte John gewartet. Er wirbelte herum, wich gleichzeitig zur Seite aus und zog den Revolver. Eine einzige fließende Bewegung, kaum mit den Augen zu verfolgen.
Ins Blickfeld kam eine Gestalt: hochgewachsen, schwarz gekleidet, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Kein Einheimischer. Einer der Fremden.
In der Rechten hielt der Fremde einen Revolver, mit dem er auf Moore Hendriks anlegte.
Nicht auf John Stein, denn mit dessen blitzschnellen Reaktion hatte der Fremde offenbar gar nicht gerechnet.
Sein Zeigefinger hatte sich bereits um den Abzug gekrümmt.
»Ich blase dich um, sobald sich der Schuss löst«, sagte John Stein drohend.
Der Lauf der Waffe setzte sich langsam in Bewegung.
»Vorsichtig, ich bin diesmal schneller.«
In dem wettergegerbten Gesicht des Mannes arbeitete es.
John Stein betrachtete ihn. Größe stimmte, auch Gesicht und Statur. John Stein war überzeugt davon, den geheimnisvollen Fremden vor sich zu haben, der sich scheinbar in Luft aufgelöst hatte – nach seinem dramatischen Auftritt hier im Office.
»Sie haben sich geirrt, mein Lieber«, sagte John Stein zynisch. »Ich arbeite nicht für Sie, sondern für keinen. Vor allem nicht für Ihre Hintermänner, die aus Greak Town einen Treffpunkt für den Abschaum machen wollen.«
»Du verstehst das ganz falsch«, entgegnete der Fremde ruhig. Seine Augen waren stahlgrau. Darin stand keine Furcht. Dieser Mann würde töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber er würde auch sterben, ohne einen einzigen Klagelaut. Das war eine Klapperschlange, die blitzschnell zubiss und keine Gnade kannte, wenn sie einmal ein Opfer auserkoren hatte. Aber das war auch ein Mann, der einen Stärkeren akzeptierte.
Die beiden schätzten sich gegenseitig ab, während Moore Hendriks zitternd in seiner Ecke stand und sich an der Flasche festhielt.
»Du bist auf dem Holzweg, John Stein.«
John Stein lächelte sanft. »Du bist allein in dieser Stadt. Und du hast in diesem Augenblick keine Chance gegen mich.«
Die Haltung des Fremden entspannte sich. Plötzlich steckte er die Waffe in das schwarze Futteral zurück.
»Na gut, John Stein, ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns ein wenig unterhalten.«
John Steins Lächeln vertiefte sich, er behielt aber die Waffe im Anschlag.
»Nur zu, Fremder.«
»Sieh mal, John Stein, als du früher hier warst, war alles anders. Das sind zwar nur fünf Jahre her, aber diese fünf Jahre haben das Land verändert. Intelligente Menschen haben ihre Chancen erkannt und auch wahrgenommen. Sie haben zum Beispiel eingesehen, dass die Desperados, die in den Bergen hausen und unschuldige Bürger überfallen, gefährlich für den Geldbeutel sind. Denn sie überfallen natürlich vor allem Leute, die Geld haben. Und genau diese Leute mit Geld wollten sich nicht mehr länger auf den Arm des Gesetzes verlassen und wollten mit den Banditen ein Übereinkommen treffen. Das hat natürlich Zeit in Anspruch genommen. Zehn Jahre, um genauer zu sein. Erst war es nur eine Bande, die zur Mitarbeit bereit war. Ein paar Mitglieder mussten rechtzeitig ausgeschaltet werden, weil sie Unsicherheitsfaktoren waren. Und nun wurden nur noch Reisende überfallen, die sozusagen vogelfrei waren.«
»Der Anfang einer erfolgreichen Organisation, nicht wahr?«
»Ja, John Stein. Wir haben einige Postkutschenlinien dort, wo die Eisenbahn noch kein Fuß gefasst hat. Wir haben auch Eisenbahnlinien erworben. Wir breiten uns sozusagen aus. Zu deiner Zeit waren wir mitten drin. Alle Banden in diesem Staat waren auf unserer Seite. Wir gaben ihnen auch die Tipps, wann sich ein Überfall in unser aller Sinne wirklich lohnte. Alles war ausgezeichnet geplant von ausgezeichneten Köpfen, wie du jetzt schon vermuten kannst. Du wurdest damals Sheriff von Greak Town und standest unter Beobachtung. Du hast nichts davon geahnt. Es war wichtig für uns herauszufinden, ob du geeignet bist für die große Aufgabe.«
»Große Aufgabe?«
»Es ging darum, John Stein, eine ganze Stadt unser Eigen zu nennen. Die Wahl fiel deshalb auf Little Greak Town, weil sie am geeignetsten war.« Der Fremde zuckte die Achseln. »Nun, du hattest drei Jahre Bewährungszeit – und bist sozusagen durchgefallen, Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man dich umgelegt. Du bist ausgezeichnet dazu geeignet, eine Stadt zu führen, ganz wie wir es wünschten, aber du hast einen verdammten Fehler, John Stein.«
»Der wäre?«
»Du bist zu eigensinnig.«
»Und deshalb habt ihr Moore Hendriks an meine Stelle gesetzt.«
»Tja, auch Moore Hendriks war zunächst nur eine Testperson. Wir wollten uns die Chancen nicht vermasseln. Er war ein zu rechtschaffener Mann, wie man so schön sagt. Aber er war käuflich.«
»Obwohl er daran letztlich zerbrach, nicht wahr?«
»Er hatte zwei gute Assistenten, die wir ihm zur Seite stellten. Sie unterstützten ihn. Ansonsten lebte er vom Nimbus des John-Stein-Bezwingers.«
»Selbst Lilly aus dem Saloon machte das Spielchen mit?«
»Was blieb ihr auch anderes übrig? Wenn sie ihren Saloon verloren hätte … Oder ihr Leben …« Der Fremde lachte hart. »Der einzige Narr in diesem Spiel bist du, John Stein. Du bist auch der einzige Unsicherheitsfaktor. Fünf Jahre lang habe ich vor dir gewarnt. Ich war auch hier, als du kamst.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe schon viele Narren in meinem Leben gesehen, aber keinen so großen wie dich. Du hältst das Glück in beiden Händen. Du bist der König einer Stadt und sollst der König einer sehr reichen Stadt werden. Du brauchst nur dafür zu sorgen, dass hier alles läuft, sich unsere Leute hier ungestört treffen können. Das ist fünf Jahre lang gut gelaufen, nicht wahr, Moore Hendriks? Und es soll unter John Stein noch besser laufen. Jeder hat einen Vorteil davon, wenn er mitmacht.«
»Ich will nur noch eines wissen: Wieso hat man mich nicht umgelegt?«, fragte John Stein. »Wieso lebe ich noch?«
»Manch einer hat halt Freunde, die er nicht verdient.«
»Freunde?«
Moore Hendriks zitterte wieder stärker. John Stein schaute ihn an.
»Ja, da hast du sogar recht, Fremder. Ich habe gute Freunde, die sich gedacht haben, dass ich sehr geeignet bin. Treue Freunde sogar, die vor fünf Jahren die Stadt verlassen haben, damit man mich schnappen konnte. Sehr treue Freunde, die dafür sorgten, dass ich es überlebte. Das war meine Chance, wieder von vorn zu beginnen. Hier und heute.«
John Stein schaute wieder den Fremden an. Seine Wangenmuskeln spielten. Seine Augen blitzten.
»Saubere Freunde, die alles für mich taten, aber die sich nicht denken konnten, dass ich dieses Geschenk nicht annehmen will.«
»Du weißt also Bescheid? Von dieser Ratte namens Moore Hendriks?«
»Nein, der arme Kerl hat nichts damit zu tun. Der macht sich eher in die Hose. Aber wenn man nicht gerade blöd ist, kommt man selber darauf, Fremder. Meine so ergebenen Freunde Billy, Wyoming Kid, Little King und Great Texas. Sie haben mich damals benutzt und benutzen mich heute. Ich habe es damals nicht gemerkt. Ich habe nicht einmal geahnt, dass es so etwas wie eine dreijährige Bewährungsprobe für mich gab.«
Der Fremde ballte die Hände zu Fäusten.
»Hör zu, John Stein. Du bist der beste Mann für diese Aufgabe. Du standest nur auf der falschen Seite, kapierst du? Du standest zumindest nicht weit genug auf unserer Seite. Wenn du nun zu uns herüberkommst, werden wir Macht erlangen, unvorstellbare Macht. Ich brauche nur loszureiten und Bescheid zu geben, dass alles klar ist in dieser Stadt. Dann kommen die führenden Köpfe der Organisation. Das wird ein riesiges Fest, glaube mir. Es wird eine Weile dauern, aber wir werden nach dieser Stadt auch noch andere kassieren. Wir werden das ganze Land unterhöhlen! Wir werden eines Tages in Washington sitzen – und kein Mensch wird es auch nur ahnen. Sie werden so ahnungslos sein wie du vor fünf Jahren.«
John Stein kämpfte mit sich. Das war sichtbar.
Plötzlich steckte er die Waffe weg. Eine entschlossene Bewegung.
Er streckte die Rechte aus.
»Na gut, Fremder, ich bin Ihr Mann. Es ist entschieden, endgültig. Wir haben einen verloren: Billy. Schade um ihn. Es geschah durch meine Dummheit. Ab sofort können Sie sich auf mich verlassen.«
Der Fremde zögerte. Dann ergriff er die Rechte von John Stein.
»Jeder ist letztlich käuflich, mein Freund. Merke dir für die Zukunft: Ich bin Arthur Clark, der Kurier. Das ist ein Zauberwort. Denn die Kuriere sind wichtiger als alles andere. Ohne sie läuft gar nichts. Auf Telegrafen verlässt sich unsere Organisation nicht, denn die kann man abhören. Uns nicht.«
Sie schüttelten sich die Hände. Der Fremde, der sich mit Arthur Clark vorgestellt hatte, forschte im Gesicht von John Stein.
John erwiderte fest seinen Blick.
Arthur Clark klopfte John Stein auf die Schulter. »Ich sehe, man hat sich doch nicht geirrt in dir. Die fünf Jahre haben dich verändert. Sie haben dich ganz auf unsere Seite gebracht. Du hast deine Lektion gut gelernt.«
Er wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal kurz stehen.
»Was Billy betrifft: Er war der einzige, der damals nicht Bescheid wusste. Unser Mann hat einen nach dem anderen auf seine Seite gebracht. Billy erst, als du schon gesessen hattest. Ja, so war es. Ist nicht schade um Billy. Er war mir persönlich zu unsicher.«
Genauso wie ich, nicht wahr? , dachte John Stein, aber er beherrschte sich meisterlich.
Er hatte sich entschieden, endgültig. Es gab kein Zurück mehr. Er winkte Arthur Clark zu.
Ein harter Mann. Zu hart wahrscheinlich. Aber darüber hinaus fanatisch von der Idee besessen, die Vereinigten Staaten von Amerika eines Tages von einer Verbrecherorganisation regiert zu sehen. Vielleicht auch noch Mexiko? Vielleicht sogar die Welt?
Wahnsinnige , dachte John Stein. Aber sie hatten bisher Erfolg mit ihrem Konzept. Warum sollten sie annehmen, dass es das falsche Konzept war?
Der Fremde ging zur Wand und streckte den Arm aus. Lautlos wich ein Stück der Wand zurück. Groß genug, um ihn hindurchzulassen.
Bevor er verschwand, sagte er: »Ein Mechanismus, der Leben retten kann, glaube mir, John Stein. Wir haben auch noch andere Tricks auf Lager. Das wirst du noch kennenlernen.«
»Mein Bedarf ist vorläufig gedeckt«, erwiderte John Stein lächelnd. »Wenn ich daran denke, dass ich drei Jahre lang nur Sheriff war, weil man meine Eignung prüfen wollte …«
Arthur Clark lachte. Die Öffnung schloss sich.
John Stein sagte zu Moore Hendriks: »Wie ich schon sagte, Moore, wir sind tatsächlich gute Freunde geworden, was? Wir sitzen nun im gleichen Boot. Oder soll ich sagen: Wir stehen auf der gleichen Seite?«
Moore Hendriks erwiderte nichts. Er trank lieber seinen Whisky.
John Stein wandte sich angewidert ab. Als er nach vorn ins Büro ging, überlegte er fieberhaft, wer von seinen Leuten derjenige war, der von Anfang an zur Organisation gehört und sie alle letztlich benutzt hatte.
Dafür kam nur einer in Frage, der intelligenteste: Little King.
»Ich habe es irgendwie doch geahnt, King«, murmelte er vor sich hin. »Du hast immer den Eindruck machen wollen, dumm und stark zu sein, aber du bist ein Genie. Du bist genialer, als ich selbst es dir jemals zugetraut hätte.«
Er holte tief Luft.
»Genial, ja, aber als Verbrecher. Eigentlich schade darum.«
Er schob die verdeckte Gardine ein wenig zur Seite, um besser auf die Straße blicken zu können.
Da war irgendwo Hufgetrappel, aber nicht auf der Straße.
Arthur Clark sicherlich, um seinen hohen Herren zu berichten, dass John Stein sich in den fünf Jahren endlich eines Besseren besonnen hatte.
»Das habe ich sogar«, sagte John Stein halblaut, und er dachte wieder an Little King, der anscheinend alles getan hatte, damit er, John Stein, am Leben blieb und sogar eine zweite Chance erhielt.
»Ich danke dir für meine große Chance, Little King.« Diesmal sprach John Stein es laut aus. »Ja, ehrlich, ich danke dir aus ganzem Herzen dafür.«
Ein leises Lachen ließ ihn herumwirbeln.
Little King stand in der Tür zu den Zellen. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.
»Habe kurz mit Arthur Clark gesprochen.«
»Warum hast du das alles für mich getan, Little King? Wirklich nur aus purer Freundschaft?«
Little King lachte abermals.
»Auch, John Stein. Das war einer der Hauptgründe. Aber ein anderer war, dass ich von Anfang an genau wusste, dass du ein ungewöhnlicher Mann bist. Es kommt nur darauf an, dass du auf der richtigen Seite stehst. Dann kann man mit dir die Welt beherrschen.«
»Das hast du geglaubt?«
»Nein, nicht geglaubt«, sagte Little King betont, »sondern gewusst!«
Tatsächlich , dachte Lilly, die folgen dem Aufruf.
Die ersten Bürger verließen ihre Häuser, in denen sie sich verschanzt hatten. Sie verließen sie, um ihre Waffen abzugeben.
Lilly erschien es unglaublich. Welche Chance hätten Steins Männer gegen die ganze Stadt gehabt? Aber die Bürger waren zu feige. Nun lieferten sie auch noch freiwillig ab, was ihnen als einziges noch Schutz versprach.
Es wurden immer mehr.
Zuerst hatte die Stadt wie ausgestorben gewirkt. Nun öffneten sich die Häuser, und auf der Main Street herrschte reger Betrieb. Man sah steinerne Gesichter, mit der nackten Angst in den Augen. Für sie war John Stein ein Mann, den niemand besiegen konnte. Eine Art Supermann. Sie hatten tatsächlich Angst vor ihm, nicht etwa vor seinen Leuten.
Euer Pech , dachte Lilly erbost, und sie nutzte den allgemeinen Trubel, um auf die andere Seite zu kommen. Von hinten pirschte sie sich an das Sheriff-Office heran. Aber sie trat nicht durch die Hintertür ein. Sie wartete ab.
Mit John Stein war verabredet, dass sie sich hier trafen. Aber es war kein Zeitpunkt genannt worden. Im Moment herrschte im Office zu viel Betrieb. Wahrscheinlich war der Hintereingang auch abgeschlossen.
Die ganzen Waffen, die man einsammelte, wurden in den Zellen untergebracht.
Lilly hätte interessiert, was inzwischen Moore Hendriks machte. Aber der lag bestimmt wieder besoffen in einer Ecke und schlief seinen Rausch aus.
Lillys Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Sie musste stundenlang ausharren, bis sich hier hinten endlich etwas tat.
Der Mond stand schon am Himmel, als plötzlich ein Teil der Außenwand nachgab und sich öffnete wie eine Pforte. So etwas hatte selbst Lilly noch nie gesehen. Sie konnte sich den Vorgang nicht erklären. Bis Little King hervortrat.
»Der ideale Fluchtweg, nicht wahr?«, fragte er lächelnd John Stein.
Der klopfte ihm auf die Schulter. »Werde es mir merken, Little King.«
Sie taten wie die besten Freunde. Lilly rümpfte unwillkürlich die Nase.
»Wie lange noch?«, fragte John Stein noch.
»Schätze, dass die wichtigsten Leute nach und nach auftauchen. Am Abend werden sie alle versammelt sein. Sie halten sich nicht weit von hier auf. Sie warten praktisch nur auf ein Zeichen von Arthur Clark. John, du wirst der wichtigste Mann in diesem Spiel werden. Du bist sozusagen der zentrale Punkt. Durch mich hast du es geschafft, in das Vertrauen dieser Leute zu kommen. Und eines Tages werden wir gemeinsam dieses Land beherrschen.«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
Zuversichtliche Worte aus dem Mund von John Stein, und sie zwangen Lilly, den Atem anzuhalten. Ihre Augen weiteten sich ungläubig.
Hatte sie sich denn wirklich so in John Stein geirrt?
Sie hatte geglaubt, er würde sich wieder völlig auf der Seite des Rechtes befinden. Und nun?
Little King ging in die Nacht. Die Stadt war wieder ruhig. Aber im Schatten dieser Nacht entschied sich ihr Schicksal. Nicht nur das ihrige. Es entschied sich in dieser denkwürdigen Nacht auch das Schicksal des Landes.
Und vielleicht war es nicht übertrieben zu sagen: Das Schicksal der Vereinigten Staaten von Amerika.
Und es gab einen Mann, der durch alle Umstände zu demjenigen geworden war, der praktisch alles in der Hand hatte. Er konnte entscheiden, in welche Richtung das Schicksal gehen sollte.
Dieser Mann war John Stein.
Als Little King aus Lillys Blickfeld verschwunden war und sie nicht mehr befürchten musste, von jemandem gesehen zu werden, löste sie sich aus dem Schatten der Scheune und lief hinüber zu John Stein.
Er hatte wache Sinne und sah sie kommen, ohne sofort zu reagieren. Er wollte erst wissen, wer es war und den Schatten in der Nacht so lange in der trügerischen Hoffnung lassen, er habe ihn noch nicht entdeckt.
Er bemerkte, dass es Lilly war – am Gang, an jeder Bewegung.
Als sie bei ihm war, lächelte er.
»Im Moment stört uns niemand«, sagte er leise.
»Umso besser«, erwiderte sie hart.
Und da erst achtete er auf den Revolver in ihrer Faust. Damit hatte er nicht gerechnet.
Er schaute in ihre Augen. Ein verirrter Lichtstrahl aus dem Zellengang offenbarte ihm, was in diesen Augen lag: blankes Misstrauen.
Und Entschlossenheit, ihn umzubringen.
»Was ist los mit dir, Lilly?«
»Ich habe dein Gespräch mit Little King belauscht und finde, du bist mir eine Erklärung schuldig.«
Er schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Lilly: ich erkläre nur dem etwas, der mir vertraut.«
»Also Little King, nicht wahr? Der vertraut dir, wie ich gesehen und gehört habe.«
»Gewiss, Lilly, er vertraut mir. Genauso wie die anderen. Das ist sozusagen unsere Lebensversicherung. Vor allem meine, denn ohne dieses Vertrauen wäre ich längst tot.«
Lilly ließ unwillkürlich den Revolver sinken. Die Haltung von John Stein entspannte sich.
»Und du, Lilly? Vertraust du mir auch?«
»Ja«, sagte sie einfach und steckte den Revolver weg.
»Und warum?«
»Weil mir nichts anderes übrig bleibt.«
»Dann hast du den anderen eine ganze Menge voraus, Lilly. Morgen wird sich die Spitze der Banditenorganisation hier treffen. Eine einmalige Chance. Das geringste Misstrauen von Seiten meiner Verbündeten in diesem ungleichen. Kampf, und die Chance platzt. Man wird dafür sorgen, dass mich der halbe Staat jagt. Man wird alles tun, um mich zur Strecke zu bringen, weil ich Dinge weiß, die sehr gefährlich sind.«
»Morgen schon?«, fragte Lilly ungläubig.
John Stein klärte sie mit kurzen Worten auf. Er schloss: »Und du vertraust mir nur deshalb, weil dir nichts anderes übrig bleibt?«
Sie verschränkte die Hände hinter seinem Nacken und zog ihn zu sich herunter. Ihre Lippen berührten seine. Er roch ihren Atem, und das berauschte ihn. Wie aus weiter Ferne hörte er sie flüstern: »Natürlich nicht, Dummkopf.«
Sie küssten sich.
Danach sagte sie: »Ich werde im leeren Haus auf der anderen Straßenseite ausharren. Wir haben noch zwei Verbündete: Freddy Tornstone, ein halbes Kind, und den Barkeeper.«
»Zu viele, um aufzugeben, und zu wenige, um wirklich siegen zu können«, sagte John Stein grinsend. »Angst?«
Er gab keine Antwort darauf, sagte stattdessen: »Ich werde noch in den Saloon hinübergehen. Dein Tod muss glaubwürdig bleiben.«
»Tu das, Darling.«
Das Darling elektrisierte ihn, aber er beherrschte sich, wartete, bis sie sich umdrehte und von der Nacht verschluckt wurde.
»Morgen ist die Entscheidung endgültig«, murmelte er vor sich hin, machte kehrt und ging in den Zellengang zurück. Ein Druck gegen das Seitenteil der Geheimtür genügte, um sie zuschnappen zu lassen.
Im Büroraum wartete Moore Hendriks auf ihn. Er lag auf seiner Koje, total besoffen, und lallte vor sich hin.
»Wer hat eigentlich die Geheimtür gebastelt?«, fragte ihn John Stein.
»Ich«, lallte Hendriks. »Wer sonst?«
Das war in der Tat eine Überraschung für John Stein.
»Gibt es noch mehr solcher Dinge hier?«
Hendriks kicherte nur albern vor sich hin.
John Stein nahm seinen Hut und setzte ihn auf. Dann ging er auf die Straße hinaus.
Die Laternen brannten überall und zeigten ihm den Weg über die Main Street zum Saloon. Der lag in völliger Dunkelheit. Ungewöhnlich zu dieser Zeit in dieser Stadt wie Greak Town. Aber die Kunden, die in Frage gekommen wären, befanden sich in ihren Häusern. Sie hatten mehr Angst als vorher, denn sie hatten keine Waffen mehr.
Nur das Böse von Greak Town war noch bewaffnet.
Und John Stein.
Er öffnete die Pendeltür zum Schankraum und trat ein. Sekundenlang blieb er stehen. So lange brauchten seine Augen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Und dann genügte ihm das wenige Licht, das von der Straße hereindrang, um den Weg durch den Schankraum zur Treppe zu finden.
Kaum hatte er den Fuß auf den untersten Absatz gesetzt, als er ein metallisches Klicken vernahm: als wenn jemand den Hahn seines Revolvers spannte.
John Stein erstarrte. Langsam hob er die Hände in Schulterhöhe.
Das Klicken war von links gekommen. Aus den Augenwinkeln erkannte John Stein, dass ein paar Tische umgeworfen waren und als Barrikade dienten.
Von dort eine Stimme: »John Stein?«
»Ja, der bin ich.«
»Was hast du mit Lilly gemacht? Ich habe gehört, sie wäre tot.«
Mit einer Hand deutete John Stein zum Büro hinauf. Er hatte natürlich die Stimme des Mannes erkannt.
»Komm mit hinauf, Keeper. Ich will es dir zeigen.«
Ein Mann erhob sich hinter der Barrikade. Er kam näher. Es klirrten keine Sporen. Es war der Keeper. Er hatte seine Flinte in den Händen.
John Stein zweifelte nicht daran, dass der Mann mit der Flinte umgehen konnte.
»Was willst du mir zeigen?«
»Misstrauisch?«
»Natürlich.«
»Ich will dir das Büro von Lilly zeigen. Es ist der Raum, in der Billy erschossen wurde – von ihr.«
»Und sie?«
»Ebenfalls.«
»Warum willst du ihn mir zeigen?«
Langsam ließ John Stein die Arme sinken. Er musste es riskieren. Der Keeper wusste noch von nichts. Er hatte also noch nicht mit Freddy Tornstone gesprochen, hatte möglicherweise die ganze Zeit hier auf ihn gelauert. Somit war der Barkeeper unberechenbar. Was, wenn er auf die verrückte Idee kam, einfach nur John Stein umbringen zu müssen, um sämtliche Probleme zu beseitigen?
Ja, John Stein musste es riskieren. Er durfte sich nicht auf den Versuch einlassen, den Keeper zu überreden. Das klappte nicht.
Langsam setzte er sich in Bewegung. Die Arme hingen nun herunter. Das rechte Handgelenk berührte den Revolvergriff im Holster.
Vorsichtig stieg John Stein die Treppe hinauf. Stufe für Stufe, ohne eine einzige unnötige Bewegung, damit ihn der Keeper genau beobachten konnte.
John Stein wandte dem Keeper den Rücken zu, und dieser richtete das Gewehr auf diesen ungeschützten Rücken.
»Eine verdammte Falle«, knurrte er heiser. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug.
Kurz sah er sich um. Niemand zu sehen. Irgendwo waren Stimmen. Die Stimmen von John Steins Leuten? Was trieben sie da draußen?
»Halunken!«, knurrte der Keeper.
John Stein stieg höher. Er hatte fast die Hälfte der Treppe erreicht. Da kam Bewegung in den Barkeeper. Mit drohender Waffe folgte er John Stein, dem Mann, der keine Furcht zu kennen schien. Der Keeper hatte noch nie einen Menschen getroffen, der mehr Autorität und Stärke ausstrahlte als John Stein.
Die beiden ungleichen Männer kamen oben an. Mit einer deutlich zur Schau getragenen Gelassenheit griff John Stein in die Westentasche und zückte den Schlüssel. Klar, dass der Keeper schon versucht hatte, in das Büro einzudringen. Aber es war verschlossen.
John Stein sperrte auf.
Er zögerte.
»Was ist nun?«, knurrte ihn der Barkeeper von hinten an.
John Stein schob die Tür auf. Der Raum dahinter lag in Dunkelheit. Es waren keine Einzelheiten zu erkennen, höchstens Konturen. Zu mehr reichte das dürftige Laternenlicht von der Straße und das Mondlicht aus dem Hof nicht aus.
John Stein zog ein Streichholz und entzündete es. Dann betrat er den Raum, ging zum Schreibtisch, entzündete dort die Kerze.
Im flackernden Schein der Kerze schaute sich der Keeper um.
Er sah die Blutlache in der Ecke.
»Von Billy«, erläuterte John Stein.
Die zweite Leiche fehlte. Aber das Fenster stand einen kleinen Spalt offen.
»Wo ist Lilly?«
John Stein deutete auf das Fenster.
»Getürmt, nehme ich an. Sonst hätte ich nicht vorhin mit ihr hinter dem Sheriff-Office sprechen können.«
»Sie ist gar nicht tot?«
»Was hast du denn gedacht? Dass ich sie wirklich erschieße? Meinen einzigen wahren Verbündeten in dieser verfluchten Stadt?«
»Aber warum hast du nichts gesagt, John Stein? Ich meine, dort unten, als ich dich …?«
»Hätte es denn etwas genutzt?«
»Nein, John, du hast Recht. Eine verfluchte Stadt, sicherlich. Du bist ein Mann, der diese Stadt eigentlich hassen müsste. Was waren das für verdammte fünf Jahre? Dein Hass muss jeden Tag gewachsen sein. Und nun bist du unser Retter. Obwohl alle Bürger immer noch John Stein zur Hölle wünschen.«
»Alle?«, fragte John Stein gedehnt.
Der Keeper grinste breit. »Nein, der Barkeeper jedenfalls nicht.«
Draußen auf dem Stepwalk, vor dem Saloon, waren harte Schritte. John Stein deutete auf das Fenster: »Dein Abgang, Kumpel. Rasch, denn ich habe hier noch etwas zu erledigen. Triff dich mit Lilly im verlassenen Haus gegenüber dem Office.«
Der Barkeeper zögerte keine Sekunde. Er schob das Fenster hoch und verschwand draußen in der Nacht. Dabei bewegte er sich erstaunlich gewandt.
Ein guter Kämpfer, dachte John Stein. Hoffentlich – genügt es aber?
Er ließ das Fenster offen, denn er musste sich beeilen. John Stein riss den Wandschrank auf und holte das Kleid von Lilly hervor, das sie wahllos hineingestopft hatte.
Drei große Schritte, und John Stein beugte sich mit dem Kleid in der Hand über die Blutlache von Billy.
Blut ist Blut , dachte er sich, verdarb das kostbare Kleid damit und stand rechtzeitig in der offenen Tür, als unten jemand den Schankraum betrat: Little King.
»Verruchte Brut!«, brüllte John Stein und warf das blutverschmierte Kleid nach unten. Es flatterte wie ein aufgeregter großer Vogel, dann fiel es neben die Treppe.
»Was ist?«, fragte Little King alarmiert.
»Sie haben die Leiche von Lilly gestohlen.« Es klang verzweifelt.
»Gestohlen? Wie denn?«
»Haben sie durch das Fenster abtransportiert wie ein – wie einen Tierkadaver.«
»Was soll’s, John? Reg dich doch nicht so auf.«
»Begreifst du nicht, Little? Es war Lilly. Es war meine Lilly!«
John Stein schüttelte beide Fäuste.
»Hast du etwa getrunken, John?«, erkundigte sich Little King misstrauisch.
John Stein drehte sich herum, stiefelte in den Büroraum und knallte die Tür hinter sich zu.
Er lehnte sich gegen die Tür und schloss die Augen.
Im Hof waren leise Geräusche, der Barkeeper suchte das Weite. Im Schankraum war alles ruhig. Offenbar überlegte Little King noch. Hatte es John Stein geschafft, ihn zu überzeugen?
Schritte im Schankraum. Nun ging Little King zum Kleid, hob es auf und entdeckte das Blut.
War es glaubwürdig genug?
Sekunden der Spannung. Dann wieder Schritte im Schankraum, die sich entfernten. Die Pendeltür klappte. Schritte auf dem Stepwalk. Little King verließ das Gebäude. Er ließ John Stein allein, der scheinbar furchtbar darunter litt, dass er die geliebte Frau umgebracht hatte und man ihm nun sogar die Leiche gestohlen hatte.
Ganz offensichtlich, um sich an ihm auf diese billige Art und Weise zu rächen.
Ja, Little King musste es glauben. Und genauso glaubte er nun auch, dass John Stein die Bürger und die Stadt hasste. Es würde John Stein nur loyaler gegenüber der Verbrecherorganisation machen.
Das ging John Stein durch den Kopf. Er dachte: Nun gut, meine Vorbereitungen für den morgigen Tag sind abgeschlossen. Mehr ist leider nicht mehr drin.
Er wankte zum Bürosessel von Lilly hinüber und setzte sich hinein. Dann brauchte er nur noch die Augen zu schließen, um auf der Stelle einzuschlafen.
Irgendwann am Morgen erwachte er, am Boden liegend. Er wusste nicht, wie er dort hingekommen war.
Er drehte sich auf den Rücken und starrte gegen die Decke. Das Morgengrauen kam durch das offene Fenster zu ihm herein. Die Kerze auf dem Schreibtisch war längst abgebrannt. Alles wirkte friedlich.
Wie die Ruhe vor dem Sturm , dachte John Stein.
John Stein stand mitten auf der Main Street, als der erste Schwarzgekleidete ankam. Er sah hoch zu Pferd, in einen staubigen Mantel gehüllt, einen gezwirbelten Schnurrbart auf der Oberlippe – und in der Rechten ein geladenes Gewehr, dessen Mündung auf John Stein zeigte.
John quittierte das nicht einmal mit einem Augenzwinkern. Ruhig erwiderte er den Blick des Fremden.
Der Mann zügelte sein Pferd. Es trippelte nervös.
»Die Beschreibung passt«, schnarrte der Fremde. »John Stein, wenn ich nicht irre?«
John antwortete nicht. Er hatte beide Daumen ins Koppel gehakt und sah zu dem Fremden auf.
Der Mann trieb sein Pferd näher. Das Gewehr deutete auf Johns Brust.
»Antworte mir gefälligst, wenn ich dich etwas frage, Bursche!«
Mehrere Dinge geschahen praktisch gleichzeitig. John Stein riss dem Fremden mit einem einzigen Ruck das Gewehr aus der Hand. Dabei loste sich ein Schuss, der eine Staubfontäne von der Straße hochtrieb.
John Stein zog seinen eigenen Revolver so schnell, dass man die Bewegung fast nicht sehen konnte. Als hätte er die ganze Zeit über schon die Waffe in der Faust gehabt.
Achtlos warf er das Gewehr beiseite.
»John!«, brüllte Little King warnend. »Tu es nicht!«
John Stein achtete nicht auf die Warnung. Sein Gesicht war eine starre Maske. Sein Colt drohte.
»Absteigen!«, befahl er hart.
Der Fremde zögerte. Unsicher sah er sich nach Little King um. Dann gehorchte er. Er stieg ab und klopfte den Staub aus dem dünnen Mantel. Darunter trug er einen dunklen Anzug aus feinstem Tuch.
Ein reicher Mann, ein sehr reicher Mann sogar. Aber ein Bandit.
John Stein knirschte mit den Zähnen und packte den Fremden am Rockaufschlag. Die Waffe brachte er so nahe, dass der Fremde genau in die Mündung sehen konnte.
»Mein Name ist John Stein, Fremder. Niemand nennt mich einen Burschen. Ich spiele hier mit, weil es mir passt, nicht, weil man mich dazu zwingen kann. Wenn Sie sich daran halten, dann kommen wir gut miteinander aus. Klar?«
Nun lächelte der Fremde. Er wartete, dass John Stein ihn losließ.
Aber John Stein gab ihm einen Stoß, dass der Fremde rücklings zu Boden fiel.
Der Mann lachte schallend.
»Great Texas, Little King!«, rief er aus. »Verdammt, ihr habt nicht zu viel versprochen. Ja, das ist der richtige Mann. Der zeigt sogar dem Teufel die Zähne.«
Er richtete sich auf. Das Lachen erstarb.
»Mein Name ist Percy Longcroft.« Er sprang auf die Beine und klopfte wieder den Staub aus seinem Mantel. »Ich bin der Kopf, John. Alles andere sind meine Glieder. Little King ist meine Faust. Eine sehr schlaue Faust, wie ich nun sehe. Eine, die auch selbstständig denken kann.«
Er reichte John Stein die Rechte. »Ich schätze die Stärke und verabscheue das Schwache. Aber ich schätze auch Loyalität und Freundschaft.«
John Stein ergriff die dargebotene Rechte, obwohl sie ihn anwiderte. Aber er ließ sich nichts anmerken.
»Einverstanden.«
Mehr sagte er nicht. Longcroft musterte ihn von Kopf bis Fuß, während sie sich die Hände schüttelten.
»Würdest du mir bitte das Gewehr wieder aufheben?«
»Nein«, antwortete John Stein.
Longcrofts Blick schien John Stein zu durchbohren, doch John Stein hielt diesem Blick stand.
Percy Longcroft schüttelte den Kopf: »Wahrhaftig, die haben nicht zu viel versprochen.«
»Und was haben sie noch von mir gesagt?«
Longcroft ließ die Hand von John Stein los und bückte sich selbst nach seinem Gewehr. Er hob es auf und wog es wie prüfend in der Rechten.
»Sie haben gesagt, dass du kein Machtstreben kennst. Das heißt, du würdest dich in die Organisation einfügen, würdest dich zwar niemals unterordnen, aber würdest auch nicht versuchen, dich über uns zu erheben.«
»Das hat man behauptet?« John Stein grinste Longcroft an.
Der mächtige Mann nickte. Er sah nicht aus wie einer der Bandenbosse, wie sie all die Jahre das Land unsicher gemacht hatten. Er wirkte gepflegt, sogar aristokratisch. Aber er war eine Klapperschlange, und er war so schlimm wie mindestens hundert Bandenchefs zusammen.
Und doch akzeptierte er John Stein, denn die Stärke von John beeindruckte ihn.
»Ich nehme die Bedingung an«, sagte Percy Longcroft. Er winkte in die Richtung, aus der die Stimme von Little King aufgeklungen war.
Little King kam. Er war blass um die Nase.
»Er hat auch diese Prüfung bestanden«, sagte Longcroft zu ihm.
Auch Great Texas und Wyoming Kid kamen. John Stein dachte daran, dass Wyoming Kid mit den Bannisters gemeinsame Sache gemacht hatte. Alles war nur Theater gewesen, um die Rolle von John Stein innerhalb der Stadt wieder zu festigen.
Ein gelungenes Theater sogar, wie John zugeben musste, aber er spürte dabei ein faules Gefühl im Magen.
Er beobachtete seine Leute. Sie zeigten sich unterwürfig bei Percy Longcroft. Als wäre Gottvater persönlich vom Himmel herabgestiegen.
So kannte er diese knallharten Burschen gar nicht. Sie hatten ihn stets als ihren Führer akzeptiert, aber ohne Unterwürfigkeit.
»Im Saloon?«, fragte Longcroft.
John Stein nickte. »Ja, es ist alles vorbereitet dort. Alle Räumlichkeiten stehen bei der Zusammenkunft zur Verfügung. Außer einem.«
»Der wäre?«
»Das Büro der ehemaligen Besitzerin.«
Longcrofts Augenbrauen rutschten erstaunt zusammen. »Ehemalig?«, fragte er gedehnt.
»Es hat gestern eine kleine Schießerei gegeben. Die Besitzerin hat Billy erschossen. Daraufhin musste ich sie richten.«
»Das scheint dir nicht gerade Spaß gemacht zu haben?«
»Gewiss nicht, Percy Longcroft.«
Der Schwarzgekleidete nickte.
»Ah, ich kann mich erinnern. Lilly und du hattet doch einmal …« Er winkte ab. »Schon gut, ich höre schon auf. Aber ich sehe, dass in deiner Brust noch Gefühl ist. Nicht so wie bei Arthur Clark. Ein überragender Mann, aber zu kalt. Und wenn jemand so kalt ist, fehlt es ihm für gewöhnlich an Instinkt. Es ist gerade der Instinkt, der einem oftmals das Leben rettet, nicht wahr?«
John Stein schaute ihn nur unbewegt an.
Percy Longcroft ging in Richtung Saloon. Wyoming Kid nahm sich eifrig des Pferdes an, Little King und Great Texas liefen Longcroft nach.
»King!«, sagte John Stein knapp.
Der unglaublich muskulöse Mann zögerte.
John fügte hinzu: »Percy Longcroft braucht nur zwei Diener, nicht drei.«
Longcroft lachte schadenfroh, während Little King zu John Stein zurückkehrte.
»Der Kopf?«, fragte John Stein.
»Ja, der Boss. Es kommen insgesamt fünf. Du wirst sie kennenlernen. Die kommenden Herren dieses Landes.« Fanatismus leuchtete in seinen Augen auf. »Und Percy Longcroft wird die Runde führen. Greak Town wird das Zentrum der Macht.«
John Stein wandte sich ab und ging davon.
Er spürte eine dicke Gänsehaut auf dem Rücken und dachte im Stillen: Das ist der nackte Wahnsinn. Es werden viele gute Männer ins Gras beißen, ehe diese Brut an ihrem Ziel angelangt ist. Und selbst wenn sie dieses Ziel niemals erreichen, werden sie Blut und Tränen hinterlassen. Mütter werden um ihre Söhne weinen, Frauen um ihre Männer, Kinder um ihre Väter. Das Elend, die Not, das Grauen und die Angst werden sich ausbreiten wie eine Seuche – wie Pest und Cholera.
Und John Stein spürte die ungeheure Last auf seinen Schultern.
Ein Halbwüchsiger, eine Frau und ein Barkeeper – das war die ganze »Armee« von John Stein. Er passte einen unbedachten Moment ab, um die drei in dem verlassenen Haus zu besuchen. Für einen zufälligen Beobachter musste es so aussehen, als würde er dieses Haus aus Sicherheitsgründen durchsuchen.
John Stein klärte die drei über die jüngste Entwicklung auf und auch darüber, wo die Versammlung am Abend stattfinden sollte.
»Wird die Bande bewacht?«, fragte Lilly prompt.
John zuckte die Achseln. »Das müsstest du eigentlich besser wissen. Wie war das früher?«
»Ein paar unauffällige Burschen, so wie dieser Arthur Clark. Schnell mit dem Colt, harte Fäuste, aber ’ne weiche Birne«, antwortete sie abfällig.
Der Keeper hatte ein anderes Problem. »Wie gehen wir vor?« Wahrscheinlich erwartete er nun von John Stein einen perfekten Plan, wie er eines Generals würdig wäre, aber John zuckte nur ein weiteres Mal mit den Achseln und wandte sich zum Gehen.
Über die Schulter sagte er zurück: »Ich kümmere mich um die Schwarzen mit ihrem Oberschwarzen Percy Longcroft. Danach wird man mich wohl im Saloon unter Feuer nehmen. Das ist der Zeitpunkt, an dem ihr eingreifen werdet.«
Es war alles.
Mit gemischten Gefühlen schauten sie ihm nach, als er über die Straße ging und im Sheriff-Office verschwand.
Der Abend nahte, aber der Tag erschien ihnen als der längste Tag ihres Lebens.
Als John Stein das Office betrat, saß Moore Hendriks hinter dem Schreibtisch. Er schien nüchtern zu sein.
Überrascht blieb John stehen. Das hätte er nicht erwartet.
»Komm rein, John, wir sind im Moment allein und ungestört«, sagte Hendriks. Er hatte die Hände flach auf dem Schreibtisch liegen, wie um John Stein zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
»Tritt näher, großer Held.«
»Was soll der Zynismus?«, fragte John Stein.
»Es geht uns an den Kragen, mein Lieber. Wie lange wirst du durchhalten?«
»Wovon sprichst du, Moore Hendriks? Zu viel getrunken, was? Würde mich nicht wundern.«
»Du irrst dich, John Stein. Ich sehe nicht nur nüchtern aus, ich bin es sogar einigermaßen. Und ich habe gewissermaßen einen lichten Moment. Soll bei Verrückten vorkommen. Ich will sagen, ich habe das Spiel durchschaut.«
»Wessen Spiel?«
»Dein Spiel, John Stein. Ich weiß, dass du die Bande aufs Kreuz legen willst. Du bist ein zu anständiger Mensch, als dass du mit dieser Brut gemeinsame Sache machen könntest. Du hast sie eingewickelt, damit du deine Chance bekommst. Aber du wirst dabei draufgehen, Fellow.«
»Wie steht’s mit dir, Moore?«
»Ich habe Trost in der Flasche gesucht. Der Alkoholiker vom Dienst, damit die anderen was zu lachen haben. Mein Verstand ist im Eimer, und ich bin ein Wrack. Aber ich kann noch mit der Waffe umgehen. Begreifst du nicht, dass dies meine letzte Gelegenheit ist, ein Mann zu sein?«
John Stein ging zu ihm hin. Er dachte dabei: E in halbes Kind, eine Frau, ein Barkeeper und ein Trunkenbold, der gern einen Schlussstrich unter sein verpfuschtes Leben ziehen möchte, weil es sowieso keinen Zweck mehr für ihn hat.
Er legte die Hand schwer auf die Schulter von Moore Hendriks.
»Tu mir einen Gefallen und halte hier die Stellung, damit keiner an die Waffen rankommt. Das ist alles. Das genügt mir.«
»Mit meinem Leben?«
»Nur wenn es sein muss.«
»John Stein, wir waren einmal Todfeinde, aber nun ist es an der Zeit, dies zu vergessen.«
John Stein reichte ihm die Hand, und er sah Moore Hendriks an, wie sehr ihn der Händedruck erleichterte.
Seine Augen glänzten feucht.
John Stein ging ans Fenster und spähte auf die Straße. Die letzten »Schwarzen« kamen in einer Postkutsche. Auf dem Kutschbock saß Arthur Clark.
John Stein trat vor das Office. Arthur Clark winkte ihm zu. John Stein winkte zurück.
Die Kutsche hielt vor dem Saloon. Vier Männer stiegen aus. Das eine war ein gebrechlich wirkender alter Mann, doch er hatte das Sagen. Die anderen drei waren seine Leibgarde.
Arthur Clark fuhr die Kutsche zum Schmied. Dort waren die Stallungen. Offenbar hatte Clark Auftrag, die Pferde zu versorgen.
Es war soweit.
Ein kurzer Blick zum verlassenen Haus hinüber. Eine kaum erkennbare Bewegung am Fenster oben – man war bereit.
John Stein ging die Main Street entlang. Der Colt steckte locker im Holster. Beide Daumen hatte er im Koppel verhakt.
Die Waffe war überprüft.
John Stein hatte noch nie zuvor getötet. Er hatte es immer vermeiden können. Bis heute. Denn wenn er es heute nicht tat, war es aus mit ihm. Dann verlor er sein Leben …
John Stein betrat den Schankraum. Ein Dutzend blitzschnelle Bewegungen. Danach waren ein Dutzend Revolver auf ihn gerichtet.
John Stein achtete überhaupt nicht darauf. Man wusste, wer er war, und hielt ihn nicht auf.
John Stein hatte keine Angst. Innerlich fühlte er sich taub. Wie ein Lamm, das mit der Schlachtung einverstanden war, fuhr es ihm durch den Kopf. Aber seine Sinne waren wach. Ihnen entging nichts.
Er hörte die keifende Stimme des Greises. Er genoss bei den anderen großen Respekt. John erschien er nicht so sehr wie ein Bandit, sondern eher wie ein Geschäftsmann von der Ostküste. Das schien auch sein Slang zu beweisen.
Alle waren im Nebenraum versammelt. Stühle wurden gerückt. Eine gespannte Atmosphäre herrschte.
John Stein hörte jedes Geräusch und ordnete es so ein, als könnte er durch die feste Wand in den Nebenraum blicken. Aber es entging ihm auch keine Kleinigkeit im Schankraum.
Die Leibwächter waren hier versammelt. Sie belauerten ihn. Auch oben auf der Empore waren Leibwächter verteilt.
Es waren insgesamt vierzehn. Sicher waren draußen auch noch welche. Denn der Nebenraum wurde von ihnen bewacht.
John Stein schloss aus allem, dass die Anführer im Nebenraum ganz unter sich waren.
Er legte die Hand auf den Türknauf und wollte ihn drehen.
Von innen war abgeschlossen.
»Halt!«, sagte eine Kommandostimme.
Einer der Leibwächter. Er deutete mit dem Colt unmissverständlich auf John Stein.
John Stein lächelte sein gefährliches Lächeln. Er wich drei Schritte von der Tür zurück.
»Glaubst du, ich brauche deine Erlaubnis, Stinker?«
Der Leibwächter zuckte zusammen. Er war ein großer, breitschultriger Bursche, gut gekleidet, aber mit dem Gesicht eines brutalen Preisboxers.
Er wich vom Tisch zurück, hielt unschlüssig die Waffe in der Rechten.
»Stinker!«, wiederholte John Stein, laut genug, damit ihn jeder verstehen konnte.
Der Leibwächter schluckte schwer.
»Ich blase dich aus!«, drohte der Leibwächter heiser.
»Versuch’s doch!«
Der Leibwächter sah sich kurz um und leckte sich über die Lippen. Er war höchst verunsichert, zumal die Waffen der anderen Leibwächter nun zu Boden zeigten.
Sie betrachteten ihn ungerührt. Er musste sich allein entscheiden, und John Stein grinste ungerührt.
»Entweder du bist ein Wahnsinniger oder …«, murmelte der Leibwächter.
»Versuch’s doch einfach mal.«
Ein entschlossener Ausdruck trat in das Gesicht des Leibwächters. Jeder sah: im nächsten Augenblick würde er schießen.
Und da zog John Stein.
Es war diese blitzschnelle Bewegung, die ihm nur einer nachmachen konnte: Moore Hendriks. Das hieß, dieser sollte sogar noch schneller gewesen sein.
Der Leibwächter brauchte nur den Finger krumm zu machen.
John Stein machte einen Ausfallschritt und schoss. Die Kugel erwischte den Leibwächter. Trotzdem löste sich auch aus seiner Waffe ein Schuss.
Die Kugel zischte dicht an John Stein vorbei und hätte ihn sicherlich getroffen, hätte er diesen Ausfallschritt nicht gemacht.
Lautlos und mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck brach der Leibwächter zusammen.
Die Zwischentür wurde aufgestoßen, Percy Longcroft streckte seinen Kopf heraus.
»Was geht hier vor?«, brüllte er mit zornesrotem Gesicht.
Der Krieg hat begonnen, obwohl ihr es noch nicht bemerkt habt , dachte John Stein zynisch und steckte den Colt wieder weg.
Longcroft sah zu seinen toten Leibwächter und den Revolver in der Hand.
»Deine Leute benehmen sich schlecht, Percy«, sagte John Stein und ging auf Longcroft zu. »Deshalb bin ich hier.«
»Was?«
Percy Longcroft schaute ihn verständnislos an. Er forschte in Johns Gesicht.
Und da ahnte er etwas. Aber es war zu spät für ihn, denn John Stein war bei ihm. Mit beiden Händen stieß John Stein ihm vor die Brust, dass Percy Longcroft rückwärts in den Nebenraum taumelte.
Bevor die Leibwächter reagieren konnten, hatte John die Tür hinter sich ins Schloss geschmettert.
Sie waren zu fünft im Nebenraum. Der Greis reagierte kurioserweise am schnellsten. Er riss seinen Stock hoch.
John Stein sah die Öffnung des Stockes und wusste, dass es die Mündung einer Waffe war.
Ehe der Greis schießen konnte, verließ die tödliche Kugel den Revolver von John Stein.
Der nächste war Percy Longcroft. Er hatte einen kleinen Derringer in der Hand. Die Kugel verfehlte John Stein knapp, weil er rechtzeitig ausgewichen war.
Und dann schoss er selbst.
Die drei restlichen Anführer, die hier darüber beraten wollten, wie sie Schritt für Schritt die Welt erobern konnten, suchten nach Deckung. Dabei zogen sie ihre Waffen und schossen reichlich ungezielt auf John Stein.
Der benötigte nur drei Kugeln. Dann war er allein in diesem Nebenraum, bis auf den röchelnden Percy Longcroft, der vergeblich versuchte, seinen Derringer erneut in Anschlag zu bringen.
John Stein trat neben ihn. Longcroft sagte leise etwas. John Stein kniete nieder.
»Wir sterben, aber die Idee lebt weiter, Stein. Hörst du? Unsere Leute werden dich zu Tode hetzen. Selbst wenn alle tot sind, werden andere kommen und die gleiche Idee haben wie wir …«
Es waren seine letzten Worte in diesem Leben.
John Stein richtete sich wieder auf.
»Rauskommen!«, brüllte jemand auf der anderen Seite der Tür. Die Leibwächter waren in Aufruhr.
John Stein begann, seinen Colt zu laden. Dabei ging er langsam zur Tür.
»Longcroft ist tot!«, rief er den Leibwächtern zu. »Und auch einer der anderen. Der Rest ist verletzt. Die Halunken kamen durch das Fenster.«
Fast hatte er die Tür erreicht, als etwas durch die geschlossene Fensterscheibe fetzte: ein faustgroßer Stein. Im nächsten Augenblick tauchte einer der Leibwächter auf, die im Hof Wache schoben.
John Stein kam ihm mit dem Colt zuvor.
»Kommt rein und helft!«, brüllte er außer sich. »Die halbe Stadt greift an!«
Das war zwar völlig unmöglich, aber die Leibwächter tappten total im Dunkeln. Man hatte ihnen eine ganze Menge über John Stein erzählt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass John Stein möglicherweise ein Verräter an ihrer Sache sein könnte.
Außerdem kam ein weiterer Umstand hinzu – er hatte ihnen demonstriert, zu was er fähig war, und sie hatten Respekt vor ihm. Da war es ihnen schon lieber, ihn immer noch für einen Verbündeten zu halten.
Im Hof wurde geschossen.
Gut, Lilly , dachte John Stein.
Die Leibwächter, die im Hof wachten und sich natürlich ganz auf das Gebäude konzentrierten, hatten nicht die geringste Chance.
Und dann erschien Lilly am Fenster und sah herein.
John Stein winkte ihr zu und kehrte zur Tür zurück.
Da öffnete sich diese. Einer der Leibwächter erschien mit gezogenem Revolver. Im Hintergrund sah John Stein, dass andere Leibwächter auf die Straße liefen, um das Haus zu umrunden.
Lilly duckte sich rechtzeitig, aber als der Leibwächter kam, kletterte gerade Freddy Tornstone über die Fensterbrüstung.
Der Leibwächter wollte schießen, doch Lilly war schneller mit ihrer Waffe.
Freddy sprang in Deckung, ebenfalls der hereinkommende Barkeeper.
Die Leibwächter im Schankraum hatten ihren Kumpan zusammenbrechen sehen, aber auch bemerkt, dass John Stein daran keine Schuld hatte.
Der Barkeeper bewies Geistesgegenwart, indem er schrie: »Kommt endlich!«
Sie mussten annehmen, das wäre einer ihrer Bosse, einer der Verletzten. Deshalb kam einer tatsächlich.
John Stein schoss zweimal zum leeren Fenster hinüber.
Das machte ihm zusätzlich Mut. Er stürmte in den Raum. John Stein deutete zum Fenster. Er stürmte hinüber. Da trat John Stein vor und schlug ihn mit der Waffe nieder.
Inzwischen würden die anderen Leibwächter das Haus umrundet haben und mussten annehmen, der Gegner sitze in der Falle.
Den Leibwächtern wurde draußen klar, wer ihr eigentlicher Gegner war: John Stein.
Sie brüllten vor rasendem Zorn und vor mörderischem Hass.
»Räuchert den Halunken aus!«, schrie einer.
»Dann sitzen wir in der Falle«, murmelte Freddy Tornstone und zitterte.
John Stein konnte ihm nicht widersprechen. Wie es aussah, hatte Longcroft recht: Er würde selber auch sterben.
»Los!«, zischte Lilly und lief geduckt zum Wandschrank in der Ecke.
Die anderen begriffen nicht sofort, was sie meinte. Lilly riss den Schrank auf. Gläser und Teller waren darin gestapelt. Achtlos fegte sie das Geschirr heraus. Es zerbarst am Boden, doch das kümmerte Lilly überhaupt nicht. Als Nächstes riss sie die Zwischenböden heraus und trat gegen die Rückwand.
Die Waffe des Barkeepers donnerte los. Er schoss zum Fenster hinüber.
John Stein sah nicht hin. Gerade gab die Rückwand nach. Dahinter war eine Öffnung.
Lilly schlüpfte als erste hinein.
Ein Ausweg aus der Mausefalle?
Stufen führten ins Dunkel. Sie tasteten sich abwärts, gelangten zum Keller. Eine Holztür versperrte ihnen den Weg. Lilly öffnete sie. Auf der anderen Seite polterte und krachte es. Gewiss wurde die Tür schon seit vielen Jahren nicht benutzt.
Lilly kannte sich gut aus in ihrem Haus. Zielstrebig lief sie weiter. Nur wenig Licht sickerte durch schmale Sichtöffnungen zur Straße hin und auch nach hinten zum Hinterhof.
Sie verteilten sich, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Freddy Tornstone war kreidebleich, sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er war noch ein Junge, aber er würde kämpfen wie ein Mann.
Im Hof wurden Fackeln entzündet. Man warf sie ins Haus.
Auf der Straße das gleiche Bild.
»Sie brennen das ganze Gebäude nieder«, schimpfte Lilly und dann ließ sie die Waffe sprechen.
Ehe die Leibwächter wussten, von wo die Gefahr überhaupt drohte, war es zu spät für sie.
Nur zwei Leibwächtern gelang die Flucht, aber der Saloon brannte bereits. Das hatten sie vom Keller aus nicht verhindern können.
Die beiden Banditen galoppierten aus der Stadt. Sie flohen Hals über Kopf. Für sie war hier nichts mehr zu gewinnen.
Aber für John Stein und seine Leute war der Kampf noch lange nicht vorbei, denn es fehlten noch drei Gegner: Wyoming Kid, Little King und Great Texas.
Von ihnen war nichts zu sehen. Aber John Stein wusste, dass sie dort draußen irgendwo lauerten.
Während das Feuer im Saloon prasselte, zeigte ihnen Lilly den Weg hinaus. Es gab einen schmalen, sehr niedrigen Gang, der im Schuppen endete. Dort gelangten sie ins Freie.
Sie wollten gemeinsam hinaus, aber John Stein hielt sie zurück.
»Lasst mich allein gehen.«
Sie verstanden nicht warum, aber sie gehorchten.
John Stein ging in den hereinbrechenden Abend hinaus. Nur das Feuer aus dem Saloon zeigte ihm den Weg, denn niemand entzündete die Laternen auf der Straße.
John Stein ging schnell. Sein Ziel war die Schnapsbrennerei der Bannisters.
Diesen Weg war er schon einmal gegangen, aber unter anderen Voraussetzungen.
John Stein rannte nun hinter den Häusern entlang, nutzte jede Deckung aus. Kurz sah er zur Straße. Beim brennenden Saloon zeigten sich huschende Gestalten. Er konnte nicht erkennen, ob das Bürger der Stadt waren, die sich mit den Löscharbeiten befassten, ehe die ganze Stadt in Flammen aufging.
Weiter ging es.
Die Schnapsbrennerei betrat er diesmal nicht von vorn, sondern durch den Hintereingang.
Er öffnete die Tür und trat ein. Es brannte Licht im Nebenraum hinter dem Verkaufsraum.
Wyoming Kid und Great Texas saßen am Tisch, die Waffen vor sich liegen. Blitzschnell griffen sie nach den Revolvern. Sie hatten nicht mit John Stein gerechnet. Vielleicht hatten sie geglaubt, er wäre in den Flammen umgekommen.
John Stein schoss schneller als sie.
John Stein richtete sich mit steinerner Miene auf und verließ das Gebäude. Diesmal durch den Vordereingang. Es war ihm klar, dass die Bannisters beim Sheriff-Office waren, um sich mit Waffen und Munition einzudecken.
Da hörte er Schüsse aus dieser Richtung.
Er beschleunigte seine Schritte.
Tapferer Moore Hendriks. Gegen die Bannisters hast du eine Chance, aber nicht gegen Little King.
John Stein begann zu rennen. Noch mehrere Schüsse beim Office.
John Stein kam am brennenden Saloon vorbei.
Die Bürger der Stadt versuchten das Feuer zu löschen, obwohl beim Sheriff geschossen wurde.
Nun wurde dort kein Schuss mehr abgegeben. Ruhe kehrte ein.
Ein gutes Zeichen für John Stein?
Es war ihm alles egal. Er wollte wissen, was passiert war. Er nutzte keine Deckung mehr, sondern rannte offen auf das Office zu. Die Waffe trug er in der Hand.
Die Tür zum Office stand offen. John Stein wirbelte hindurch.
Doch ehe sich seine Augen an die hier herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten, rief jemand: »Stopp!«
Er erstarrte in der Bewegung.
Als Erstes sah er die Leiche von William Bannister. Er lag direkt zu seinen Füßen. Als Zweites sah er die Leiche von Bannisters Sohn, der ausgestreckt vor den Zellen lag.
Und auch Moore Hendriks war tot. Sein Mörder hieß Little King, und der wollte auch der Mörder von John Stein werden.
Langsam drehte sich John Stein herum. Er ließ die Hand mit seiner Waffe sinken.
Little King stand neben dem Schreibtisch des Sheriffs, mit drohender Waffe.
»Enttäuscht?«, fragte John Stein tonlos.
Little King musterte ihn. »Ich habe dir gesagt, wenn ich einmal meinen Kopf anstrenge, dann siehst du, dass ich dich nicht mehr brauche, John. Das war eine Lüge, denn ich habe meinen Kopf schon vorher angestrengt. Dabei habe ich nur ein einziges Mal einen Fehler begangen.«
»Jeder begeht mal einen, King.«
»Du auch, John, indem du uns verraten hast. Ich habe dir vertraut, habe anderen ebenfalls dieses Vertrauen eingeredet, habe alles getan für eine unglaubliche Zukunft. Mein Gott, was hatten wir für einen Weg vor uns, John.«
»Der falsche Weg, glaube mir, King.«
Little King schüttelte den Kopf. Seine Wangenmuskeln spielten. John Stein wusste, dass King ihn mit den bloßen Händen in Stücke reißen konnte, wenn er wollte. Nein, dieser Mann brauchte keine Waffe, um sich an ihm zu rächen.
»Der falsche Weg«, wiederholte er. »Es wäre ein Weg, der Blut und Elend über andere Menschen brächte. Weißt du, King, als ich diese Stadt hier terrorisierte, habe ich wirklich geglaubt, das Richtige zu tun. Ich habe mir gedacht, die Stadt braucht eine feste Hand. Und es hat sogar geklappt. Das hast du missverstanden. Du hast geglaubt, ich wäre so wie du. Nein, King, ich bin kein Bandit und war es auch niemals. Ich habe eben nur Fehler begangen. Das ist alles. Du wirst das wohl niemals begreifen.«
King schüttelte abermals den Kopf.
»Hat einer der Anführer überlebt?«
»Keiner, King. Zwei Leibwächter sind geflohen. Sie haben sich wahrscheinlich getrennt und werden niemals mehr zurückkehren. Für sie ist Greak Town wahrlich eine blutige Stadt.«
Little King murmelte: »Steck die Waffe ins Holster.«
John Stein tat es.
Und dann steckte auch Little King seine Waffe ein.
»Ich wollte immer schon wissen, John, wer von uns schneller ist. Dies ist die Gelegenheit. Du oder ich, John Stein, mein verräterischer Freund. Zieh!«
Lilly hörte einen Schuss im Sheriff Office und schrie: »John!«
Das Feuer prasselte noch immer in ihrem Rücken, als sie die Straße entlangrannte zum Office.
»John!«
Sie rannte weiter, auch als sich im Eingang zum Office ein Mann zeigte. Sie konnte nicht genau erkennen, wer es war.
Der Mann verließ das Gebäude und trat auf die Straße: John Stein.
Lilly weinte und küsste ihn.
Er hielt sie ganz fest, drückte sie an sich.
Die Welt versank um die beiden Liebenden.
ENDE