Blutrache in Ghost Town City

Western von Wilfried A. Hary


Der Umfang dieses Buchs entspricht 109 Taschenbuchseiten.


Ben Raider war nach Thompson gekommen, um seinen Bruder John zu treffen. Zehn Jahre hatten sie sich nicht gesehen, bis Ben von John einen Brief erhielt, in dem er ihn um Hilfe bat. Bei seiner Ankunft in dem gottverlassenen Nest begegnet man Ben feindselig – erst von der rätselhaften Saloonlady erfährt er, dass John tot ist. Ermordet! Schnell wird Ben klar, dass sie es auch auf ihn abgesehen haben – aber warum? Welches Geheimnis hatte John zu verbergen? Ben will seinen Bruder rächen, doch vorher muss er fliehen – in den Höllencanyon ...




1

Um die Mittagszeit erreichte John Raider endlich Thompson. Das Nest wirkte verschlafen, auf den ersten Blick gesehen. Heißer Südwind blies trockenen Staub über die Dächer. Über die Main Street trieben vereinzelt Kugelbüsche.

Kein Mensch zeigte sich. Für die Ankunft eines Fremden schien niemand Interesse zu haben.

Wie eine Totenstadt, dachte der einsame Reiter.

John Raider zog den verdreckten, verschwitzten Stetson und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Er spuckte zu Boden – doch was aus seinem Hals kam, war eine braune Brühe, die aus Speichel und Staub bestand.

John Raider stieß einen trockenen Fluch aus und setzte den Stetson wieder auf den Kopf.

Gemächlich ritt er die leere Straße entlang, bis er den Saloon erreichte. Sofort trat ein eigenartiges Glitzern in seine Augen. Er zügelte sein Pferd.

Noch einmal warf er einen Blick in die Runde.

Wahrlich wie eine Geisterstadt!

Thompson schien von allen Bewohnern verlassen worden zu sein.

John Raider wusste es besser. Entschlossen saß er ab.

Bereits eine Stunde später war John Raider ein toter Mann!

Eine weitere Stunde verging, bis sein Bruder Thompson erreichte mit dem sich John hier hatte treffen wollen ...



2

Ben Raider war der Typ des grobknochigen Texaners. Auf den ersten Blick wirkte er ein wenig plump. Doch wenn er sich bewegte, tat er es mit der mühsam unterdrückten Aggressivität eines gereizten Stiers und der Eleganz einer gefährlichen Wildkatze. Wenn er gar sein Hemd auszog, sah man deutlich, dass bei ihm fast alles Muskeln waren – kein Gramm Fett zu viel!

Als Ben Raider in die Stadt ein ritt, die Zügel lässig in der Rechten, den Hut tief in der Stirn, die Linke wie zufällig auf dem Coltgriff, erregte er Aufmerksamkeit. Die Menschen, die geschäftig auf der Main Street hin und her liefen, als würde ihnen die Flitze des Tages nichts ausmachen, sondern sie höchstens zu größerer Geschäftigkeit anregen, blieben teilweise sogar stehen. Ein paar rannten nach dem ersten Blick davon, wie um Deckung zu suchen.

Ben Raider schien von einer Aura der Stärke umgeben zu sein. Er hatte etwas vom Nimbus des Jägers, und jeder konnte das Opfer werden. Nicht nur die beiden tief geschnallten Colts verrieten dies. Ben Raider – das war entweder ein Desperado oder ein Held! Es kam ganz darauf an, auf welcher Seite des Gesetzes er stand.

Raider zügelte sein Pferd vor dem Saloon. Er ahnte nicht, dass sein Bruder vor genau zwei Stunden an derselben Stelle gewesen war. Er war hier, um John zu treffen – nach nunmehr zehn Jahren zum ersten Mal wieder!

Inzwischen hatte die Kunde von seiner Ankunft die Runde gemacht. Er band sein Pferd vor dem Saloon an den Balken und blieb einen Moment noch stehen, wie unschlüssig.

Da wieselte ein kleiner, etwa zwölfjähriger Mexikanerjunge herbei. Er strahlte über das ganze verschmierte Gesicht.

»Señor? Ich nehmen deine Pferd, geben frische Heu und viel trinken!«

Raider leckte sich über die spröden Lippen. Trinken? Ja, das täte ihm jetzt auch gut.

Der Mexikanerjunge nahm einfach die Zügel und wollte den Braunen entführen.

Das treue Pferd blieb stehen wie eine Mauer. Es gehorchte nur einem einzigen Herrn, und der hieß Ben Raider.

»Moment!«, knurrte der Texaner rau. Er spuckte Staub. Dann ging es besser: »Nicht so eilig, Kid!«

Der Junge legte den Kopf schief. »Du nennen mich Kid? Wie echtes Amerikano? Thanks!« Er gab sich Mühe mit dem texanischen Slang, bekam ihn aber trotzdem nicht hin.

Ben Raider betrachtete den Jungen.

»Stallbursche, eh?«

»Si, Señor!«

»Ich sage Kid – und du ab sofort Mister und nicht Señor, kapiert?«

»Si, Señor – äh, Mister! Sorra!«

»Das heißt sorry! All right, Kid, was weißt du über Thompson?«

Der Kleine grinste unverschämt und machte die Geste des Geldzählens: »Manchmal alles!«

Ben Raider ging in die Hocke und brachte sein Gesicht ganz nahe an das des Jungen. Sein Blick schien den kleinen Knirps förmlich durchbohren zu wollen.

»Wer bin ich?«

»Fremdes Amerikano in beschissenes Nest! Heißt Thompson. Gibt viele andere, glaub ich – heißen ebenfalls Thompson. Genauso beschissen!«

Der Mexikanerjunge gab sich Mühe, lässig zu wirken. Er zuckte mit den Achseln, aber in seinen Augen stand plötzlich Angst.

Der Texaner sah es deutlich.

Der Kleine wand sich unbehaglich unter Raiders Blick. Seine Beherrschung verging. Raiders Augen waren kalt wie Gletscherseen, und er blinzelte nicht ein einziges Mal.

Am liebsten wäre der Junge jetzt davongelaufen.

»Mein Name ist Ben Raider!«

Der Texaner betonte jedes einzelne Wort. Der Junge zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

Im nächsten Augenblick wandte er sich ab und sprintete los!

Das war jedenfalls seine Absicht. Doch Ben Raider war schneller! Seine Linke zuckte vor und erwischte den Jungen im Genick. Wie eine Eisenklaue griff sie zu. Der Mexikanerjunge hatte keine Chance gegen die Bärenkräfte des Amerikano. Er wollte sich losreißen, aber konnte strampeln wie er wollte: Ben Raider ließ nicht mehr locker.

Der Junge wollte schreien – aber die große Rechte des Texaners presste sich auf seinen Mund und erstickte jeden Laut.

Bis sich der Junge beruhigte.

Dann ließ Ben Raider ihn frei.

»Nun, Kid?«

»Bitte, Señor – ich nix wissen! Ich ...«

Ben Raider richtete sich langsam auf. »Mister!«, berichtigte er hart. Er hakte die Daumen in die schweren, über Kreuz geschnallten Patronengürtel und zog die Schultern zurück. Da stand er in seiner ganzen, imposanten Größe: ein Riese gegenüber dem Mexikanerjungen. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel.

Ja, der kleine Mexikaner hatte Angst – aber nicht vor ihm!

»Mister, ich versorgen deine Pferd. Du nichts mehr fragen. Bitte! Ich nix wissen.«

Ben Raider versenkte einen Daumen in der Westentasche und fingerte eine große Goldmünze heraus. Er schnippte sie dem Jungen zu. Mit hellem Klang wirbelte sie durch die Luft.

Der Mexikanerjunge fing sie geschickt auf. Mit glänzenden Augen starrte er darauf.

»Weil du so schnell und so gründlich vergisst, Kid – auch, dass ich was von dir wissen wollte!«

Der Junge steckte das Geldstück blitzschnell weg. Eine Verwandlung ging mit ihm vor. Jetzt grinste er wieder, als wäre nichts geschehen.

»Si, Mister ... äh, ich weiß keinen Namen!«

»Wie heißt du denn, Kid?«

Der Junge drehte in einer hilflos anmutenden Geste die leeren Handflächen nach oben und schürzte die Lippen. »Keinen Namen!«, beteuerte er. »Dreckige Mexikaner habbän in dieses Loch nix Namen. Nicht in Thompson, Mister! Entweder tot oder ...«

Er schnippte mit den Fingern.

Erschrocken hielt er an und blickte in die Runde, als hätte er etwas Verbotenes gesagt.

Ben Raider gab ihm die Zügel seines Braunen und klopfte dem treuen Pferd leicht auf die Hinterhand.

Der Braune trottete mit dem kleinen Mexikano davon.

Ben Raider wandte sich ab und ging zum Eingang des Saloons. Der Junge kennt den Namen Raider, dachte er nur ...



3

Ben Raider boxte die Flügeltüren auf und trat ein.

Eine Sekunde brauchten seine Augen, um sich an das Dämmerlicht des Schankraumes zu gewöhnen.

Jedes Gespräch erstarb schlagartig bei seinem Eintreten. Aller Augen wandten sich ihm zu.

Jedoch nicht lange! Sofort wurden die Gespräche wieder aufgenommen und man tat gerade so, als würde es keinen Fremden in Thompson geben.

Ben Raider stiefelte zum Tresen. Man sah ihm nicht an, was er dachte. Sein Gesicht blieb eine starre Maske. Nur die Augen lebten – ihnen entging nichts. Die Männer an den Tischen machten ihm etwas vor. Sogar die alternde Bardame am Ende des langen Tresens, die herausfordernd mit den Wimpern klimperte.

Ben Raider lehnte sich mit dem Bauch gegen den Tresen, winkelte das rechte Bein an und hakte den Absatz in die Fußstange. Seine Hände schwebten frei in der Luft, als wollten sie im nächsten Augenblick zupacken.

Der Keeper schielte automatisch nach Raiders braunen Coltgriffen. Er schluckte schwer. Dann putzte er noch emsiger an dem Glas in seiner Hand, als wollte er den dicken Boden durchscheuern.

Ben Raiders Hände legten sich bedächtig auf den glatten Tresen.

Der Keeper schluckte abermals. Er stellte das Glas weg, warf sich das Tuch über die Schulter und kam näher.

»Whisky?«

»Yeah!«

Es war merklich leiser geworden hinter seinem Rücken. Langsam wandte er sich um. Sofort schwoll der Lärm wieder an. Gesprächsfetzen wehten herüber, mit denen Ben Raider nichts anzufangen wusste.

Der Saloon war bestens besucht. Und das an einem normalen Werktag – zu einer Zeit, als auf der Straße ein Betrieb herrschte wie in den großen Handelsmetropolen an der Ostküste.

Der Keeper knallte ein blank geputztes Glas auf den Tresen, entkorkte eine neue Flasche und schenkte ein.

»Fremd hier?«, erkundigte er sich beiläufig.

»Yeah!«

»Ein bestimmtes Ziel?«

»Yeah! Ich suche mehr Ruhe.«

Ihre Blicke trafen sich. Der Keeper vergaß die Whiskyflasche in seiner Hand und ließ das Glas überlaufen.

»Yeah!«, wiederholte Ben Raider. »Ich möchte trinken, etwas essen, mein Pferd nehmen und weiterreiten. Gen Norden, wo die Keeper nicht so schwatzhaft sind und keine dummen Fragen stehen.«

Der Keeper grinste breit. Plötzlich wirkte er irgendwie erleichtert. Er zog das Handtuch von der Schulter, nahm es an beiden Enden, spannte es straff und stieß die Fäuste gegen die Decke.

»Jippi! Jungs, ich gebe einen aus. Lokalrunde! Hier ist ein Gringo, der die Stadt noch nicht kennt. Der kann was erleben! Thomson ist der Nabel oder der Arsch der Welt – kommt ganz darauf an, von welcher Seite her man es betrachtet. Thompson ist die Welt an sich – jippi!«

Lachen und Scherzen. Von einem Augenblick zum anderen herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Männer kamen zum Tresen und klopften Ben Raider auf die Schultern wie einem uralten Freund.

Ben Raider klammerte sich am Tresen fest. Sein Blick wurde starr. Das Weiße seiner Knöchel trat deutlich hervor. Er fühlte sich in einem Tollhaus, eingesperrt mit lauter Wahnsinnigen.

Nur eine wurde von dem eigenartigen Freudentaumel nicht erfasst: die alternde Bardame. Ihr abenteuerlicher Federschmuck wippte leicht, als sie sich durch die Menschenmenge zu Ben Raider durcharbeitete. Sie ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen, achtete überhaupt nicht auf ihre Umgebung, wie ein hypnotisiertes Kaninchen, das der Schlange nicht mehr entrinnen konnte! Als sich Ben Raider umdrehte, blickte er direkt in ihr Gesicht.

»Verschwinde, Gringo!«, knurrte sie ihn unter ihrer dicken Schminke an.

Er wollte etwas sagen, aber sie packte ihn am Handgelenk.

»Verschwinde, Gringo!«, wiederholte sie hart und ablehnend.

Er griff ihr an die Kehle, würgte sie leicht.

»Was geht hier vor?«, zischte Ben Raider. »Was ist los mit diesen Verrückten? Ich bin nicht dein Gringo!«

Er lockerte seinen Griff, als sie nach Luft japste. Seine Hand glitt langsam tiefer, auf den gewagten Ausschnitt zu.

Ihre Brust hob und senkte sich. Heftig stieß sie ihren Atem aus.

Ben Raider betrachtete ungeniert den Ausschnitt – die Ansätze von festen Brüsten, die bei jedem Atemzug zusammenquollen. Er zog seine Hand zurück und blickte auf.

Sie hielt seinem Blick stand. Jetzt knirschte sie sogar mit den Zähnen. »Also gut, Gringo. Leider wirst du sterben! Wie du wolltest. Hast es dir selber zuzuschreiben.«

Sie raffte ihre wallenden Röcke und wandte sich ab.

Er hielt sie im Genick fest und fühlte unter seinen Fingern gespannte Muskeln. Sie wurden so hart wie Granit. Unter der gepuderten, glatten Haut konnte man nichts sehen – ab er diese Frau war so stark wie ein Mann.

Ben Raiders große Hand hätte jeder normalen Frau das Genick brechen können. Wenn er es hier versuchte, wurde er scheitern.

Was für eine Frau!

Sie drehte sich ihm wieder zu. Nur ganz knapp. Dabei lächelte sie mitleidig.

»Ja – wirklich schade um dich, Gringo!«

Das klang allerdings überhaupt nicht bedauernd.

Mit rauschenden Röcken schritt sie nun endgültig davon.

Diesmal machten sie ihr Platz.

Die Gäste soffen und grölten. Ben Raider blickte in die lachenden Gesichter, wurde von der Seite her angerempelt.

Bevor er etwas unternehmen konnte, entschuldigte sich der Mann. Er war total betrunken.

»Was gibt es hier denn zu feiern?«, fragte Ben Raider.

»Wir feiern einen Toten«, kicherte der Mann. Dann winkte er ab und verbesserte sich: »Wir feiern jeden Fremden!« Seine Augen wurden groß und rund. Er gluckste amüsiert und tat geheimnisvoll: »Falls es sich wirklich um einen Fremden handelt – und wenn er ein Fremder bleibt!«

Der Keeper langte über die Theke und stieß dem Betrunkenen vor die Brust. Der Mann wäre um ein Haar zu Boden gestürzt prallte jedoch gegen andere, was einen Sturz verhinderte.

»Du redest zu viel!«, zischte der Keeper.

Sofort wurde er wieder freundlich und lächelte Ben Raider an. Nur die Augen lächelten nicht mit.

Raiders Blick irrte ab und eilte der Bardame hinterher.

Sie stieg gerade die Treppe hinauf. Auf halber Höhe blieb sie stehen und drehte sich um.

»Sind dort Zimmer?«, erkundigte sich Ben Raider.

Der Keeper tat verwirrt. »Äh, bitte? Ja, natürlich. Warum fragen Sie?«

»Kann man eins haben?«

»Äh, nein – alles besetzt. Tut mir Leid!«

»Bin nicht anspruchsvoll. Ein Bett, ein Stuhl, ein bisschen Wasser zum Erfrischen ...«

»Äh, besetzt – wirklich!«

»Von wem? Sind noch mehr Fremde im Ort?«

»Äh, nein – keine Fremden. Nämlich Viehzüchter und Farmer. Marktzeit, wissen Sie? Deshalb ist auch so viel los. Nun ... tja, tut mir ehrlich Leid!« Er grinste schief.

Die Bardame blickte herüber.

»Wer ist sie?«, fragte Ben Raider.

»Ihr gehört der ganze Laden hier«, antwortete der Keeper prompt. »Legen Sie sich ja nicht mit ihr an! Die schmeißt jeden aufs Kreuz.« Er lachte gehässig und wechselte blitzschnell das Thema: »Noch einen Whisky?«

»Muss erst mal den hier trinken!«

Als wäre dies ein verabredetes Zeichen gewesen, ebbte der Lärm ringsum wieder ab.

Die Besitzerin des Saloons schaute zur Tür. Ben Raider folgte ihrem Blick ...



4

Im Eingang stand der Sheriff: ein mittelgroßer, schmaler Mann mit wettergegerbtem, kantigem Gesicht, eisgrauen Augen und kleinen, zierlichen Händen.

Ben Raider betrachtete die beiden Colts mit den Silbergriffen an den Hüften des künstlerisch wirkenden Mannes – und wusste sogleich, worin die besondere Kunst des Sheriffs bestehen mochte.

Er schaute nach den anderen Gästen und bemerkte eigentlich erst jetzt, dass er der einzige Bewaffnete war, außer dem Sheriff.

Eine verrückte Stadt mit verrückten Bürgern!

Gelassen sah Ben Raider dem Sheriff entgegen, der sich einen Weg zu ihm bahnte.

Zwei Schritte vor Ben Raider blieb er stehen und streckte die Linke aus.

Stumm, ohne ein Wort.

Ben Raider lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen, hob die Hände in Brusthöhe und schaute an sich herab.

»Die Waffen!«, forderte der Sheriff.

Ben Raider fand, dass ihm der Stern zu groß war und dass die raue Stimme nicht zu diesem zierlichen Knabenkörper passte.

»Ich bin auf der Durchreise, warte auf mein Pferd, esse ’ne Kleinigkeit und reite weiter!«

»In der Zwischenzeit pass ich auf deine Waffe auf! Kannst sie nachher bei mir abholen, wenn du die Stadt verlässt: heute noch und für immer!«

»Was gegen Fremde?«

»Sie sind ein Unsicherheitsfaktor! Um diese Zeit ist viel los in Thompson. Fremde bringen nur Unruhe!«

Der Sheriff schnippte auffordernd mit den Fingern.

Ben Raider machte dennoch keine Anstalten, die Waffengürtel abzuschnallen.

»Wird’s bald, Gringo?«

Ben Raider war die Verrücktheit der Bürger von Thompson gleichgültig. Er hatte auch nichts gegen die speziellen Bestimmungen, die in Thompson gültig waren. Selbst die Fremdenfeindlichkeit konnte er noch verkraften. Aber er ließ sich nicht gern schlecht behandeln und ließ sich genauso ungern dauernd Gringo nennen.

»Mein Name ist Ben Raider!«, zischte er.

Die Reaktionen waren unterschiedlich. Jeder im Schankraum hatte die Worte verstanden; auch der Letzte in der hintersten Ecke.

Die Hände des Sheriffs klatschten gedankenschnell auf die Revolvergriffe genauso schnell wie die Hände von Ben Raider.

Doch kein Colt wurde gezogen! Die beiden Männer, die plötzlich zu Todfeinden geworden waren (obwohl Ben Raider keine Ahnung hatte, wieso), schätzten sich ab. Keiner wagte den Anfang.

Aus den Augenwinkeln sah Ben Raider, dass die Treppe leer war. Die Bardame hatte sich zurückgezogen.

Es war so leise im Schankraum, dass man eine Nadel hätte fallen hören können.

Dann begannen Füße zu scharren. Die Betrunkenen waren auf einmal stocknüchtern: Sie zogen sich zurück. Ein paar verschwanden durch den Hinterausgang. Ben Raider konnte es nicht verhindern. Andere wandten sich zum Haupteingang.

Auch dagegen hatte Ben Raider nichts einzuwenden.

Niemand sagte etwas. Ein stummer Rückzug, bis der Schankraum leer war bis auf Ben Raider, den Sheriff und den Keeper.

Der Keeper stand hinter dem Tresen außerhalb der Schusslinie. Die beiden Gegner standen sich direkt gegenüber!

Der Sheriff ließ die Hände auf den Revolvergriffen. Langsam machte er auf dem Absatz kehrt, bis er Raider den Rücken zuwandte.

Ben Raider betrachtete die schmalen Schultern. Ja, wie die eines Knaben. Aber der Mann war nicht umsonst Sheriff!

Die zierlichen, feingliedrigen Hände umschlossen die Revolvergriffe. Gemächlich schritt der Sheriff zum Ausgang. Er warf keinen einzigen Blick zurück, als er nach draußen trat.

Ben Raider hätte es verhindern können. Er hätte ihm auch nachlaufen können.

Musste er nicht damit rechnen, dass der Sheriff aus der Deckung heraus das Feuer auf ihn eröffnete?

Die Türflügel pendelten aus. Ben Raider tat gar nichts. Er blieb am Tresen stehen, ebenfalls die Hände auf den Revolvergriffen – stumm beobachtend, ohne den Kopf zu drehen. Er lauschte und atmete kaum.

Ansatzlos ließ er sich zu Boden sinken. Eine fließende Bewegung, katzengleich und gedankenschnell.

Etwas surrte wie eine wütende Hornisse über ihn hinweg. Ganz knapp! Natürlich war es keine Hornisse, sondern eine kleine, heimtückische Bleikugel. Tödlich, wenn sie traf!

Ben Raider sah den Mündungsblitz in einem Türspalt, oben auf der Empore. Erhörte den donnernden Knall, der einen Sekundenbruchteil langsamer war als die Kugel.

Ben Raider hatte beide Revolver in den Fäusten und schickte den Tod hinauf.

Es gab keinen zweiten, heimtückischen Schuss von dort oben mehr. Die spaltbreit geöffnete Tür wurde ganz auf gestoßen. Ein vierschrötiger Kerl stand in ihrem Rahmen. Das Gewehr entglitt seinen Händen. Mit ungläubigem Gesichtsausdruck stand er da. Ein Blutsfaden sickerte aus einem Mundwinkel. Er machte einen unbeholfenen Schritt auf das Geländer zu. Noch einen! Da knickten ihm die Beine weg. Er prallte gegen das Geländer, wurde davon zurückgeworfen und blieb oben liegen.

Regungslos – tot!

Ben Raider sah es nicht. Es interessierte ihn auch nicht mehr. Sein Interesse galt den noch Lebenden.

Aus der Hocke stieß er sich nach vorn ab! Er schlitterte gestreckt unter zwei Tischen hindurch, fegte Stühle beiseite, wurde von zwei nachjagenden Kugeln verfehlt und blieb bäuchlings liegen.

Zwei Mündungsblitze, die kurz an der Eingangstür aufgezuckt waren.

Jetzt schoss Ben Raider – und er traf besser! Der Heckenschütze verlor sein Gewehr, fiel gegen die Pendeltür, ließ sie ganz auf schwingen, stürzte weiter auf das Gesicht. Das Gewehr polterte neben ihm zu Boden.

Die beiden Schwingflügel klappten hin und her. Mehrmals, bis sie zitternd verhielten.

Zwei zierliche Hände stießen sie wieder auf.

Der Sheriff. Ihn schien weder Tod noch Teufel zu schrecken. Er suchte mit den Augen – und fand Ben Raider!

Sein Gesicht war ausdruckslos. Er betrachtete Ben Raider und achtete dabei überhaupt nicht auf dessen drohende Revolvermündungen.

Ein stummer, seltsamer, völlig unerklärlicher Blick!

Ben Raider schoss nicht. Er ließ die Revolverhände sogar sinken.

Der Sheriff wandte sich wieder ab, ließ die Türflügel pendeln und schritt davon.

Ben Raider hörte die schweren Schritte auf dem hölzernen Gehsteig, wie sie sich entfernten.

Eine Weile blieb er noch liegen. Er sicherte nach allen Seiten.

Keine Gefahr mehr!

Sein Körper entspannte sich.

Er war Ben Raider – und diese Tatsache allein schien hier schon eine Fahrkarte zur Hölle wert zu sein.

Das war klar, auch wenn er den Grund nicht kannte.

Ben Raider dachte an seinen Bruder John. Und dann suchten seine Augen nach dem Keeper ...



5

Ben Raider holte den Keeper hinter dem Tresen hervor. Der Keeper war nur noch ein bibbernder Feigling – so feige, dass er nicht einmal das Gewehr hatte gebrauchen können, das hinter dem Tresen lag.

Ben Raider hielt ihn mit der Linken am Kragen und schüttelte ihn kurz. Dann stieß er ihn verächtlich von sich.

Der Keeper prallte gegen die Theke, traf Anstalten, wimmernd darüber zu klettern, verhielt jedoch zitternd und schielte nach Raider.

Ben Raider hakte die Daumen in die Gürtel und fragte hart: »Wo ist mein Bruder?«

Der Keeper schüttelte verzweifelt den Kopf. Raider packte ihn wieder und stieß ihn auf einen Stuhl. Dort blieb der Keeper sitzen – seine Arme reibend, als würde er frieren. In seinen Augen stand panische Todesangst. Jetzt schielte er zur Tür. Aber dort zeigte sich niemand.

Sie waren ganz unter sich.

»Wie heißt du, feiges Schwein?!«

Bi...Bi...Bill Hencock!« Er ballte die zitternden Hände zu schlaffen Fäusten. »Bitte, Mister Raider – verlassen Sie die Stadt; ganz schnell, bevor ...«

»Bevor was?«

Ben Raider stand breitbeinig da, mit lauerndem Blick.

»Bevor ein Unglück geschieht. Ist es denn nicht schon schlimm genug?«

»Wo ist mein Bruder?«

»Er ... er war hier, jawohl!« Plötzlich tat Bill Hencock, der Barkeeper, sehr eifrig. Er lehnte sich vor, mit großen Augen und einer schweißnassen Stirn, von der dicke Tropfen herabperlten – auch in die Augen. Aber davon schien Hencock nichts zu spüren.

»Jawohl, John Raider war hier.« Hencock klopfte sich an die Brust. »Ich habe ihn persönlich bedient! Wir haben nett geplaudert. Und dann ist es zum Krach gekommen. Ich glaube, es war der Whisky – und die Sonne natürlich. John Raider hat den Kampf herausgefordert. Eine Schlägerei, bis der Sheriff kam! Er führte John Raider ab. Später hörte ich, John habe die Stadt wieder verlassen nach Norden.«

Ben glaubte ihm kein Wort. Trotzdem ging er darauf ein. Vielleicht verriet der vor Angst schlotternde Keeper doch mehr als er wollte?

»Hat er meinen Namen erwähnt?«

»Ja, das hat er! Wollte sich, glaub ich, mit Ihnen treffen, Mr. Raider. Ja, das wollte er! Hat aber nichts für Sie hinterlassen. Keine Nachricht, mein ich!«

»All right, Hencock – Sie können jetzt gehen!«

»Gehen?« Hencock runzelte die Stirn. »Wie ... soll ich das verstehen?«

Ben Raider hob die Stimme: »Thanks, Hencock – du hast mir viel geholfen; hast mir ja jetzt alles über meinen Bruder John erzählt. Jetzt kannst du gehen! Ich brauche dich nicht mehr.«

Hencock warf einen schnellen Blick zum Eingang. Dann rutschte er vom Stuhl und auf die Knie. Er rang die Hände. »Mein Gott, Raider, das können Sie doch nicht mit mir tun. Ich habe doch überhaupt nicht ...«

Ben Raider wandte sich ungerührt ab und stiefelte zum Ausgang. Er stellte sich neben die Pendeltür und rief hinaus: »Sheriff, Sie können den Keeper haben! Ich brauche ihn nicht mehr. Er hat mir alles gesagt, was ich wissen muss.«

»Nein!«, schrie Hencock entsetzt. »Das stimmt überhaupt nicht. Pit, glaub mir, ich ... habe überhaupt nichts gesagt. Ganz was anderes!«

Er eilte herbei, flehte weiter: »Pit Swiffert, dieser Gringo will euch hereinlegen. Er hat von nichts eine Ahnung!«

Hencock erreichte den Ausgang. Ben Raider hielt ihn nicht auf. Erwartete ab, beobachtete und zog seine Schlüsse.

Mit der kalten Unbeteiligtheit eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte – jetzt nicht mehr!

Bill Hencock stieß die Flügel auf. Er lächelte verzerrt. »Ehrenwort – ihr wisst doch, dass ich zu euch halte, zu euch allen! Der Kerl weiß nichts, weder von eurem Mord noch von dem ganzen ...«

Bill Hencock verstummte. Allerdings nicht freiwillig! In seiner Nasenwurzel war plötzlich ein hässliches Loch. Der Aufprall der Kugel riss ihn rückwärts um.

Draußen krachte ein Schuss!

Ben Raider blieb stehen. Er betrachtete den Toten. Nein, Hencock hatte ihm nichts erzählt. Wahrlich nicht! Es hatte nichts gegeben, was ihn mehr erschrak als die Leute, zu denen er gesprochen hatte.

Und der Sheriff gehörte dazu!

Was für ein Geheimnis barg Thompson?

Ben kannte seinen Bruder als Geschäftemacher, der manchmal auch über Leichen ging. Deshalb hatten sie sich zehn Jahre nicht gesehen. Auch wenn Ben Raider in vielerlei Hinsicht nicht besser war als sein Bruder – seit damals, als Banditen in der Maske von Indianern die Ranch überfielen, alles niedermetzelten, die Mutter vor den Augen ihrer Söhne vergewaltigten und das Haus niederbrannten.

Die beiden Jungen hatten als Einzige überlebt – weil die Mutter sie rechtzeitig im ausgetrockneten Brunnen versteckt hatte. Ein Erlebnis, das ihr Leben bestimmt hatte – unwiderruflich! Sie waren bei den Verwandten herumgereicht worden, galten als verstockt und böse. Keine Liebe, keine Zuwendung – nur hässliche Worte, weil sie überall im Weg standen. Jeder hatte mit sich selbst zu tun und konnte sich nicht auch noch um die ungebetenen Jungen kümmern.

So war ihr Leben gewesen! Sie waren gemeinsam ausgerissen und hatten sich in der Wildnis ernährt. Sie waren denselben Banditen in die Hände gefallen, die alles ausgelöscht hatten, was den beiden jemals etwas bedeutet hatte. Die Banditen hatten sie aufgenommen – nicht wissend, wer die beiden waren.

Für die rauen Kerle waren sie Spielzeug gewesen.

Aber Ben und John hatten schießen gelernt, rauben und morden! Und als sie genug gelernt hatten, war es Zeit gewesen, Rache zu üben. Keiner der Banditen überlebte! Sie waren gestorben, ohne zu erfahren, warum.

Erlebnisse, die Ben Raider verfolgt hatten! Er war später Sheriff gewesen, Kopfjäger und Gejagter, während sein Bruder sich mit Glücksspielen und zweifelhaften Geschäften über Wasser gehalten hatte.

John hatte ihm einen Brief geschrieben; hatte darin von einem Schatz gesprochen, den Thompson versteckt hielt. Es wäre ein besonderer Schatz und besondere Umstände. Man bräuchte den Schatz nur zu heben!

Später das Blitztelegramm, worin John Raider seinen Bruder eindringlich bat, nach Thompson zu kommen – auf schnellstem Weg!

Ben war dem Ruf gefolgt, eigentlich aus purer Neugierde – und vor allem deshalb, weil es für ihn mal wieder Zeit geworden war, die Tapete zu wechseln. Ben Raider war ein Mann, der keine Freunde fand – nur Feinde und solche, die vor ihm zitterten!

Daran hatte er sich gewöhnt. Deshalb war er der Richtige in dieser Situation!

Er knirschte mit den Zähnen und betrachtete den Leichnam des Keepers.

Oben öffnete sich eine Tür. Sofort hatte Ben Raider einen Revolver in der Rechten.

Die Bardame trat heraus. Sie lächelte verloren, als sie an das Geländer trat.

»Willkommen, Ben Raider, im Reich der Verdammten!«

»Verdammten?«

»Ja, jetzt gehör ich auch dazu – dank Ihnen und Ihrer einzigartigen Kunst, Probleme zu schaffen. Warum, zum Satan, haben Sie Ihren Namen gesagt? Warum sind Sie nicht meinem Rat gefolgt?« Sie deutete auf den Keeper. »Er würde noch leben!«

Ben lachte rau.

»Reich der Verdammten? Klingt gut! Wenn ich es mit Ihnen teilen kann, darf ich mich wohl als Glückspilz betrachten, nicht wahr?«

Er steckte den Revolver weg.

Ein Fehler, denn im nächsten Augenblick zog die Saloonbesitzerin das Tuch von ihrer Rechten!

Sie hielt einen Derringer umklammert, und die Mündung zeigte genau auf Bens Brust.

Die Rechte der wenig feinen Lady zitterte nicht. Sie zielte ruhig. Ihre Augen glitzerten. Sie würde keine Skrupel haben, einen Mann zu töten, wenn es ihr nutzte.

Ben Raider wusste, dass er keine Chance hatte. Die Kugel aus dem Derringer würde schneller sein.

Und die unfeine Lady würde gewiss treffen!



6

»Raider!«, brüllte draußen jemand.

Ben Raider grinste in die drohende Mündung des Derringers, der immer noch auf ihn zeigte. Er antwortete nicht.

»Raider – gib auf!«

Die harte Stimme des Sheriffs.

»Du hast keine Chance! Der Saloon ist umstellt. Wirf mal einen Blick nach draußen. Wir holen dich raus – verlass dich drauf!«

Ben Raider grinste nach wie vor in die Mündung des Derringers. Er dachte gar nicht daran, dem Rat des Sheriffs zu folgen.

»Nein!«, antwortete er amüsiert.

Die Lady runzelte die Stirn.

»Ich habe eine Geisel!«, fügte Ben Raider hinzu. Er lachte rau. »Eine Lady. Ihr gehört der Laden, glaub ich. Sie stirbt, wenn Ihre Leute nicht abziehen!«

»Es sind nicht meine Leute, Raider. Sie werden auch nicht abziehen – selbst wenn da drin zehn Ladies sind. Das ist denen wurscht. Ich fordere Sie noch mal auf, Raider: Verlassen Sie den Saloon! Treten Sie mit erhobenen Armen hervor und unbewaffnet. Sie haben schon genug angerichtet!«

Draußen war plötzlich Tumult. Jetzt riskierte Ben Raider doch einen Blick. Er lupfte knapp den schweren Vorhang neben dem Eingang. Eine Handvoll Männer, die sich mitten auf der Straße stritten! Einer hatte mit dem Stiefel eine Linie in den Straßenstaub gezogen und deutete wütend darauf. Ein anderer schien damit nicht einverstanden zu sein. Er legte sein Gewehr beiseite und schlug dem ersten mit voller Wucht in den Bauch.

Der Geschlagene klappte zusammen wie ein Taschenmesser.

Ben Raider konnte sich den Streit nicht erklären. Er zog trotzdem den Revolver und zielte.

»Besser nicht!«, riet die Lady.

Er zögerte tatsächlich – aber nicht, weil der Derringer auf ihn zeigte. Wenn die Lady ihn erschießen wollte, würde sie es sowieso tun! Ben Raider machte sich keine Gedanken darum.

»Und warum nicht?«, fragte er kühl.

»Weil es ein Fehler wäre!«

Er schaute empor. Die Lady hielt ihren Derringer nach wie vor auf ihn gerichtet. Ihre Haltung entspannte sich plötzlich. »Zu diesem Zeitpunkt wäre es das!«, sagte sie spöttisch.

Er steckte den Revolver in das Holster zurück und grinste wieder. »Wirklich?«

Er trat langsam näher. Der Krach draußen ebbte ab. Die Lady lauschte gebannt. Dann winkte sie mit dem Derringer. »Schnell, Raider – komm her!«, drängte sie.

Er fragte nicht lange, sondern sprintete los. Sein Instinkt sagte ihm, dass es besser war.

Gerade erreichte er die Treppe, als draußen ein Donnern aufklang, als wollte sich die Erde öffnen, um alles zu verschlingen. Gleichzeitig traf etwas genau die Stelle neben dem Eingang, an der Ben Raider eine Sekunde vorher gestanden hatte, zerfetzte die Wand, krachte herein, brachte einen Regen von Schutt und zersplittertem Holz mit – und das Haus zum Erbeben.

Ein Splitter schrammte schmerzhaft Raiders Rücken. Er ließ sich geistesgegenwärtig nach vorn fallen, auf die ersten Stufen der Treppe. Auch die Lady sprang mit einem einzigen Satz in Deckung.

Das Inferno legte sich allmählich.

Sogleich rollte Ben Raider zur Seite und zog die Waffen.

Eine Kugel sirrte herein, verfehlte ihn knapp.

Ben Raider sah mit einem Blick, was geschehen war. Vom Fenster aus war es ihm entgangen: Die Kanone hatte sich im toten Winkel befunden!

Gewehrschützen befanden sich bei der noch rauchenden Kanone. Sie nutzten die Lücke, die der Schuss gerissen hatte, um auf Ben Raider zu feuern.

Ben Raider rollte weiter und sprang auf.

Doch keine der Gewehrkugeln traf ihn!

Blitzschnell sprang er wieder in das Blickfeld der Schützen. Seine Revolver donnerte los. Zwei Schüsse – und zwei tote Gewehrschützen lagen am Boden.

Ben Raider zog sich wieder zurück.

»Narr!«, zischte die Lady über ihm. »Komm herauf, verdammter Gringo!«

Ben Raider fand überhaupt nicht, dass er einen Fehler begangen hatte, denn jetzt war das Blickfeld sauber. Keiner wagte es mehr, auf ihn zu schießen – aus Angst vor den Revolvern, die mit tödlicher Genauigkeit trafen.

Es war Ben Raiders Lebensversicherung. Hoffentlich nutzte sie letztlich etwas gegen diese erdrückende Übermacht draußen!

Ben Raider knirschte mit den Zähnen. Wenn man schon Kanonen gegen ihn einsetzte, war es mehr als ernst. Denen war offensichtlich nicht nur egal, was aus der Lady wurde, sondern auch aus dem Gebäude und der Einrichtung. Sie würden als Nächstes wohl den Saloon in Brand stecken ungeachtet dessen, dass damit die ganze Stadt gefährdet war. Um diese Jahreszeit würde das Holz brennen wie Zunder!

Ben Raider war auf alles gefasst.

Er sprintete die Treppe hinauf. Mit den Händen drückte er dabei die Revolver in die Holster. Seine Sporen klirrten. Es war schade um den Teppichläufer, der die Treppe zierte wie in einem ordentlichen Hotel. Aber bald würde sowieso nicht mehr viel von allem hier übrig sein!



7

Die Lady erwartete ihn. Sie packte ihn am Arm und zog ihn rasch mit sich.

Es ging in das nächste Zimmer hinein: ihr Büro, angefüllt mit Akten, Bildern, polierten Möbeln, geschmackvollen Vasen und anderen Kleinigkeiten, die das Büro gemütlich machten und vom guten Geschmack des Einrichters zeugten.

Sie bemerkte seinen Blick und erriet seine Gedanken.

»Keine Sorge, Gringo! Wir brauchen nur sehr schnell zu sein – dann bin nicht nur ich, sondern alles hier ist gerettet.«

Sie fuhr mit beiden Händen in seine Haare, packte so fest zu, dass es schmerzte. Ihr Gesicht war plötzlich ganz nahe. Er roch exotische Blumen und war auf einmal überzeugt davon, dass das kein Parfüm war, sondern der Duft dieser Frau selbst!

Es berauschte seine Sinne. Beinahe vergaß er die tödliche Gefahr draußen.

»Hör zu, verdammter Gringo! Dein Bruder war ein Schwein – und du bist der berühmte Elefant im Porzellanladen. Aber vielleicht ist das nicht mal so schlecht?«

»Warum hast du nicht auf mich geschossen?«

»Weil ich genauso verrückt bin wie du, Gringo – aber vielleicht dient es letztlich einem guten Zweck? Nun, das wird sich noch zeigen. Leider ist keine Zeit für große Erklärungen. Deshalb fasse ich mich kurz: Dein Bruder ist tot! Du suchst ihn vergebens. Man hat ihn draußen verscharrt wie einen Hund! Mehr war er auch nicht wert. Es gibt in Thompson und Umgebung drei Parteien. Zwei sind sich erbitterte Gegner. Eine Partei ist die Stadt selbst! Thompson ist für die anderen beiden Parteien neutrales Gebiet – kapiert?«

»Natürlich nicht!«

»Dann kann ich ja weitermachen«, knurrte sie. Ihr Griff war jetzt so eisern, dass er befürchten musste, sie hätte jeden Augenblick seinen Skalp in den Händen. Aber er war unfähig, sich zu wehren. Diese Frau – dieser Duft!

Sie schüttelte seinen Kopf und kam noch näher. Ihre Augen waren kalt. Ihr Atem streifte sein Gesicht und gab ihm den Rest. Er hörte ihre Worte und konnte nichts damit anfangen. Aber sie brannten sich in sein Hirn: »Du musst die Stadt verlassen, Ben Raider! Wenn du eine Partei da draußen für dich gewonnen hast, bist du vorläufig gerettet. Du musst ihnen klar machen, dass sie es nur mit dir schaffen, den Krieg zu gewinnen. Sonst jagen sie dich bis ans Ende der Welt!«

»Was für einen Krieg?«, murmelte er.

Sie ließ ihn los, trat an die Aktenwand und fingerte daran herum.

Was suchte sie dort?

Ein Mechanismus schnappte. Ein Teil der Aktenwand klappte auf. Dahinter öffnete sich ein schmaler Durchgang. Modriger Geruch schlug Ben Raider entgegen.

»Von meinem Mann eingeplant. Er war ein Genie! Bis man ihn vor drei Jahren umlegte. Seitdem gibt es nur noch zwei Menschen, die diesen Fluchtweg kennen: Du und ich!«

Als er zögerte, gab sie ihm einen Stoß. Er taumelte in den Durchgang und fühlte Stufen unter seinen Stiefeln.

Langsam schloss sich der Durchgang.

Blitzschnell warf er einen Blick zurück. Ben Raider sah, dass die Lady ihr Kleid zerriss, genau überlegt – und sich selbst Kratzwunden zufügte.

Der Durchgang war zu! Ben Raider konnte nichts mehr sehen.

Noch immer hing in seiner Nase der Duft dieser Lady – aber sein Verstand begann wieder in der richtigen Weise zu funktionieren.

»Yeah, ich bin verrückt«, murmelte er vor sich hin. »Wie alle hier!«

Er bückte sich und zog die Sporen aus. Dann tastete er sich durch die Dunkelheit eine steile Wendeltreppe hinunter. Der Kern des großen Gebäudes war aus Stein gebaut. In diesem Kern befand sich die Geheimtreppe.

Ben Raider blieb nichts anderes übrig, als tiefer zu steigen. Er musste sich längst unter Straßenniveau befinden. Überall roch es muffig.

Die Treppe endete in einem unterirdischen Gang, der zum Nachbargebäude führte und an einer Steinwand endete.

Raider tastete die Wand ab und stieß gegen einen herausragenden Hebel. Als er probehalber daran zog, gab der Hebel nach. Es knirschte in der Wand. Ben Raider versuchte es erneut. Da gab ein Teil der Steinwand nach! Es stellte sich heraus, dass die Quader ausgehöhlt waren – und viel leichter, als man vermuten konnte. Ben Raider bemerkte es, als die Wand offen war. Er quetschte sich an den scharfen Kanten der ausgehöhlten Quader vorbei und tastete sich in einen Kellerraum, in den kein Streifen Licht fiel.

Es war dunkel und roch nach Wein und Staub.

Ben Raider zog ein Hölzchen und strich es am Absatz an. Es flammte zischend auf und beleuchtete den Weinkeller. Er war sehr klein: schätzungsweise sieben mal zehn Fuß. Auf der anderen Seite gab es eine Tür.

Das Streichholz erlosch, aber Ben Raider hatte genug gesehen. Er lauschte, ehe er sich an der Tür zu schaffen machte. Kein Laut drang hier herunter.

Die Tür knarrte leise in den Angeln aber wenigstens war sie nicht abgeschlossen. Dahinter begann wieder eine steile Treppe. Ben Raider bestieg sie. Nach ein paar Stufen riss er erneut ein Streichholz an.

Knapp über ihm befand sich eine Luke.

Jetzt konnte Ben Raider Stimmen hören! Sie waren weit entfernt, nicht direkt oberhalb der Luke.

Ben Raider ließ das Hölzchen erlöschen und stemmte sich mit den Schultern gegen die Luke. Sie gab kaum nach. Auf der Luke schien etwas zu stehen. Aber wenn die Lady ihn in den unterirdischen Gang geschickt hatte, dann musste es hier auch einen Ausweg geben!

Ben Raider versuchte es noch mal. Plötzlich ging es leichter. Licht viel herunter, durch einen schmalen Spalt. Ben Raider vergrößerte den Spalt. Teppichfransen hingen herab. Natürlich – die Luke war mit einem Teppich gesichert, damit man sie nicht so leicht entdeckte.

Wessen Wohnung war das? Wohnte die Lady hier? Anders konnte es nicht sein. Es würde die Existenz des Geheimganges und das Motiv zu seinem Bau ausreichend erklären.

Als die Öffnung groß genug war, kletterte Ben Raider nach oben. Erstaunt blickte er sich um. Ein gemütlich eingerichtetes Zimmer! Ein kalter Kamin, eine reich verzierte Sitzgruppe – eisenbeschlagen und mit Leder verspannt.

Der Geschmack der Lady! Ben Raider hatte richtig getippt.

Er kletterte vollends ins Freie, streifte die Kommode, die mit einem Bein halb auf der Luke gestanden hatte, nur kurz und huschte zum Fenster.

Von hier aus konnte er sehen, was sich vor dem Saloon abspielte.

Es war, als hätte die Lady, deren Namen Ben Raider immer noch nicht wusste, nur auf diesen Moment gewartet. Als hätte sie sich genau ausgerechnet, wann Ben Raider Zeuge ihres einmaligen Schauspiels sein konnte ...

Und sie lieferte den Belagerern wirklich ein Schauspiel, das seinesgleichen suchte!

Es begann mit einem gellenden Schrei. Das klang, als würde die Lady schlimm gefoltert! Dann krachte etwas von innen gegen eins der geschlossenen Saloonfenster. Mit einer Flut aus Scherben stürzte die Lady ins Freie – immer noch schreiend. Sie blieb zusammengerollt am Boden liegen; wimmerte und schrie, dass man glauben musste, im nächsten Augenblick würde der Teufel persönlich in der Fensteröffnung erscheinen.

Vorsichtshalber schickten die Belagerer ein paar Schüsse in die Öffnung doch es zeigte sich nichts.

Natürlich, dachte Ben Raider, schließlich bin ich ja gar nicht mehr im Haus. Die Lady war allein!

Wäre sie durch die Tür ins Freie spaziert, wäre es ihr so ergangen wie ihrem Keeper. So aber schießt kein Mensch auf sie!

Nachdem aus dem Saloon keine Schüsse erfolgten, rannten drei Männer geduckt auf die wimmernde Lady zu.

Eine normale Frau hätte sich beim Sturz so zerschnitten, dass sie es nicht überlebt hätte. Die Lady jedoch war keine normale Frau!

Ben Raider schaute hinüber und spürte, dass seine Kehle staubtrocken wurde. Nicht von der Hitze draußen und nicht vom Sand, den er unterwegs gefressen hatte.

»Teufelslady«, nannte Ben Raider sie im Stillen.

Er beobachtete so lange, bis er sicher war, dass ihr nichts fehlte. Die drei Männer winkten beruhigt zu ihren Kumpanen herüber.

Das hatte er wissen wollen! Jetzt erst kümmerte sich Ben wiederum die übrige Umgebung.

Eine Tür führte ins Treppenhaus. Von dort ging es auf die Straße. Genau neben dem Haupteingang lehnte ein Kerl – mit dem Gewehr in der Armbeuge, Deckung suchend hinter einem Stützpfeiler. Er hatte eine erloschene Kippe im Mund und rollte sie zwischen den Lippen hin und her.

Ben Raider glitt lautlos zur Tür, die ins Treppenhaus führte.

Es gab einen Hinterausgang, Dorthin wollte Ben Raider! Nach vorn war es zu gefährlich. Er würde sich direkt auf einen Präsentierteller begeben, obwohl aller Augen auf den Saloon gerichtet waren.

Ben Raider dachte sich, dass die großartige Einrichtung des Saloons nun doch nicht dran glauben musste. Wenn die Belagerer einmal herausgefunden hatten, dass von drinnen nicht mehr auf sie geschossen wurde, wurden sie mutiger und wagten sich näher heran. Sie würden es nicht als notwendig ansehen, das Gebäude niederzubrennen.

Bis dahin jedoch wollte Ben Raider in Sicherheit sein!

Er öffnete den Hinterausgang und erstarrte. Vor ihm stand ein vierschrötiger Kerl mit Stoppelkinn: ungepflegt, nach Schweiß und Pferdemist stinkend. Das einzig Gepflegte waren das Gewehr in seinem Arm und der Colt in dem Holster.

Ben Raider überwand als Erster seine Schrecksekunde. Er konnte es nicht wagen, auf den Kerl zu schießen. Dann hatte er die ganze Stadt am Hals!

Er schlug schnell und präzise zu. Die mächtige Faust von Ben Raider hämmerte in den Bauch des anderen. Der verlor sein Gewehr.

Ben Raider fing es auf, ehe es laut über den Boden scheppern konnte.

Er setzte einen Uppercut an die Kinnspitze des Gegners, was diesen aus den Stiefeln hob.

Ehe der vierschrötige Kerl polternd auf die Terrassendielen fallen konnte, fing Ben Raider auch ihn auf.

Ben Raider überlegte blitzschnell: Der Geheimgang war niemandem bekannt! Wenn der Typ hier allerdings zu sich kam und erzählte, wo und wann er Ben Raider begegnet war, ging es mit der Lady zu Ende. Man würde rasch die richtigen Schlüsse ziehen.

Man würde seine Lady richten!

Ben Raider durchsuchte den Mann und fand ein Messer. Damit stieß er zu gezielt und ohne Skrupel.

Er richtete sich nach der Tat auf und fühlte sich innerlich leer, als hätte ihn das Messer selbst getroffen.

Es hat sein müssen!, redete er sich ein. Nicht nur für die Lady, sondern auch für mich. Ich kann jetzt aus der Stadt fliehen, aber ich werde Thompson nicht für immer den Rücken kehren. Das Schauspiel der Lady und auch ihr Einsatz für mich waren nicht umsonst. Ich werde das Geheimnis um Thompson lösen – koste es, was es wolle.

Er hob den Kopf und schloss die Augen.

»Auch deinetwegen, John«, murmelte er leise. »Man sagt, du warst ein Schwein – aber man hat dich ermordet. Ich werde dich rächen, denn schließlich warst du mein Bruder!«



8

Um diese Jahreszeit war der Boden trocken, das Gras gedörrt. Es war die Zeit nach den großen Trails, wenn die riesigen Viehherden bei den Schlachthöfen in den Ballungszentren abgeliefert waren, damit die restlichen Rinder noch ernährt werden konnten.

Dieses Jahr war besonders trocken und besonders heiß. Texas schien sich in eine Wüste verwandeln zu wollen. Jedenfalls war das Ben Raiders Eindruck, als er die letzten Häuser von Thompson vor sich hatte. Es war ihm gelungen, bis jetzt nicht aufzufallen, denn jeder in der Stadt richtete sein Hauptaugenmerk auf den Saloon.

Es gab wesentlich mehr Menschen zurzeit in der Stadt, als hier normalerweise wohnen mochten.

Alles Rancher und Farmer?

Ben Raider konnte sich nicht vorstellen, dass dies karge Land rund um Thompson so vielen Menschen Brot geben konnte. Thompson blieb ein Geheimnis – ein besonders tödliches Geheimnis, wenn man es zu lüften versuchte.

Vor dem Telegramm und dem Brief seines Bruders hatte Ben Raider Thompson nicht gekannt: Richtig – es gab mehr als einen Ort mit diesem Namen, aber das Nest war so unbekannt wie seine Geheimnisse.

Ben Raider dachte an seinen Bruder und knirschte mit den Zähnen. Er hatte die letzte Strecke vor sich, um die Stadt zu verlassen, aber er zögerte: Dort draußen gab es keine Deckungsmöglichkeiten mehr! Er hätte warten müssen bis zum Einbruch der Dunkelheit – aber bis dahin schien es noch eine Ewigkeit zu sein.

Ben Raider sicherte nach allen Seiten. Das Haus, in dessen Schatten er sich duckte, besaß einen staubigen Vorgarten, der außerhalb der Trockenheit gewiss schmucker aussah.

Raider zog den Stetson und wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. Dann setzte er den Hut wieder auf und sprintete los.

Ben Raider gelangte zur Umgrenzung und flankte behände darüber. Die Colts waren mit Riemchen gesichert und konnten deshalb nicht aus den Holstern fallen. Er rannte weiter! Nur noch ein einziges Gebäude – etwas zurückgesetzt, weniger gepflegt; mit windschiefem, grob gezimmertem Stall an der Rückseite. Die Farbe war längst abgeblättert und hatte hässliche Flecke hinterlassen. Die schmutzigen Fensterscheiben ließen keinen Blick ins Innere zu. Blumen hatte dieses Haus schon lange keine mehr gesehen, nicht nur während der Trockenheit.

Raiders letzte Hürde – und die sollte ihm zum Verhängnis werden!

Ben Raider spürte ein eigenartiges Ziehen in der Magengegend. Sein sechster Sinn, der ihm so oft das Leben gerettet hatte! Voll aus dem Laufen heraus hechtete er zu Boden. Etwas zischte über ihn hinweg. Plötzlich stand die Tür des windschiefen, ungepflegten Hauses auf. Ein Schatten, der Lauf eines Gewehrs, der brechende Schuss! Alles dies nahm Ben Raider in Sekundenbruchteilen auf.

Er landete in einer Rolle vorwärts, fuhr durch die Lücke im halb niedergerissenen Zaun, zerkratzte sich die Haut an einem Dornenbusch, fand mit den Stiefeln Halt und stieß sich ab. Ben Raider schlitterte durch den Staub hinter einen Holzstapel. Eine Kugel fetzte hinein und ließ die trockenen Späne splittern.

Raider löste die Riemensicherung an den Colts und zog blank. Aber er schoss nicht, sondern blieb ruhig liegen.

Nichts rührte sich! Es wurde auch nicht mehr geschossen. Sekundenlang dauerte die Stille an. Plötzlich pfiff jemand laut und durchdringend. Das konnte man gewiss in der halben Stadt hören. Ein Schuss bellte! Er galt jedoch nicht Ben Raider, sondern war ebenfalls ein Signal.

In der Ferne wurden Stimmen laut. Schritte verließen das Haus. Zwei Männer! Einer sagte laut und ungeniert: »Den hat es erwischt, mein Freund. Der ist nicht aus Eisen. Ein ganz normaler Mensch!«

»Und wie hat er es geschafft, das Saloongebäude zu verlassen und hierherzukommen?« Das klang ängstlich. Es war eine noch junge Stimme.

»Keine Ahnung. Yeah – ein toller Bursche, aber leider gehört er nicht zu uns!«

Sie teilten sich und bogen um den Holzstoß. Beide hielten schussbereite Gewehre in den Fäusten. Doch das nutzte ihnen nichts ...

Ben Raider sah das Gesicht des Jungen. Vielleicht Mitte zwanzig! Er hatte mit seinem Gewehr auf Ben Raider geschossen. Fast erfolgreich. Wahrscheinlich war er von beiden der bessere Schütze!

Und er reagierte auch am schnellsten, indem er nämlich den Lauf des Gewehrs herumfliegen ließ. Gleichzeitig krümmte sich sein Zeigefinger um den Abzug.

Ben Raider drückte vorher ab – gegen beide Gegner! Seine Revolver donnerten los. Gleichzeitig, erbarmungslos! Beide trafen ins Ziel. Das Gewehr des Jungen bohrte sich in den Staub. Mit dumpfem Knall brach der Schuss und ließ Dreck aufspritzen. Es sah so aus, als würde sich der Sterbende mit dem Gewehr hochstützen wollen – doch das gelang ihm nicht. Er kippte haltlos zur Seite hin um.

Ben Raider sprang aus dem Liegen empor, flankte über den Holzstoß und rannte in Richtung Haus.

Die Stimmen aus der Stadt waren schon verdammt nahe. Eine wilde Meute, die Jagd auf ihn machte!

Raider hatte die verzweifelte Hoffnung, dass die beiden Pferde der Heckenschützen im Stall waren.

Er kam an der offenen Tür vorbei und rannte ins Haus. Ein einziger Raum – unaufgeräumt, mit Abfällen in den Ecken. Hier konnten sich wahrscheinlich nur Ratten wohl fühlen. Oder Kerle wie die beiden, die ihn hier beinahe abgefangen hätten!

Außer denen gab es niemanden im Haus.

Ben Raider sah leere Flaschen. Eine halbvolle Whiskypulle stand auf dem wackligen Tisch. Die beiden waren offenbar nicht mehr ganz nüchtern gewesen.

Das Ganze erinnerte an ein Wachgebäude. In der Tat – von hier aus konnte man einen guten Teil des Außenbezirks von Thompson überblicken, obwohl das Gebäude ein Schandfleck war und deutlich gegenüber den anderen Bauwerken abstach.

Ben Raider entdeckte die Tür, die zum Stall führte. Also hatte er sich nicht geirrt! Er riss sie auf.

Zwei Pferde! Sie schnaubten nervös, als er eintrat, Mühsam zügelte sich Ben Raider. Wenn er wie ein Wilder hereinstürzte, wurden die Reaktionen der Tiere unberechenbar. Ben Raider kannte sich aus. Die Pferde witterten, dass er ein Fremder war. Als er aber beruhigend auf sie einsprach, hoben sie lauschend die Köpfe. Ihre Ohren spielten.

Ben Raider griff in die Mähne des einen. Das Tier zuckte leicht zusammen. Er kraulte es zwischen den Ohren und tätschelte beruhigend seinen Hals. Mit der freien Hand öffnete er gleichzeitig das Gatter.

Das Pferd war ungesattelt und hatte kein Zaumzeug. Ben Raider schwang sich trotzdem drauf! Seine Hände krallten sich in die Mähne. Das Tier ging wiehernd mit der Vorderhand hoch, drehte sich um und preschte aus dem Verschlag in Richtung Tor.

Das Tor stand weit genug offen, damit die Hitze, die sich unter dem Dach staute, besser abziehen konnte.

Ben Raider legte sich nach vorn, auf den Hals des Pferdes – und galoppierte hinaus! Obwohl das Tier Angst hatte, gelang es Raider, den Gaul zu dirigieren. Er hatte die Sporen ausgezogen, aber die brauchte er gar nicht. Er kitzelte mit den Stiefelabsätzen die empfindlichen Flanken des Pferdes. Das genügte! Der Gaul setzte über den Zaun hinweg und galoppierte weiter: Nicht aus der Stadt hinaus, wie man annehmen sollte, sondern genau der Meute entgegen, die Ben Raider jagte!

Denn außerhalb der Stadt war nur freies Feld. Man konnte auf den Fliehenden bequem Zielschießen veranstalten. Man konnte ihn aber auch in breiter Front jagen und so lange hetzen, bis sein Pferd unter ihm zusammenbrach!

Ben Raider tat das einzig Richtige – und damit etwas, womit niemand rechnete.

Man hatte die Schüsse gehört und eilte herbei – und als er jetzt auf die Straße galoppierte, tief über den Hals des Pferdes gebeugt, glaubten sie zunächst, es handele sich um einen der Ihren.

Bis Ben Raider die Colts zog und aus vollem Galopp heraus auf die Männer schoss!

Eine Obermacht von mindestens vierzig Leuten. Die Hälfte saß bereits auf Pferden. Andere rannten zu ihren Ställen.

Ben Raider fuhr mit donnernden Colts mitten rein! Wenn sie selbst schossen, gefährdeten sie sich gegenseitig. Aber sie waren viel zu erschrocken, um überhaupt ans Schießen zu denken. Und dann ließen sie sich von ihren Pferden rutschen, weil sie Angst hatten. Die Pferde gingen ihnen durch. Ein Chaos entstand!

Die Schüsse von Ben Raider waren ungezielt gewesen. Er hatte nur genau das Durcheinander erzeugen wollen, wie es ihm gelungen war.

Die Männer schrien wild durcheinander. Ein paar robbten im Staub der Main Street. Alle waren auf dem Weg zu einer brauchbaren Deckung.

Die Pferde hatten sich geteilt. Die Hälfte galoppierte in die ursprüngliche Richtung weiter – die andere Hälfte folgte der Richtung, in die Ben Raider wollte.

Raider suchte sich eins aus und glich seine Geschwindigkeit an. Seine Colts steckten wieder in den Holstern: leer geschossen. Aber das war kein Problem: Im Sattelhalfter des Pferdes befand sich eine Winchester. Ben Raider wechselte in rasenden Galopp über und ritt auf dem durchgehenden Schecken am Saloon vorbei.

Dort standen Bewaffnete, die offenbar auf ihn gewartet hatten – aber als sie den Schecken sahen, zögerten sie zu schießen.

Ben Raider zog das Gewehr und feuerte. Schleunigst warfen sich die Männer in Deckung.

Auch diese Hürde hatte Raider genommen!

In einer Seitenstraße sah er »seine« Lady in Begleitung von zwei Männern, die sofort nach ihren Colts griffen. Ben Raider konnte nicht sehen, was sie mit der Lady anstellten. Schon war er vorbei! Er ließ dem Schecken die Zügel frei. Das Tier jagte wie der Sturmwind über die Main Street zum anderen Ende der Stadt.

Dorthin wollte Ben Raider. Er war aus der anderen Richtung gekommen, jetzt ging es nach Norden. Dort gab es Felsen und auch Verstecke!

Den Höllencanyon, von dem sein Bruder im Brief geschrieben hatte, ebenfalls?



9

Auf dem Schecken preschte Ben Raider aus der Stadt. Diesmal wurde er von niemandem mehr auf gehalten! Vor sich sah er freies Feld. Die Straße beschrieb einen sanften Bogen nach Nordosten, um das Bergmassiv zu umrunden, das in dieser flachen Gegend irgendwie deplatziert wirkte.

Ben Raider folgte zunächst der Straße, bis er einen Nebenweg erreichte. Der Schecke war schon merklich langsamer geworden. Sein Körper dampfte. Er würde das Tempo nicht mehr lange durchstehen können.

Ben Raider hielt die Zügel locker in der Hand.

Der Seitenweg war steinig und voller Schlaglöcher. Hier war es zu gefährlich, das Pferd weitergaloppieren zu lassen. Sie würden sich beide den Hals brechen!

Ben Raider griff in die Zügel. Der Schecke wieherte protestierend und stoppte, dass es Raider fast aus dem Sattel hob. Dann ging er mit der Vorderhand hoch. Seine Hufe wirbelten. Dem Tier quollen schier die Augen aus dem Schädel!

Ben Raider blieb im Sattel. Er redete auf den Schecken ein, um ihn zur Ruhe zu bringen.

Es nutzte was! Stampfend blieb der Schecke stehen. Er schüttelte den Kopf, dass die Mähne flatterte. Seine Flanken zitterten vor Erschöpfung, aber die Angst war überwunden.

»So ist er brav«, murmelte Ben Raider und klopfte ihm den Hals. »Ja, so ist er brav!«

Er wartete einen Augenblick, währenddem er sich umschaute.

Es gab noch keine Verfolger, aber er würde sich nicht lange hier aufhalten dürfen.

Wieder klopfte er den Hals des Schecken. Dann zupfte er kurz an den Zügeln und kitzelte die Flanken des Tieres.

»Tut mir Leid, Schecke – aber wir müssen weiter, sonst ist es aus mit unserem guten Vorsprung!«

Das Tier schien seine Worte zu verstehen. Es setzte sich in Bewegung und trabte den unbefestigten Weg entlang, der genau in die Berge führte.

Der Boden wurde rasch steiniger. Jetzt ahnte man den Weg nur noch! Die ohnehin schon karge Pflanzenwelt wurde noch spärlicher. Hier konnten sich sogar Krüppelfichten kaum halten! Eine Umgebung, die wenig bot. Ben Raider machte sich mal wieder Gedanken über die Leute von Thompson. Wovon lebten sie bloß? Der Ort machte nicht gerade einen armen Eindruck. Aber wenn man die Umgebung betrachtete, könnte man es vermuten.

Im Brief hatte nichts von Minen gestanden. Auch gab es keine Hinweise darauf. Ben Raider hatte sich über Thompson erkundigen wollen, aber niemand hatte darüber etwas zu sagen gewusst.

Als hätte es Thompson vor wenigen Wochen noch gar nicht gegeben!

Ben Raider schüttelte den Kopf. Da war noch eine Möglichkeit: Die Leute von Thompson trugen ein einträgliches Geheimnis mit sich herum – und sie hielten dicht, obwohl es Rivalitäten zu geben schien. Sie hielten sogar so dicht, dass niemand außerhalb von Thompson auch nur das Geringste ahnte! Außerdem lag der Ort so abgelegen, dass sich kaum einmal jemand hierher verirrte. Und wie man mit Fremden umzugehen pflegte – das hatte Ben Raider am eigenen Leib erfahren ...



10

Er schaute wieder mal über die Schulter zurück.

Aus der Stadt löste sich ein Pulk von Reitern, jetzt hatte man also endlich einen Verfolgertrupp organisiert! Ben Raider hatte wirklich ein großes Durcheinander verursacht.

Er runzelte die Stirn. Trotzdem hatte die Truppenzusammenstellung zu lange gedauert. Die Verfolgung war längst überfällig! Was hatte für die Verzögerung gesorgt? Waren sich die Leute von Thompson untereinander etwa uneinig?

Ben Raider dachte an die vagen Andeutungen der Saloonbesitzerin. Dann richtete er den Blick wieder nach vorn. Der Schecke war ausgepumpt und würde nicht mehr lange durchhalten. Er würde sich wohl von dem Tier trennen müssen! Es war auch gescheiter so: Zu Fuß würde er besser untertauchen können.

Rasch durchsuchte er das Sattelzeug. Ben Raider fand Proviant für zwei Tage, genügend Wasser und – Munition! Das ließ ihn stutzen. Wieso war das Tier so bepackt? War sein Reiter von außerhalb gekommen?

Ben Raider verschob seinen Gedanken, zu Fuß den Weg fortzusetzen, und lockerte die Zügel wieder. Er ließ den Schecken laufen, wie er wollte. Das Tier zögerte keine Sekunde! Es steuerte schnurstracks auf einen Felseinschnitt zu. Rechts und links stiegen Geröllfelder hoch. Der Einschnitt wurde sehr schnell schmaler und endete weiter vorn in einer Schlucht.

Das Tier schien diesen Weg gut zu kennen!

Aber setzte das nicht voraus, dass sein Reiter diesen Weg schon oft genommen hatte? Dann bestand immerhin die Wahrscheinlichkeit, dass Ben Raider bereits erwartet wurde! Kein Wunder, wenn die Verfolger sich Zeit gelassen hatten. Sie brauchten ihm nur den Rückweg abzuschneiden!

Ben Raider zögerte nicht mehr länger. Er nahm den Proviant und die Munition an sich, vergaß auch nicht die Wasserflasche und saß ab. Als er dem Schecken leicht auf die Hinterhand schlug, trabte das Tier brav weiter.

Ben Raider widerstand dem Impuls, dem Schecken zu folgen, um zu sehen, wo sein Ziel war. Er orientierte sich kurz und begann dann, das Geröllfeld rechter Hand zu erklimmen. Er musste sich beeilen! Das Geröllfeld war von der Stadt her nicht einsehbar. Wenn die Verfolger kamen, musste er längst oben sein!

Unterwegs galt es höllisch aufzupassen, damit sich unter seinem Tritt keine Steine lösten und ihn abwärts mit sich nahmen. Die Reitstiefel waren denkbar ungeeignet für die Klettertour, aber Ben Raider hatte keine Wahl.

Keuchend erreichte er einen schmalen Grat. Zerrissener Felsen barg tausend Versteckmöglichkeiten für Kleingetier. Hier gab es gewiss Schlangen und andere Viecher, vor denen Ben Raider sich hüten musste. Aber die Felsspalten und Einschnitte waren zu schmal, um ihm Deckung zu bieten. Er musste weiterklettern!

Wenig später kauerte er sich unter einen Vorsprung, der kühlenden Schatten spendete. Der Schweiß floss ihm in Strömen den Buckel hinab. Ben Raider widerstand dem brennenden Wunsch, die Wasserflasche zu öffnen. Er leckte sich über die spröden Lippen. Nein – es war besser, wenn er mit der kostbaren Flüssigkeit haushielt! Hier war alles trocken – und wenn er jetzt schon die Flasche leerte, war er am nächsten Tag tot: verdurstet!

Ben Raider beugte sich etwas vor. Ein Vorzugsplatz, wie er fand! Von hier aus konnte er den Weg zwischen den Geröllfeldern gut überblicken. Er konnte auch einen Teil der Schlucht sehen. In einiger Entfernung stieg die Talsohle an. Wuchtige Felsen verbargen die Sicht dorthin.

Minuten vergingen ...



11

Die Verfolger kamen! Sie bewegten sich vorsichtig und auch nicht zu schnell. Immer wieder sicherten sie nach allen Seiten, als befürchteten sie eine Falle.

Ben Raider sah seinen Verdacht bestätigt: Die Verfolger hatten es nicht eilig. Sie schienen damit zu rechnen, dass Ben dem Weg weiter in die Schlucht gefolgt war.

Am Eingang zügelten sie ihre Pferde. Sie besprachen sich untereinander. Ben Raider lauschte – aber der leise rauschende Wind in der Höhe verstümmelte die zu ihm heraufwehenden Worte bis zur Unkenntlichkeit.

Einer wies immer wieder in die Schlucht hinein.

Die Hälfte des Verfolgertrupps spaltete sich ab. Sie wollten weiter in die Schlucht und schienen etwas dagegen zu haben, dass die anderen zu folgen beabsichtigten.

Ein Disput ergab sich!

Es sah beinahe so aus, als würde es zum Kampf kommen, aber Ben Raider hoffte vergeblich: Die beiden Parteien einigten sich schließlich. Die eine Hälfte ritt tiefer in die Schlucht hinein, während die andere Hälfte zurückblieb.

Bald darauf begannen wieder wilde Diskussionen unter den Zurückgebliebenen.

Ben Raider zählte sechzehn schwer bewaffnete Männer und schätzte seine Chancen ab. Er betrachtete die Zurückgebliebenen. Ben Raider hatte keine Skrupel, so lange es um sein Leben ging. Ungerührt wartete er ab, bis sich die Gruppe der sechzehn vom Eingang der Schlucht zurückgezogen hatte. Sie waren unschlüssig und wussten offenbar nicht, was sie tun sollten. Einer deutete in Richtung Stadt.

Ben Raider wartete, bis sie genau zwischen den Geröllfeldern waren. Dann bückte er sich nach einem großen Stein und warf ihn auf das Feld.

Die Männer hatten gute Ohren. Ihre Köpfe flogen herum. Sie schauten herauf und erkannten Ben Raider auf dem schmalen Grat, der am überhängenden Felsen endete.

Er war gerade dabei, den zweiten Brocken auf das Feld zu werfen! Der Stein riss andere mit sich los. Gleich kullerten zehn, dann zwanzig abwärts. Das Ganze weitete sich zu einer Lawine aus! Ein Stein löste den anderen. Das Feld kam mehr und mehr in Bewegung.



12

Und Ben Raider beförderte unermüdlich noch andere Steine auf das Feld: drei, vier, fünf, sechs, sieben ...

Noch hatten die ersten Steine nicht die Männer erreicht, aber die Pferde ahnten schon etwas. Sie schnaubten nervös. Einige wieherten.

Die Männer rissen ihre Waffen heraus und schossen, aber die Pferde waren zu unruhig. Da konnte niemand treffen! Ben Raider brauchte nicht einmal in Deckung zu gehen.

Er arbeitete unermüdlich weiter. Wilde Schreie drangen von unten zu ihm herauf. Jetzt hatten die Männer erkannt, dass sie verloren waren – aber sie befanden sich genau in der Mitte und wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten: Zum Eingang der Schlucht oder in Richtung Stadt? Der Weg war schmal. Sie behinderten sich gegenseitig!

Weitere Schüsse lösten sich und wurden zwischen den Geröllfeldern zu rollendem Donnern. Die Steinlawine ergoss sich polternd und krachend nach unten.

Jetzt drehten die Pferde durch! Sie preschten los und warfen ihre Reiter ab. Einer blieb mit dem Stiefel im Steigbügel hängen. Er brüllte wie ein Irrer – doch das nutzte ihm nichts. Sein Pferd schleifte ihn in Richtung Schlucht. Das überlebte er nicht.

Und da war die Steinlawine auch schon unten! Brocken, manche so groß wie Kinderköpfe, manche kleiner – aber in der Masse waren sie alle tödlich. Sie ergossen sich über die Männer, die ausgezogen waren, Ben Raider zu töten. Ihre Schreie verebbten.

Nur die Pferde hatten es geschafft, rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu kommen.

Ben Raider schaute nach unten und knirschte mit den Zähnen. Er hatte sich die Hände an den scharfkantigen Steinen aufgescheuert – doch diesen Schmerz spürte er schon gar nicht mehr.

Nicht dass er seine Tat bedauerte! Schließlich war es die einzige Möglichkeit gewesen, dem Tod zu entrinnen. Er konnte nicht ständig davonhetzen wie ein gejagtes Wild. Er war ein Mann und musste sich den Verfolgern stellen.

Er ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, an etwas anderes zu denken.

In Gedanken verfluchte er seinen Bruder, weil dieser ihn in diese Falle gelockt hatte!

Aber dann beruhigte er sich wieder. Seine Haltung lockerte sich. Seinem Bruder konnte er keine Schuld geben: John war tot. Er hatte zu hoch gespielt und verloren – für immer. Und Ben Raider war hier, um John Raider zu rächen ... und um selber zu überleben.

Er wandte sich langsam ab. Zwar wusste Ben Raider noch nicht genau, wie es weitergehen sollte – aber er musste diesem Ort schleunigst den Rücken kehren, denn bald würde man kommen, um nachzusehen. Die Steinlawine war gewiss nicht unbemerkt geblieben.

»Halt!«, sagte plötzlich eine harte Stimme.

Ben Raider blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

Er hob den Kopf. Ein Mann geriet in sein Blickfeld. Er stand an der Spitze des Felsvorsprungs, unter dem Ben vor Minuten noch Schatten gefunden hatte. In der Armbeuge trug der Mann ein Gewehr. Die Mündung zeigte unmissverständlich auf Raiders Bauchnabel. Der Zeigefinger des Mannes befand sich am Abzug.

Der Kerl wirkte ungepflegt und verschwitzt. Er hatte den Hut tief in die Stirn gezogen. Sein Halstuch war speckig, das Kinn stoppelig. Zwischen den Zähnen rollte er ein Hölzchen, auf dem er zwischendurch immer wieder herumkaute.

Ben Raider betrachtete den tief geschnallten Colt. Niemand brauchte ihm zu sagen, dass er einen Banditen vor sich hatte – einen Killer. Thompson schien davon nur so zu wimmeln. Diese Stadt zog Revolverhelden und Banditen an wie Motten das Licht!

Ben Raider schätzte seine Chancen ab.

»Keine falsche Bewegung!«, rief jemand gehässig. Eine andere Stimme aus einer anderen Richtung.

Und Ben Raider hatte nicht einmal bemerkt, dass sie ihn umzingelt hatten. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Steinlawine zu erzeugen. In der trügerischen Hoffnung, dadurch wenigstens einen Teil der Gegner vom Hals zu bekommen!

Ben Raider wandte den Kopf. Da stand einer auf dem schmalen Felsgrat. Ein Typ, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der andere. Zwei Gewehre – und der Grat war zu schmal. Ben Raider würde nicht schnell genug aus der Schussrichtung kommen. Außerdem standen die beiden so, dass sie sich nicht gegenseitig gefährdeten, falls sie auf Raider schossen.

Falls! Das war der Gedanke, der in Ben Raider neue Hoffnung weckte. Alle waren darauf aus gewesen, ihn umzubringen, nachdem er seinen Namen genannt hatte. Diese hier wollten ihn lebend! Das war offensichtlich.

Langsam hob Ben Raider die Hände. Sie öffneten und schlossen sich krampfartig.

»So ist das richtig, Fremder«, knurrte der auf dem Felsvorsprung. »Scheinst ein helles Köpfchen zu sein, yeah! Obwohl ich ganz gern mal sehen würde, ob du mit den Dingern umgehen kannst, die da an deiner Hüfte baumeln. Oder dienen die nur zur Dekoration, wie?«

Der Zweite lachte hämisch. »Wir sind noch mehr Leute, Fremder! Du hast dich wohl verlaufen, heee? Kommt auf deine Erklärung an, was wir mit dir anstellen. Möchte zum Beispiel wissen, warum du die armen Tröpfe da unten über den Jordan geschickt hast!« Er lachte grell.

Sie nannten ihn also einen Fremden! Ben Raiders Gedanken wirbelten im Kreis. Natürlich – die konnten nicht wissen, dass er sich als Ben Raider vorgestellt hatte. Woher auch? Schien ein Wachtrupp zu sein, der den Eingang zur Schlucht beaufsichtigte. Das hätte er sich denken können. Aber hätte er anders handeln können? Auch wenn er von dem Wachkommando geahnt hätte?

Was hatten sie mit ihm vor? Was würden sie tun, wenn sie erfuhren, wer er war?

Gehörten sie zu der Gruppe, die offenbar in der Schlucht das Sagen hatte?

Ben Raider blieb nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben. Die beiden ließen ihm keine andere Wahl ...



13

Das Gebirgsmassiv, das aus der Ebene herausragte wie ein Mahnmal, war wild zerklüftet – aber die Banditen schienen sich hier bestens auszukennen. Der eine hatte nicht gelogen, als er davon sprach, dass sie mehr als nur zwei waren. Kaum war klar, dass es für Ben Raider keinen Ausweg mehr gab, pfiff der Bandit zwischen den Zähnen. Laut genug, um andere auf sich aufmerksam zu machen! Der Pfiff wurde prompt erwidert. Gleich darauf tauchten auf dem Felsvorsprung noch zwei auf.

Üble Gesellen!, konstatierte Ben Raider. Er fühlte sich um viele Jahre in die Vergangenheit versetzt. War es damals nicht ähnlich verlaufen, als er und sein Bruder in die Hände der Desperados gefallen waren – derselben Desperados, die ihre Eltern auf dem Gewissen hatten?

Damals hatte quasi Ben Raiders nicht unbedingt ehrenhafte Karriere als Revolvermann begonnen.

Auch wenn er die Waffen zumeist auf der Seite des Rechts und der Ordnung eingesetzt hatte, gab ihm die Erinnerung nun einen Stich ins Herz.

Wie in Trance löste er die schweren Holster und ließ die kostbaren Waffen achtlos zu Boden gleiten. Erkletterte das kurze Steilwandstück empor auf den Felsvorsprung. Oben gab es eine fast dreißig Fuß tiefe Felsplatte und eine Höhle, worin das Wachkommando normalerweise campierte.

Und ich habe nicht einmal was davon geahnt, wie nahe der Gegner war!, haderte Ben Raider mit sich selbst. Aber er hatte schließlich sein Hauptaugenmerk den Verfolgern zuwenden müssen.

Sie waren insgesamt fünf! Der Mann, der auf dem Felsgrat Raiders Weg abgeschnitten hatte, gehörte dazu. Man konnte die Felsplatte auch über den Grat erreichen. Nur war das ein kleiner Umweg.

»Ihr seid ja ziemlich stark vertreten«, murmelte Ben Raider verächtlich.

»Nicht dir gebührt die Ehre«, entgegnete einer geschwollen, zog den Hut und kämmte sich mit einer Art Holzharke. Grotesk, wenn man bedachte, wie ungepflegt er sonst erschien. Aber er bewegte sich wie ein Dandy – und seine Colts waren geputzt wie der Schmuck einer Frau. Ben Raider mochte keinen der fünf. Da war keiner, der nicht mindestens zehn Jahre hinter schwedischen Gardinen verdient hätte! Galgenstricke brutal, hinterhältig, mörderisch! Sie würden sieh einen Spaß daraus machen, ihn um zubringen, Schön langsam, mit sadistischer Freude.

Ben Raider spürte prompt Magendrücken – aber er hatte gegen die fünf Banditen nicht die geringste Chance.

Der Dandy lachte gehässig. Dann sagte er: »Bin gespannt, wer uns da ins Netz gegangen ist! Etwa der angekündigte Bruder von John Raider?«

Er betrachtete Ben lauernd. Doch der gab sich äußerlich gelassen, als ginge ihn das Ganze überhaupt nichts an; als stünde sein eigenes Leben gar nicht auf dem Spiel.

Er antwortete nichts, sondern widerstand ruhig dem forschenden Blick.

Der Dandy zuckte die Achseln und rückte den Hut zurecht.

»Ich werde ihn ins Lager bringen, Jungs. Passt hier gut auf – und dass mir keine Klagen kommen!« Er lachte abermals und schnalzte mit der Zunge.

Ben Raider gab er einen Wink. Der Gefangene musste sich umdrehen und die Arme hinter dem Rücken kreuzen. Sie banden ihn mit einem derben Strick so fest, dass es ihm tief ins Fleisch schnitt. Aber Ben Raider verzog keine Miene. Er sah die Banditen nur finster an.

»Scheint gefährlich zu sein, der Bursche – wie?« Der Dandy trat ihn mit voller Wucht. Ben Raider, darauf nicht gefasst, taumelte vorwärts, wurde von einem anderen Banditen abgefangen und zurückgestoßen.

Sie traten und schlugen nach ihm. Feurige Ringe tanzten vor Ben Raiders Augen. Dazwischen sah er unrasierte, verzerrte Gesichter; hörte er brutales Lachen.

Die Hiebe spürte er bald nicht mehr. Bis er am Boden lag, unwillkürlich zusammengekrümmt!

Sie ließen von ihm ab. Blut rann ihm aus den Mundwinkeln. Er hatte nicht die Kraft, wieder aufzustehen – und wenn er die Augen öffnete, wirkte alles verschleiert.

»So, Bursche – damit du unterwegs keine Dummheiten machst«, sagte der Dandy schadenfroh.

Weitere Tritte brachten Ben Raider wieder auf die Beine.

Da stand er: gebeugt, schwankend wie ein Strohhalm im Wind. Seine mächtige Gestalt erschien niedergedrückt, aber schon richtete sich Ben Raider wieder auf! Er betrachtete die Banditen ruhig, emotionslos. In seinem Gesicht arbeitete kein Muskel. Ein Auge war geschwollen, das Blut aus Mund und Nase getrocknet. Das verlieh seinem Gesicht etwas Dämonisches.

Die Augen lebten – und kannten keine Gnade.

Vor diesen Augen wichen die Banditen zurück.

Einer holte aus und versetzte Ben Raider eine schallende Ohrfeige, sodass sein Kopf zur Seite flog.

Ben Raider schaute auch ihn an. Kein Anzeichen von Schmerz, nur unbeugsamer Wille ...

»Auf geht’s!«, knurrte der Dandy rau. Er schien sich auf einmal nicht mehr wohl in seiner Haut zu fühlen und stieß Ben Raider in den Rücken.

Der große Mann hatte keine andere Wahl, als vor dem Dandy herzugehen. Sie verließen das Felsplateau, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Ein felsiger Weg führte in steilen Serpentinen abwärts. Sie kamen zu einem Punkt über der Schlucht, von wo aus man alles gut überblicken konnte.

Auch Ben Raider wagte einen Blick. Die Schlucht war leer. Gesteinsbrocken lagen wahllos verstreut. Es gab keinerlei Vegetation. Eine tote Steinwüste, in der kein Leben gedeihen konnte – wenigstens nicht zu dieser Jahreszeit.

»Weiter!«, zischte der Dandy und gab ihm einen Stoß, dass Ben Raider beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Im letzten Augenblick warf Ben Raider sich zurück.

Wieder traf den Dandy ein Blick aus den stahlgrauen Augen. Der Bandit schluckte unwillkürlich.

Er war bewaffnet und sein Gegner sogar gefesselt. Dennoch war ihm vor Ben Raider unheimlich.

Ob er ahnte, wen er vor sich hatte?

Wortlos ging Ben Raider weiter. Der Weg war kaum als solcher zu erkennen. Es ging wieder aufwärts! Sie zwängten sich durch eine schmale Felsspalte, die so eng war, dass sie sich seitwärts bewegen mussten. Zwanzig Fuß vielleicht, bei denen man leicht Platzangst bekommen konnte! Dann war es vorbei. Vor ihnen öffnete sich ein weiteres Felsplateau, nicht ganz so eben. Ben Raider ging einfach weiter, bis zur Abrisskante.

Steil ging es abwärts! Ben Raider blickte hinunter – und traute seinen Augen nicht.

Eine weitere Schlucht – und darin befand sich ein blühendes Tal. Ein Garten Eden! Quer hindurch plätscherte ein Bach. Es gab Büsche, Bäume, saftiges Gras, eine große Rinderherde mit mindestens 1000 Stück und eine kleine Siedlung. Von oben sah alles sauber und friedlich aus.

Der Dandy blieb auf Abstand und pfiff hinunter. Da löste sich aus einer Felsnische ein Bewaffneter.

»Ein Gefangener, Cliff?«

Cliff, der Dandy, erklärte es kurz. In der Zwischenzeit traten unten Menschen vor die Hütten: Männer und Frauen! Die ersten Frauen, die Ben Raider außer der Lady bis jetzt seit seiner Ankunft im Thompson zu Gesicht bekam. Aber es waren keine Ladies, eher weibliche Tramps oder sogar Dirnen, Ben Raider sah die gepuderten und zu dick geschminkten Gesichter und die ordinären Kleider trotz der Entfernung. Er hörte schrilles Lachen. Ein paar der Frauen waren offenbar betrunken. Die Männer griffen nach ihnen. Auch ihr raues, grölendes Gelächter drang herauf.

Die Friedlichkeit war auf besonders brutale Weise zerstört. Aus einem Paradies war viel zu schnell der Schlupfwinkel einer üblen Bande geworden!

»Bring ihn nach unten, Cliff!«, knurrte der Wächter und winkte mit einer schwarzen Flagge hinunter. Einer winkte zurück. Er beteiligte sich nicht an der allgemeinen Orgie. Jetzt brüllte er den anderen etwas zu. Sie verhielten erschrocken.

Alle blickten herauf. Sie erkannten Ben Raider!

Aus einer abseits liegenden Hütte traten zwei Männer, die ebenfalls heraufschauten. Nur kurz! Dann formte einer der beiden die Hände zu einem Trichter und brüllte: »Ben Raider!«

Alle hörten es, auch Dandy Cliff. Er grinste verzerrt. »Dachte ich es mir doch!«

Ben Raider sah ihn an. Er zuckte mit den Achseln. Dann lachte er heiser.

Geronnenes Blut löste sich aus seinem Hals. Er spuckte es zu Boden.

»Ja, so hab ich mich vorgestellt – in der Stadt. Das stimmt!«

»Und das willst du jetzt widerrufen?«, erkundigte sich der Dandy lauernd.

»Warum sollte ich? Würde es denn etwas ändern?«

»Nein, in der Tat nicht – nachdem du das da gesehen hast!«

Der Dandy deutete ins Tal hinunter.

Ben Raider grinste. »Aber ich lebe noch, Cliff, nicht wahr? Yeah – ich lebe noch! Und jetzt führ mich endlich hinunter. Ich glaube, es wird noch interessant – für uns alle.«

»Das bezweifele ich nicht, Raider aber ich weiß nicht, ob es dir wirklich so gut gefallen wird!« Der Dandy fügte finster hinzu: »Kann sein, dass nur wir auf unsere Kosten kommen, he?«

Ben Raider suchte schon mit den Augen nach dem Abstieg, ohne auf die Worte des Dandys einzugehen.

Der Dandy führte ihn hin ...



14

Es war beschwerlicher, als Ben Raider angenommen hatte – zumal er sich mit den Händen nirgendwo abstützen konnte, solange er gefesselt blieb. Einmal bat er den Dandy darum, ihm die Fesseln abzunehmen. Doch der schlug nur stumm auf ihn ein! Darin ging es weiter.

Ben Raider hasste den Banditen dafür. Er wusste, dass er sich noch rächen würde!

Für alles: für den Mord an seinem Bruder, für den Terror, der von diesen Banditen ausging ... Vielleicht sogar für seine verlorene Kindheit, die niedergebrannte Ranch; die vielen Toten in seinem belämmerten Leben – als Gejagter und als Jäger!

Es ist wie damals, hämmerte es in seinem Kopf. Mitten in der felsigen Einöde ein kleines Paradies – und ausgerechnet der Abschaum der Menschheit hat dieses Paradies mit Beschlag belegt. Ob das kleine Tal von damals noch besteht? Als die Banditen starben, im Feuer unserer Colts, hatten wir das Tal verlassen. Für immer ...

Er schaute sich erneut um.

Wie sich Bilder ähnelten!

Und dennoch war hier etwas anders. Es gab einen Faktor, der die drei Gruppen in und um Thompson stabil hielt und dazwischen Rivalität erzeugte. Ben Raider war sich auf einmal sicher, dass er längst nicht mehr am Leben gewesen wäre, hätte er nicht die Steinlawine verursacht. Die Gruppe, die unter dem Geröllhagel gestorben war, gehörte zur rivalisierenden Partei! Sie hassten sich – aber es gab etwas, was sie zur Zusammenarbeit zwang. Und weil Ben Raider gegen die anderen vorgegangen war und die Steinlawine nicht früher erzeugt hatte, als sie sich noch nicht getrennt hatten, ließen sie ihn am Leben. Bis jetzt!

Über die Zukunft dachte Ben Raider lieber nicht nach ...

Sie kamen immer tiefer – und dann hatten sie es geschafft. Die steilen Serpentinen über lockendem Abgrund waren überwunden. Sie befanden sich in der Talsohle!

»Wenn man bedenkt, dass man dieses Paradies Höllencanyon nennt«, murmelte der Dandy. Er schien von der blühenden Natur beeindruckt zu sein – sogar er!

Ben Raider hörte Wasser plätschern. Hier war die Hitze in geringerem Maße spürbar, obwohl zwischen den steil aufragenden Felswänden die Sonne nicht weniger Kraft besaß.

Ben Raider folgte dem Wasserplätschern, als würde es ihn mit magischer Gewalt anziehen. Selbst die Bewaffnung des Dandys konnte es nicht verhindern.

Hinter einem Gebüsch fand Ben Raider den glasklaren Bach. Ben konnte sich nicht mehr beherrschen. Er fühlte sich regelrecht ausgedörrt. Und dann hatte er auch noch Blut verloren ...

Er stürzte vornüber, mit dem Gesicht in den Bach – und dann trank er, gierig und in vollen Zügen. Er trank, als hätte er das kostbare Nass seit Wochen entbehrt, als sei er längst am Verdursten!

In gewisser Hinsicht traf das auch zu. Ben Raider trank, bis ihn der Dandy brutal zurückriss und weiterstieß.

»Pausen werden später gemacht. Wenn du fünf Fuß unter der Erde liegst, hast du’s geschafft!« Der Dandy kicherte wie ein Irrer und trat noch einmal zu, dass Ben Raider fast das Gleichgewicht verlor.

Auch hier gab es einen Weg zwischen der blühenden Natur hindurch.

Ben Raider bewegte sich wie in Trance. Manchmal taumelte er, als wäre ihm das frische Wasser nicht bekommen. Aber das war eine Täuschung! Er fühlte sich in Wahrheit viel besser, nachdem er sich einigermaßen satt getrunken hatte. Doch das brauchte der Dandy nicht zu wissen ...

Die Haare hingen ihm zottelig in die Stirn. Ben Raider mimte den total Erschöpften – und als sie die ersten Häuser der kleinen Siedlung erreichten, brach er auch prompt zusammen.

Der Dandy pfiff durch die Zähne. Drei Männer rannten herbei. Sie gehörten nicht zu den Betrunkenen, die zurzeit mit den Frauen eine wilde Orgie feierten, sondern zu dem Trupp, der Ben Raider verfolgt hatte.

»Er ist es tatsächlich!«, knurrte einer.

Ben Raider lag auf dem Bauch. Als sie ihn auf den Rücken drehten, rollte er mit den Augen und stöhnte laut.

Die Männer sahen das Blut und runzelten die Stirn.

»Heee – was habt ihr mit ihm gemacht?«

Cliff wand sich unbehaglich unter ihren forschenden Blicken. »Er ist ein Gefangener«, verteidigte er sich. »Wir haben ein wenig Spaß mit ihm gehabt. So konnte er unterwegs auch keine Dummheiten machen!«

»Aha!« Das war der einzige Kommentar.

Sie nahmen Ben Raider auf und trugen ihn mit vereinten Kräften in die Hütte.

Ben Raider spielte gut, obwohl er noch nicht wusste, ob es ihm überhaupt etwas einbrachte.

Sie ließen ihn inmitten der Hütte einfach auf den Boden plumpsen. Ben Raider hatte dabei das Gefühl, jemand zöge ihm einen glühenden Draht durch die Wirbelsäule. Für einen Moment war er wie gelähmt.

Von draußen näherten sich Stimmen.

Jemand rückte in Raiders Blickfeld, den Ben auf Anhieb erkannte.

Er konnte es nicht verhindern. Es drängte sich ganz von allein über seine Lippen: »Stan Richard!«

Stan Richard musterte ihn abschätzig. Als Ben Raider ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ein muskulöser, aber dennoch schlanker Mann gewesen. Groß, gewandt wie eine Raubkatze und unglaublich schnell mit den Revolvern. Aber ein Aas! Eine Kanaille. Einer, der jeden betrog und hereinlegte – auch seinen besten Freund. Bis es keine Freunde mehr gab, sondern nur noch Feinde – und Tote!

Stan Richard war ein skrupelloser Massenmörder. Er war ein Killer, wie es selten einen in dieser Intensität gegeben hatte – und er wurde in allen Staaten steckbrieflich gesucht!

Ja – es war lange her, dass Ben Raider diesen Mann das letzte Mal gesehen hatte! Stan Richard hatte eine Bank überfallen – gemeinsam mit anderen. Er war der Einzige gewesen, der sich kein Tuch vor das Gesicht gebunden hatte! Dennoch war er auch der Einzige geblieben, den man nicht hatte fassen können. Die Bürgerwehr hatte die Banditen tagelang gehetzt. Am Ende war es zu einer blutigen Auseinandersetzung gekommen. Keiner der Banditen hatte überlebt – aber Stan Richard war nicht dabei gewesen! Er hatte seine Kumpane hereingelegt und niemand wusste, wie ihm das gelungen war. Der blutige Kampf hatte Stan Richard den nötigen Vorsprung verschafft. Er blieb genauso verschwunden wie das geraubte Geld ...

Ben Raider hörte heute noch das brutale Lachen des Banditen. Wie bei ihrer ersten Begegnung in dieser Bank! Er sah ihn mit den Colts herumfuchteln. Er schoss auf Frauen und Kinder und auf Greise. Er tötete, um zu töten!

Und jetzt war Ben Raider in der Hand dieser Bestie in Menschengestalt. Schlimmer hätte es gar nicht mehr kommen können. Ein Tal, das aussah wie ein Paradies und in Wahrheit nichts anderes als die Hölle war!

Stan Richard runzelte die Stirn.

Er hatte sich in den vergangenen Jahren zumindest äußerlich verändert. Seine Gestalt war wesentlich plumper geworden. Der schlanke, muskulöse Mann hatte sich zu einem fetten Typ entwickelt. Das feiste Gesicht wirkte abstoßend.

Er streifte die fettigen Hände an der Weste ab.

»Habt ihr ihn durchsucht, Cliff?« Ja, das war seine Stimme. Sie hatte sich nicht verändert!

Cliff? Jetzt wusste Ben Raider, wer der Dandy war. Er hatte Cliff Corner zwar noch nie selber gesehen, aber er kannte den schlechten Ruf des Mannes. Cliff Corner – ein Spieler und Revolverheld! Ebenfalls wegen mehrfachen Mordes in den meisten Staaten steckbrieflich gesucht.

Nur sah er auf den Steckbriefen ganz anders aus: gepflegter! Deshalb hatte Ben Raider ihn nicht erkannt.

War Cliff Corner nicht schon mehrmals im Zusammenhang mit Stan Richard genannt worden?

Corner schien großen Respekt vor seinem Boss zu haben, und Stan Richard war hier der Boss, Daran gab es keinen Zweifel! Er hatte sich in diesem Tal verkrochen; war verfettet, aber immer noch brutal – und er hatte Kerle um sich geschart, die aus ähnlichem Holz geschnitzt waren wie er.

Höllenburschen, menschlicher Ausschuss!, dachte Ben Raider aber er beherrschte sich und spielte weiterhin den total Erschöpften.

»Nein!«, antwortete Cliff Corner endlich kleinlaut. Er holte es rasch nach. Mit flinken Fingern wie ein Taschendieb!

Ben Raider wartete darauf – und dann trat es ein: Cliff Corner fand sowohl den Brief als auch das Telegramm von John!

Triumphierend hielt er es hoch.

Stan Richard riss es ihm aus der Hand und schimpfte: »Stupid!« Er überflog die Zeilen des Briefes. »Damned – bin ich denn von lauter Hornochsen umgeben?«

Sie zitterten vor ihm und seiner donnernden Stimme. Nur Ben Raider blieb ruhig. Er schätzte seine Überlebenschancen ab. Es sah äußerst schlecht aus für ihn. Aber im Moment lebte er noch! Das war ein Grund für ihn, Hoffnungen zu hegen.

Er rief sich noch einmal die Szene beim Bankraub ins Gedächtnis zurück.

John war ebenfalls anwesend gewesen! Sie hatten sich gemeinsam in der gut besuchten Bank befunden als Kunden. Da waren die Banditen hereingestürmt! Alles war sehr schnell gegangen. Nur Stan Richard hatte geschossen.

Ben Raider und sein Bruder waren unbewaffnet gewesen. Ausnahmsweise – wie jeder in der Stadt.

Ähnlich wie in Thompson, dachte Ben zähneknirschend. Nur mussten wir uns damals fügen, denn wir hielten uns länger in dem Nest auf. Wie hieß es doch gleich? Ach, egal! John hatte eine Glückssträhne in der Spielhölle. Es dauerte noch ein paar Tage, bis die anderen herausfanden, dass er sie nach Strich und Faden betrog. Ich wusste es selber nicht, und war überrascht, als ihm alle an den Kragen wollten. Hals über Kopf verließen wir den Ort – gerade rechtzeitig, bevor sich der Sheriff von der Banditenhatz so weit erholt hatte, dass er sich uns widmen konnte.

Nein, für Stan Richard bin ich ein Fremder ...



15

Der Bandenchef las den Brief vor: » Dear Ben, befinde mich hier in einem verdammten Kuhdorf mit Namen Thompson. Ein armseliges Fleckchen Erde, yeah wenn es den Höllencanyon nicht gäbe! Du wunderst dich, dass ich schreibe? Damned, es wurde aber auch Zeit! Sind wir nicht Brüder? Habe zufällig erfahren, dass du Sheriff geworden bist. Ein undankbarer Posten, findest du nicht auch? Man hat mir auch erzählt, du hättest mehr Feinde als Freunde. Für die du Ruhe und Ordnung eingeführt hast, die finden dich jetzt ziemlich unbequem ist es nicht so? Mache dir einen Vorschlag: Komm nach Thompson! Hier liegt ein besonderer Schatz begraben, und darum schart sich so viel Dummheit ... Yeah, das wäre was für uns! Das Besondere: Wir handeln sogar legal und werden gemachte Leute. Ohne dich geht es nicht! Ich habe schon einen Plan. Wenn du dagegen bist, schreib sofort! Wenn ich in den nächsten vier Wochen keinen Brief von dir bekomme, setze ich dein Einverständnis voraus. Sobald ich dich brauche, schick’ich dir ein Telegramm. Dann treffen wir uns in Thompson! «

Stan Richard lachte grollend. Er knallte den Brief Ben Raider mehrmals ins Gesicht und wollte sich aus schütten vor Lachen.

»Stupid, John Raider. Der größte Narr, der mir bis jetzt über den Weg gelaufen ist!«

Er hielt das Telegramm hoch, damit es jeder sehen konnte.

»Damit hat er seinen Bruder gerufen! Das Schönste: Nichts von der Armee, die er uns versprochen hat. Natürlich, er wollte mit seinem Bruder allein den Rahm abschöpfen! Ein groß angelegter Bluff. Hätte er wirklich die Armee bemüht, wäre für ihn nichts abgefallen. So dumm war er nun doch wieder nicht. Aber er hat die Rechnung trotzdem ohne uns gemacht!« Er knirschte mit den Zähnen und trat Ben Raider mit voller Wucht in die Seite.

»Was hast du dazu zu sagen, Hundesohn?«

Ben Raider rollte mit den Augen, dass man nur noch das Weiße sehen konnte. Dann stöhnte er: »Ich bin gar nicht Ben Raider. Der ist doch tot. Hat seinen Meister gefunden – einen, der schneller war!«

Eine Pause entstand.

»Nein, ich bin es nicht«, fuhr Ben Raider fort. »Aber ich war Zeuge – und es ist mir gelungen, Brief und Telegramm abzufangen! Ich bin hier, weil ich neugierig war. Mir ... ist es egal, was ihr mit John Raider angestellt habt. Ich kannte ihn überhaupt nicht!«

Für Stan Richard war diese Eröffnung offenbar eine Überraschung. Er kratzte sein Stoppelkinn. Ein hässliches, schabendes Geräusch, das eine Gänsehaut erzeugen konnte.

»Setzt ihn auf den Stuhl – da!« Stan Richard zeigte mit ausgestrecktem Arm darauf hin.

Sie rissen Raider brutal vom Boden hoch und schmetterten ihn auf den Stuhl, dass der zusammenzubrechen drohte.

»Heraus mit der Sprache: Was weißt du?«

Stan Richard zwickte ihn in die Nase und drehte sie mit einem Ruck herum.

Ben Raider stöhnte unwillkürlich auf.

»Wird’s bald?«

»Viel zu wenig!«

Richard ließ ihn los und stellte sich breitbeinig vor ihn. Er stemmte die Hände in die Seite.

Ja, Stan Richard war zu einem Koloss geworden – aber er hatte nicht mehr das Geringste seiner einstigen Beweglichkeit.

»Wer bist du?«

»Sam Carsten!«, behauptete Ben Raider prompt und frechweg.

Stan Richard schob sein speckiges Doppelkinn vor.

»Sam Carsten, eh? Sagt mir nichts!«

Ben lachte leise. Es klang verzweifelt. »Wie auch? Du bist schon seit Jahren von der Bildfläche verschwunden. Ich werde nicht gesucht. Noch nicht! Ich verdiene mit den Colts mein Geld. Ich bin Kopfgeldjäger!«

»Kannst du mit der Waffe umgehen?«

»Frag doch deine Leute, die in der Stadt waren!«, forderte Ben Raider ihn auf. »Die sagten: 'Yes'.«

Stan Richard kratzte sich wieder über das Doppelkinn. Ben Raider beobachtete ihn dabei – in der Haltung eines Mannes, der sich ausgeliefert und unendlich unterlegen fühlte. In Wirklichkeit wollte Ben Raider damit nur täuschen! Stan Richard sollte in ihm ein williges Werkzeug sehen.

Ben dachte an »seine« Lady. Hatte sie ihm nicht den Tipp gegeben, sich einer der rivalisierenden Gruppen anzuschließen? Falls es ihm gelang, konnte er Zeit gewinnen – und Pläne schmieden!

Jetzt dachte er an die Banditen, die er und sein Bruder in einer einzigen Nacht erledigt hatten. Nach einer wilden Feier, während der Whisky in Strömen geflossen war. Die hatten gar nicht mehr schießen können – und in ihrem Tal hatten sie sich unauffindbar und in Sicherheit gewogen. Ein tödlicher Irrtum!

Inzwischen hatte Ben Raider viel gelernt. Sehr viel! Er war perfekter geworden. Wenn es ihm wirklich gelang, das Vertrauen der Banditen zu erschleichen, gab es eine Hoffnung.

Aber er wusste immer noch nicht, wie das Geheimnis von Thompson aussah. Er fragte: »Was meint John Raider mit dem Schatz, den er im Brief erwähnt?«

Stan Richard lachte wieder. Diesmal klang es anders: weniger brutal.

»Das möchtest du wohl gerne wissen wie?«

Seine Hände schossen vor. Er packte die Ohren von Ben Raider, dass dieser meinen musste, der Koloss wollte ihm die Horchlappen abreißen.

Das speckige Gesicht des Bandenchefs kam ganz nahe. Die stinkende Schnapsfahne, die Stan Richard bei jedem Wort ausstieß, erzeugte in Ben Raider Übelkeit.

»Hör zu, Gringo, was ich jetzt zu dir sage!« Stan Richard blies ihm ins Gesicht, Er lachte heiser und packte fester zu. Am liebsten hätte Ben Raider aufgeschrien vor Schmerzen, aber er beherrschte sich.

Stan Richard zog ihn empor, bis Ben vor ihm stand. Sie waren beide gleich groß. Ihre Blicke trafen sich.

»Den Schatz gibt es nicht mehr«, knurrte Stan Richard, »denn wir haben ihn bereits gehoben. Stimmt’s, Jungs?«

Keiner reagierte darauf. Stan Richard wandte sich nicht einmal nach seinen Leuten um.

»Es ist vielleicht eine längere Geschichte.« Richard stieß Ben Raider auf den Stuhl zurück, dass dieser fast umkippte. Im letzten Augenblick hielt Ben das Gleichgewicht.

Stan Richard stemmte wieder die Arme in die Seite. Sein Doppelkinn wackelte, als er sich angriffslustig umschaute.

»In diesem Tal war eine Ranch! Es gibt nur einen Zugang zu ihr per Pferd – und der führt durch die Schlucht. Die Kerle, die du durch Steinschlag erledigt hast, befanden sich auf dem einzigen Weg. Jetzt müssen wir die Steine beiseite räumen, sonst kommen wir nicht mehr hinaus. Ab er dieses Tal ist keine Falle! Hier lässt es sich gut leben. Wenn man uns einschließt, sind wir für Jahrzehnte mit allem versorgt, was der Mensch so braucht. Sogar mit Weibern, was?«

Er lachte sein gemeines Lachen, und die anderen stimmten ein. Aber bei ihnen klang es gekünstelt.

Sie hatten ungewöhnlichen Respekt vor ihrem Boss. Stan Richard schien mit brutaler Faust zu regieren.

»Mit Cliff und ein paar anderen kam ich her und übernahm die Ranch.« Ben Raider konnte sich vorstellen, wie das geschehen war. Ein wahnsinniges Blutbad!

»Niemand kam, um uns wieder zu verjagen. Kein Mensch hatte Interesse an uns. Bis ich einen in die Stadt schickte. Der kam nicht mehr zurück! Wir hörten ein paar Schüsse – und dann war es aus. Keine Verhaftung, nichts. So etwas hatte ich noch nie erlebt!«

Stan Richard ballte die mächtigen Hände zu Fäusten. Er redete sich allmählich in Eifer. Seine Augen glühten auf einmal.

»Völlig ungewöhnlich – ja, widersinnig! Wir mussten der Sache auf den Grund gehen. Klar, dass niemand versuchte, das Tal anzugreifen. Es lässt sich von einem einzigen Mann verteidigen, wenn es sein muss, Das hast du ja erlebt! Du hast die Kerle mit ein paar Steinen erledigt und hast keine einzige Patrone dabei verschwendet.

Yeah, Desperados ... das war vielleicht ein Ding! Ich nahm mich der Sache persönlich an. Die anderen warteten auf mich in unserem Schlupfwinkel. Natürlich ritt ich nicht in die Stadt, sondern kämmte die Umgebung ab. Und was fand ich? Keine zwei Meilen von hier entfernt war eine Mine! Ein richtiges Dorf. Die Leute waren vollauf beschäftigt. Sie hatten viel zu tun.

Ich wagte mich so nahe heran, wie es ging, ohne entdeckt zu werden. Es gab Wachen. Es gelang mir, sie zu umgehen. Diese Narren – die hatten mit allem gerechnet, nur nicht mit Stan Richard. Der kennt sich mit so was aus!

Ich traute meinen Augen nicht: Die förderten doch tatsächlich Gold zutage. Das schien eine Kleinigkeit zu sein. Da gab es so viel Geld im Berg, dass man es aufschaufeln konnte! Das Auswaschen war ein Kinderspiel. Ich sah das alles und den ungeheuren Reichtum. Es fiel mir verdammt schwer, mich zurückzuziehen und hierher zurückzukehren.

Und dann fing ich an nachzudenken, Sam Carsten. Nachdenken, verstehst du? Die Hohlköpfe hier wären nie darauf gekommen, was sich da abspielte!

Ich dachte daran, dass sich keine Menschenseele um uns kümmerte. Als würde man geduldig darauf warten, dass wir von allein abzogen. Dabei mussten sie von uns wissen! Der Rancher drohte mit der Bürgerwehr, ehe er starb. Wir würden hier noch Augen machen, aber unseren Fehler zu spät einsehen.

Was soll ich sagen: Man ließ uns genügend Zeit, sämtliche Möglichkeiten zu sichten, die man gehabt hätte, um uns zu überfallen – aber der Überfall erfolgte niemals!

Trotzdem waren wir zu schwach, um gegen die Goldgräber Krieg zu führen. Wir mussten Rekruten für den Krieg gewinnen! Ich schickte zwei meiner Leute weg. Einer war Cliff. Sie sagten natürlich keinem Menschen, was hier gespielt wurde!

Cliff Corner traf auch John Raider. In ihm fand dieser Hohlkopf seinen Meister. John Raider bekam aus ihm den Namen der Stadt heraus: Thompson. Wenigstens war Cliff so schlau, ihn nicht weiter einzuweihen und ihn auch nicht zu werben. John Raider wäre ungeeignet gewesen!

Allmählich füllte sich das Tal. Die brachten sogar Weiber mit. Denen macht es nichts aus, dass sie das Tal niemals mehr verlassen können. Hier fühlen sie sich sauwohl!«

Er lachte wieder mal gehässig.

Ben Raider schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich verstehe das immer noch nicht. Eine Goldmine? Eine, wo das Gold besonders leicht abzubauen ist? Ein riesiges Vermögen? Aber warum dieses Geheimnis?«

Richard hieb ihm auf die Schulter, dass es krachte.

»Hab ich’s mir doch gedacht. Genauso ein stupider Ochse wie die anderen. Ihr könnt mit den Revolvern umgehen. Ihr könnt rauben und morden ...« Er tippte sich an die Stirn. »Nur Köpfchen habt ihr keins!«

Er warf die Arme in die Luft und blickte sich wild um.

»Was würdet ihr ohne mich machen, heeee?«

Stan Richard wandte sich wieder an Ben Raider.

»Pass auf, Sam Carsten – ich will es dir erklären! Ganz langsam, damit du es auch verstehst: Es handelt sich um eine staatliche Mine – kapiert? Eine ehemals staatliche Mine, um genauer zu sein. Eine Mine, die damals überhaupt nichts einbrachte. Bis man die Arbeit einstellte! Denkt man wenigstens an höherer Stelle. Der Minenverwalter war anderer Meinung. Kein Wunder: Er war auch der Einzige, der genau wusste, dass man in die falsche Richtung, an der falschen Stelle grub. Seine Chance! Als die Arbeit eingestellt war, kehrte er mit seinen Getreuen zurück. Und jetzt beutet er eine staatliche Mine ganz auf eigenes Risiko und für die eigene Tasche aus!«

Stan Richard amüsierte sich köstlich. Dabei hieb er immer wieder Ben Raider auf die Schulter.

»Ist das nicht herrlich? Und der Sheriff von Thompson, diesem Drecknest am Rande der Welt? Das waren alles Hungerleider. In dieser Gegend gibt es nicht einmal Indianer, denn selbst die fliehen vor der jährlichen Trockenheit. Die Siedler waren am Verhungern. Trotzdem machte sich der Sheriff auf, um dem Minenverwalter das Handwerk zu legen. Dieser Narr! Dabei brauchte der Verwalter die Leute von Thompson. Sie waren seine beste Tarnung. Sie konnten auch dafür sorgen, dass das Gold in die richtigen Kanäle kam. Von Thompson aus sollte der Schwarzhandel beginnen. Er selbst konnte nicht in Erscheinung treten, und seine Leute ebenfalls nicht. Dann wäre alles sofort aufgeflogen!

Sie legten den Sheriff um und griffen die Stadt offen an. Ziel war es, Thompson in den Griff zu bekommen und die Städter zu ihrem Glück zu zwingen! Doch die kratzten ihre letzten Cents zusammen und kauften sich Pit Swiffert – einen Revolverhelden, der sich noch keinen großen Namen gemacht hatte; aber mit seinen Waffen gut umgehen konnte. Pit Swiffert sollte wieder Ruhe und Ordnung schaffen. Das tat er dann auch: Indem er sich mit dem Minenverwalter arrangierte! Sie machten zwar nicht gerade gemeinsame Sache miteinander, aber sie schlossen einen Vertrag – auch zum Wohl der Stadt. Es herrscht eine Art Waffenstillstand!«

»Und was ist mit euch?«, schnappte Ben Raider.

»Haha – hört euch diesen Idioten an! Mit uns? Haha – wir machten das Geschäft mit, sobald wir genug Leute waren. Die Werbeaktion war erfolgreich. Wir verdienen mit! Natürlich haben wir versucht, die Goldgräber anzugreifen. Es kam zur Schießerei! Wir zogen uns rechtzeitig zurück, weil ich eingesehen habe, dass es nichts bringt. Warum sollen wir die Goldgräber zum Teufel jagen? Dann müssten wir das Gold womöglich noch selber schürfen!«

Er beugte sich vor.

»Mein lieber Sam Carsten: ein bisschen Köpfchen ist oftmals sehr nützlich und erspart eine Menge Sorgen. Es gibt seitdem drei verschiedene Gruppen: Wir, die Goldgräber und die Städter mit all den Farmern und Ranchern. Alle verdienen am Gold! Bis ein Schwachkopf von der Regierung auftaucht und uns das Geschäft vermasselt, klar?

Und deshalb sind alle in Thompson so allergisch gegen Fremde. Nur einmal gelang es einem, sich in ihr Vertrauen einzuschleichen: John Raider! Er tauchte unter anderem Namen auf: als ein Gentleman, der alle einwickelte. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, aber er erfuhr unser großes Geheimnis. Wenn wir wüssten, wer geplaudert hat, würden wir uns dafür rächen! John Raider verschwand wieder. Später kam ein Brief. Mit der Post, die natürlich ebenfalls den Leuten in Thompson gehört. Die gehen kein Risiko ein! Die Goldgräber schürfen, die Thompsoner setzen die Ware in Geld um – und wir bleiben die stillen Teilhaber. Wir haben den besseren Part bei dem Geschäft – und wir haben genauso Interesse daran, dass Kerle wie John Raider scheitern; wie alle anderen. Es war ein Erpresserbrief. John Raider versprach, wieder zurückzukommen, allerdings mit seinem Bruder Ben in der Hinterhand. Ben Raider sei Sheriff und hätte die richtigen Verbindungen zur Regierung!

John Raider wollte gemeinsam mit seinem Bruder die Nummer vier im Spiel werden. Er wollte als vierte Gruppe mitverdienen. Wenn wir etwas dagegen unternehmen würden, würde alles auffliegen! Damit drohte er.

John Raider wagte sich wieder in die Stadt. Aber der Waffenstillstand zwischen den Gruppen war erweitert worden. Eine große Abordnung der Goldgräber und eine große Abordnung von uns! Alle hielten sich im Hintergrund. Sie kamen erst aus ihren Verstecken, als John Raider den Saloon betrat. Und dann schlugen sie zu! Eine Stunde versuchten sie, alles aus John Raider herauszubekommen. Vor allem, wer ihm das Geheimnis verraten hat. Er starb – und das Einzige, was er immer wieder nannte, war der Name seines Bruders. Mit ihm drohte er. John Raider versprach, dass sein Bruder ihn rächen würde!«

Stan Richard packte Ben am Kragen und zog ihn aus dem Stuhl hoch. »Und jetzt kommst du und erzählst, dass dieser Ben Raider nicht mehr existiert. Dafür haben wir dich! Was glaubst du, was jetzt mit dir passiert?«

Ben Raider fand, dass er genug erfahren hatte. Er dachte im Moment an »seine« Lady. Noch hatte er ihren Namen nicht erfahren, aber das war nicht so wichtig: Sie hatte ihm geholfen, und sie hatte John gekannt. Wie gut? Gut genug, dass sie John das Geheimnis verraten hatte? Damit John bei ihr blieb? Aber John hatte sie hintergangen! Deshalb nannte sie ihn heute ein Schwein.

Ja, alles passt, dachte Ben Raider. Jetzt seh ich klar! Aber was nutzt es mir? Wie soll ich John rächen, wie er es versprochen hat, wenn ich selber tief, bis über beide Ohren, im Schlamassel stecke?

Es war der Zeitpunkt, an dem er sich entschloss zu handeln.

Er ließ sich einfach rückwärts fallen ...

Stan Richard blickte auf seine leeren Hände und schien nicht zu begreifen, wie sein Gefangener es geschafft hatte, sich loszureißen.

Ben Raider vollführte eine blitzschnelle Rolle rückwärts. Dabei brachte er gleichzeitig die gefesselten Hände nach vorn. Der derbe Strick zerriss ihm die Haut! Aber er ignorierte den brennenden Schmerz.

Der Bandit, neben dem Ben Raider wieder auf die Beine sprang, zog seinen Revolver – aber ehe er sich im Klaren war, was überhaupt geschah, hatte ihm Ben die Waffe abgenommen und richtete sie auf Stan Richard!

Ein Sprung brachte ihn aus der Schusslinie der anderen. Ben Raider krachte mit dem Rücken in die Ecke der Hütte. Von hier aus konnte er alles überblicken.

Zwei hatten schnell genug ihre Colts gezogen und sogar geschossen. Aber die Kugel hatten Ben knapp verfehlt – und jetzt wagten sie sich nicht, noch einmal zu schießen.

Sie bangten um das Leben von Stan Richard!

»So ist das richtig«, zischte Ben Raider. Jetzt wirkte er überhaupt nicht mehr erschöpft. »Zurück an die Wand und Waffen fallen lassen!«

Sie sahen Stan Richard an.

In dem feisten Gesicht spielten die Muskeln. Die Augen blickten starr. Darin schien der Teufel persönlich sein Höllenfeuer zu schüren.

Stan Richard ruckte kaum merklich. Das war für seine Leute Befehl genug. Sie ließen ihre Waffen fallen und wichen mit erhobenen Händen von ihrem Boss zurück. Brav stellten sie sich an die gegenüberliegende Wand, so dass Ben Raider sie gut im Auge behalten konnte. Ben hatte die Hütte jetzt voll im Griff!

Stan Richard hustete plötzlich. Aus dem Husten wurde unechtes Gelächter. »Es nutzt dir nichts, Gringo!«

»Meinst du?«, erwiderte Ben Raider ungerührt.

»Bist du wirklich Sam Carsten? Oder bist du Ben Raider und wolltest mit der Lüge nur Zeit gewinnen?«

»Was glaubst du denn?«

Stan Richard wiegte bedächtig mit dem Kopf.

»Du bist einer, den ich unterschätzt habe. Ein guter Schauspieler! Die Neugierde trieb dich her, eh? Bisschen wenig, schätz ich! Musstest doch damit rechnen, dass John Raider seinen Bruder erwartet. Was glaubst du, was der mit dir gemacht hätte?«

Ben Raider grinste nachsichtig. »Ich hätte mich als besten Freund von Ben Raider ausgegeben – und als dessen Beauftragter! Selbst wenn John Raider telegrafisch angefragt hätte: Man hätte ihm nur bestätigen können, dass Ben Raider inzwischen tot ist.«

»Auf jeden Fall bist du einer mit Köpfchen! Ja, ich habe dich unterschätzt.«

Die beiden speckigen Hände des Bandenchef s fielen auf die Revolvergriffe. Aber er zog nicht. Auf einmal hatte er seine Selbstsicherheit zurückgewonnen.

»Yeah – ein cleverer Bursche! Vielleicht ein Fellow nach meinem Geschmack? Es kommt auf ihn an!«

Jetzt zog er. Nicht zu hastig. Ganz langsam, überlegen grinsend. Eine grinsende Visage, in die Ben Raider gern hineingeschlagen hätte. Aber das hätte ihm nichts gebracht.

Sein Zeigefinger spannte sich um den Abzug. Er brauchte nur abzudrücken. Dann war Stan Richard ein toter Mann. Aber was kam danach? Brachte es einen Vorteil?

Wenn Stan Richard tot war, hatte er immer noch die anderen gegen sich. Einen wilden, verwahrlosten Haufen, der sich niemals hier würde halten können! Sie würden übereinander herfallen wie die Tiere und sich gegenseitig ausrotten, wenn die einzig bindende und verbindende Kraft ihres Bosses fehlte.

Aber bevor dies geschah, würden sie erst Ben Raider umbringen! Das würde ihre erste gemeinsame Aufgabe sein. Und daran würde Ben Raider nichts ändern können. Die Anwesenden würden nicht einmal als Geiseln taugen. Hier nahm niemand Rücksicht auf das Leben eines anderen.

Stan Richard hatte beide Revolver gezogen, spannte die Hähne und richtete die Mündungen genau auf Ben Raiders Brust. Auch seine Zeigefinger krümmten sich um den Abzug.

Sie waren jetzt beide gleichwertig. Ein Unentschieden besonderer Art.

Ben Raider sah das feiste Grinsen und hätte gern abgedrückt, um es auszulöschen. Stan Richard hatte den Tod tausendfach verdient – aber es war noch zu früh dazu!

Mit dem Daumen löste Ben Raider den Hahn der erbeuteten Waffe und ließ ihn vorsichtig nach vom kommen. Dann ließ er die Waffe sinken.

Das Grinsen im Gesicht des Banditenchefs gefror. Die Hände mit den beiden schweren Revolvern waren völlig ruhig. Seine Zeigefinger krümmten sich weiter.

Ben Raider erwartete jeden Moment, dass die Schüsse brachen – aber er blieb dabei völlig gelassen.

Jetzt lächelte Ben Raider! Es war ein neutrales Lächeln – wie bei jemandem, der nichts zu befürchten hatte; dem es rundherum gut ging. Wie jemand, der sich unter Freunden befand!

Stan Richard runzelte irritiert die Stirn. Spontan steckte er die Colts zurück in die Holster.

Ben Raider nickte ihm zu. Dann streckte er die gefesselten Hände vor.

Stan Richard machte eine herrische Geste. Sofort eilte einer der Killer herbei und zückte ein Messer. Damit wurde Ben Raider von den Fesseln befreit.

Er massierte die schmerzenden Handgelenke und ignorierte das Blut, das in Strömen floss.

»Vertrauen gegen Vertrauen«, sagte er. »Ich kenne jetzt ebenfalls das Geheimnis! Aber ich frage mich eins: Wieso erwähnte John Raider im Brief an seinen Bruder, dass der Schatz im Höllencanyon zu finden sei! Da war kein Wort von einer Mine – und der Höllencanyon befindet sich doch hier, nicht wahr?«

Stan Richard stutzte. Ein weiterer Wink! Einer seiner Leute bückte sich nach dem Brief, der am Boden gelandet war, und reichte ihn seinem Boss. Stan Richard überflog die Zeilen. Dann nickte er vor sich hin.

»Yeah, gewiss – du bist ein kluges Köpfchen, aber hoffentlich bist du nicht zu klug?«

»Wie sollte sich das äußern?«

»Ich bin der Boss!«

Ben Raider nickte. »Ja, du bist der Boss – und wirst es bleiben!«

Stan Richard nickte wenig überzeugt, ließ den Brief wieder zu Boden flattern, drehte sich um und verließ die Hütte.

Cliff Corner sah ihm nach, bis er sicher war, dass Stan Richard nichts mehr hören konnte.

»Dafür werde ich schon sorgen!«, zischte er hasserfüllt. »Und nicht nur ich! Verlass dich drauf, Sam Carsten: Du wirst hier keinen Freund finden – auch wenn der Alte scheinbar an dir einen Narren gefressen hat. Wir passen schon auf!«

Cliff Corner kam näher. Er sprühte förmlich vor Hass.

Ben Raider blickte ihm gelassen entgegen. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust.

»Und noch etwas: Sam Carsten: Rechne dir nicht zu viel aus! Du wärst längst tot, hättest du nicht die Goldgräber mit der Steinlawine begraben. Damit hast du zwar gezeigt, dass du eher auf unserer Seite stehst – aber wir lassen uns nicht täuschen!«

Er schüttelte drohend die Faust. Dann verschwand auch er.

Die anderen schlossen sich ihm stumm an.

Ben Raider blieb allein zurück. Er trat ans Fenster und betrachtete das herrliche Tal.

Jetzt war er nach wie vor ein Gefangener. Daran hatte sich wenig geändert. Niemand vertraute ihm.

»Aber ich bin am Leben«, murmelte er vor sich hin.

Er wandte sich vom Fenster ab und setzte sich an den Tisch. Er schlug die Beine übereinander und stützte den Kopf in die Hand. Der Ellbogen ruhte auf der grob gezimmerten Tischplatte.

»John hatte nichts mehr zu verlieren«, sinnierte er laut. »Vielleicht wollte er der Lady auch imponieren? Dann war er gar nicht das Schwein, wie sie sagte. Es spricht außerdem für ihn, dass er sie nicht verraten hat – auch angesichts des Todes nicht!«

Er schüttelte den Kopf.

»Wer weiß, was die mit ihm angestellt haben, bevor sie ihn umbrachten. Eine Stunde kann verdammt lange sein. Und dann kam ich! Kein Wunder, dass man mich so empfing. Ich ...«

Er brach ab und schüttelte abermals den Kopf.

Ein fantastischer Gedanke kam ihm: »Die Lady, John und dieses Tal hier. Da gibt es doch einen Zusammenhang? Das im Brief ist ein Hinweis. Du konntest dich nicht deutlicher ausdrücken, John, weil du damit rechnetest, dass der Brief in falsche Hände gerät! Und du hast deinen Mördern auch nicht erzählt, dass ich allein kommen werde. In der Stadt muss man immer noch mit dem Schlimmsten rechnen!«

Er sprang auf.

»Die Stimmung in der Stadt bleibt dadurch nach wie vor angeheizt. Selbst wenn Stan Richard einen Kurier nach Thompson schickt, um die Sache aufzuklären.«

Als wäre Kurier ein Schlüsselwort, wurde in diesem Augenblick die Tür aufgestoßen.

Stan Richard erschien im Rahmen – in seiner ganzen, fetten Größe.

»Du wirst in die Stadt reiten, Sam Carsten! Aber nicht allein, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst. Und du wirst unbewaffnet bleiben! Keine Schwierigkeit für dich, wo du doch so ein kluger Kopf bist. Du bist der Einzige, der den Thompsonern glaubwürdig erklären kann, dass keine weitere Gefahr mehr droht. Damit kommt alles wieder zum Alten. Das heißt – falls man dich überhaupt erklären lässt. Aber das bleibt deine Sorge.«

Er drehte sich um und wandte sich zum Gehen. Doch dann zögerte er. Er blieb noch einmal stehen und sagte über die Schulter hinweg: »Und sei nett zu Cliff Corner, hörst du? Ohne ihn hast du nicht die geringste Chance! Die Thompsoner schießen zuerst und fragen danach. Auch eine Flucht nützt dir nichts! Die Berge kennen wir wie unsere Westentasche – und auch in der Wüste im Flachland ringsum finden wir dich. Selbst wenn wir dich bis zum Ende der Welt verfolgen müssten ...«

Das war deutlich genug.

Es änderte trotzdem nichts an den Entscheidungen Ben Raiders.

Er sah dem bevorstehenden Ritt eher gelassen entgegen, auch wenn er ihm den Tod bringen konnte ...



16

Cliff Corner kämmte sich wie ein Dandy – und er war auch ein Dandy, wenngleich der schmutzigste, den Ben je gesehen hatte.

Ben Raider beobachtete mit wachsamen Augen die Wildnis. Er hielt die Zügel locker in den Händen, die Schultern waren leicht nach vorn gesunken. Er machte einen krummen Rücken und spähte nach vorn.

Das Pferd, das man ihm überlassen hatte, war plump und träge. Ben Raider blieb damit zurück, bis er leicht an den Zügeln zupfte und mit der Zunge schnalzte. Der altersschwache Gaul ging daraufhin ein wenig schneller. So holten sie Cliff Corner bald wieder ein.

»Keine Menschenseele!«, knurrte der Bandit. Er hielt peinlich genau auf Abstand zu Ben Raider, als befürchtete er, Ben Raider könne sich wie ein Raubtier auf ihn stürzen, um ihn zu überwältigen.

Raider grinste in Gedanken an diese Möglichkeit. Ein Grinsen, das dem Banditen überhaupt nicht gefiel. Er zügelte plötzlich sein Pferd und schob den Unterkiefer vor.

»Sieht nicht gut aus für dich, Sam Carsten! Falls du überhaupt Sam Carsten bist. Ich neige ja mehr und mehr zu der Ansicht, dass du uns was vormachst! Denk dir, dass der Boss dich nur am Leben gelassen hat, damit du die Thompsoner beruhigen kannst.«

Er lachte gehässig.

»Die werden sich freuen!«, fügte er zweideutig hinzu.

Ben Raider wusste schon, was er meinte. Cliff Corner hasste ihn und würde alles tun, um ihn ans Messer zu liefern. Sobald Ben Raider seine Schuldigkeit getan hatte, war er so gut wie ein toter Mann. Aber Ben Raider hatte da bereits seine Pläne ...

»Tatsächlich«, sagte Cliff Corner nach weiterem Rundblick. »Keine Menschenseele! Die Goldgräber müssen doch ihre Leute vermissen?«

Die Stelle, wo die Goldgräber durch die Steinlawine zu Tode gekommen waren, hatten sie längst passiert. Es war die einzige Stelle gewesen, wo sie hatten absitzen müssen. Es war schwierig gewesen, die Steine zu überklettern. An die Leichen mochte Ben Raider nicht mehr denken. Nur Cliff Corner hatte die Sache kalt gelassen.

Ben Raider hob den linken Arm. Das kam für den Banditen so überraschend, dass unwillkürlich eine seiner beiden Hände zur Waffe zuckte. Aber Ben Raider deutete nur zu den Felsen hinüber.

»Keine Menschenseele?«, fragte Ben Raider ironisch. »Und wer ist das da drüben?«

»Wo?«, fragte Cliff Corner dümmlich. »Damned – bist du blind, Cliff Corner? Ein ganzer Trupp dieser verdammten Goldgräber! Ja, Cliff Corner du bist wirklich blind. Was glaubst du, warum ich die Lawine ausgelöst habe? Gibt es einen besseren Beweis dafür, dass ich zu euch gehören will? Und die Goldgräber belauern uns! Sie trauen uns nicht. Sie glauben gewiss, dass ihr es wart, die die Lawine ausgelöst haben und ...«

»Ich sehe nichts und niemanden«, schnappte Cliff Corner, »und jetzt halt die Schnauze, sonst kriegst du eins drauf!«

Er gab seinem Pferd die Sporen, dass das arme Tier vor Schmerzen aufwieherte.

Natürlich gab es keinen Reitertrupp, aber Cliff Corner war sehr nervös geworden. Ben Raider hatte ihn fast dort, wohin er ihn haben wollte.

Sie ritten weiter! Als Cliff Corner sich einigermaßen beruhigt hatte, sagte er zu Ben Raider: »Dein Leben ist keinen Pfifferling mehr wert. Ich präsentiere dich den Thompsonern und dann können sie mit dir machen, was sie wollen. Und nicht nur das, Gringo: Falls sie zu wenig Fantasie haben, will ich ihnen gern helfen. Ich kenne da ein paar nette Spielchen, die genau auf dich abgestimmt sind!«

Er lachte grausam und sonnte sich in der Vorfreude.

Plötzlich zuckte Ben Raider zusammen wie unter einem Pietschenhieb. Er warf den Kopf herum.

Pfeifend entwich die Luft aus seiner Lunge.

»Damned, was ist jetzt schon wieder?«, knurrte Cliff Corner ihn an.

Gedankenschnell ließ Ben Raider sich aus dem Sattel gleiten. Sie hatten ihn nicht einmal gefesselt. Stan Richard, der Boss vom Höllencanyon, war zu sicher gewesen, dass Raider keine Chance hatte.

Doch der Revolvermann ließ sich im toten Winkel vom Pferd gleiten ...

Cliff Corner hatte bereits die Revolver in den Händen, doch er fand kein Ziel. Ben Raider deckte seinen Körper mit dem Pferd. Aber nicht lange! Ben ließ sich auf allen vieren nieder und robbte zwischen Felsbrocken, die herumlagen, als hätte ein Riesenbaby mit ihnen gewürfelt.

»Dreckskerl, ich werd dich lehren ...« Es war nicht klar, was Cliff Corner hatte sagen wollen. Gleichzeitig gab er seinem Pferd wieder die Sporen. Er wollte dem unbewaffneten Ben Raider nachfolgen! Sein Gesicht drückte grimmige Entschlossenheit aus.

Ben Raider unterbrach ihn: »Narr, siehst du die anderen nicht? Sie halten ihre Waffen auf dich gerichtet, und du reitest als Zielscheibe durch die Gegend!«

Erschrocken blickte Cliff Corner sich um. Er sah nichts und niemanden. Natürlich nicht!

»Was treibst du für ein verdammtes Spiel mit mir? Ich werde dich ...«

Ein Geräusch auf der anderen Seite ließ ihn herumfahren und er reagierte endlich, wie Ben Raider es wünschte, indem er mit gewaltigem Satz aus dem Sattel hechtete.

Geduckt stand Cliff Corner da. Er lauschte und lauerte.

Ein Geräusch auf der anderen Seite – und er fuhr wieder herum. Noch sah er niemanden. Klar, denn die Geräusche wurden von Ben Raider verursacht: mit kleinen Steinchen, die er warf! Der Dandy war so nervös, dass er nicht dahinterkam. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, welchen Vorteil Ben Raider bei einem solchen Spielchen hätte haben können.

Dir fehlt die Fantasie, Cliff Corner !, dachte Ben Raider und knirschte mit den Zähnen.

»Wo bist du, Sam Carsten oder Ben Raider, wie immer du auch heißt?«

Ben Raider antwortete nicht sofort. Er beschloss, das Spiel auf die Spitze zu treiben.

Er beobachtete Cliff Corner. Der Bandit richtete sich langsam auf. Jetzt schien er doch mehr der Möglichkeit zuzuneigen, dass Ben Raider einen Scherz mit ihm trieb.

In diesem Augenblick schrie Ben Raider los. Er schrie wie am Spieß und sprang auf!

Ein Schuss löste sich aus Cliff Corners Revolver. Die Kugel sirrte ungezielt in die Felsen. Ben Raider torkelte auf Cliff Corner zu, die Hände in die Brust verkrallt. Die Augen drohten schier aus den Höhlen zu quellen, Ein paar Schritte noch – und Ben Raider brach zusammen. Seine Augen blickten leer und tot ...

»Heee?« Cliff Corner zitterte wie Espenlaub. Er betrachtete den vermeintlich toten Ben Raider und schaute sich anschließend gehetzt um.

»Heee, ihr verdammten Schweine, wo steckt ihr? Mich kriegt ihr nicht zu fassen!«

Er feuerte ein paar Schüsse in die Luft und rannte zu seinem Pferd.

Die Schüsse waren jedoch sein Fehler. Das Pferd scheute, und dann ging es durch – genauso wie das Pferd von Ben Raider.

Cliff Corner hetzte noch eine Strecke geduckt hinter seinem Pferd her und fluchte dabei wild, aber der Abstand vergrößerte sich rasch.

Der Bandit warf sich in den Staub und hielt die Revolver in den zitternden Händen. Er suchte nach Gegnern, die es nicht gab.

Aber Ben Raider war noch nicht fertig mit seinem Spiel: Er hatte längst noch nicht gewonnen!

Links von Cliff Corner bewegte sich ein Schatten. Der Bandit schoss sofort darauf. Doch der Schatten duckte sich rechtzeitig.

»Zeigt euch!«, schimpfte Corner wütend.

Rechts von ihm ein Geräusch! Steine rollten.

Auch dorthin schoss Cliff Corner.

Hatten sie ihn schon umzingelt?

»Gib auf!«, brüllte ihm jemand zu. »Du bist verloren, Cliff Corner. Ihr verdammten Schweine habt mit dem Krieg angefangen. Ihr habt unsere Leute umgebracht. Das werdet ihr bezahlen!«

Cliff Corner schoss als Antwort. Aber er traf auch diesmal keinen.

»Ihr irrt euch!«, rief er verzweifelt. »Dieser verdammte Sam Carsten war das. Vielleicht auch Ben Raider?«

»Du solltest dich entscheiden!«, rief die Stimme gehässig.

Cliff Corner zwang sich zur Ruhe. »Hört zu, Männer – wir sollten vernünftig miteinander reden. Den Kerl habt ihr schon umgelegt. Was soll ich allein gegen euch ausrichten?«

Er lauerte mit drohenden Revolvern. Nichts rührte sich, als wäre er auf einmal allein.

Abermals versuchte er es: »Hört ihr? Jetzt, wo dieser Sam Carsten nicht mehr lebt, ist alles in bester Butter! Er hat uns erzählt, dass Ben Raider unter den Toten weilt. Es gibt keine Schwierigkeiten, Männer. Hört ihr das? Alles kann so weitergehen wie zuvor!«

»Nachdem ihr unsere Leute umgebracht habt? Damit ist das Maß voll! Der Eingang zur Schlucht wird bewacht. Dort kommt keine Maus heraus, ohne dass wir es merken. Ergib dich!«

»Das könnt ihr nicht machen!« Cliff Corner wusste jetzt genau, woher die Stimme kam. In diese Richtung robbte er. Wie eine Schlange, kein Geräusch verursachend!

Denen würde er es zeigen! Er gehörte nicht umsonst zur Bande von Stan Richard. Die würden sich noch gewaltig wundern! Er fürchtete sich auch nicht vor einer Übermacht.

»Also gut«, sagte er kleinlaut, »ich will mich ergeben! Ihr könnt meine Waffen haben. Aber zeigt euch wenigstens!«

Jetzt hatte er den Felsbrocken erreicht, hinter dem der andere hocken musste.

Halb richtete er sich auf – dann setzte er zum Sprung an. Er würde wie der Sturmwind über den Gegner hereinbrechen!

In diesem Moment tauchte hinter ihm ein hoher Schatten auf. Wie aus dem Boden gewachsen.

Cliff Corner schrie unwillkürlich auf und wollte sich herumwerfen, mit drohenden Waffen. Er wollte den neuen Gegner hinwegpusten wie eine Fliege auf dem Hemd ...

Ein gewaltiger Schlag traf ihn am Kopf und ließ die Welt in einer grellen Lichterscheinung vergehen. Dunkelheit senkte sich über Cliff Corner. Die Waffen entglitten seinen Händen.

Ben Raider blickte auf den Banditen hinab. Seine Augen glitzerten. Er hatte kein Mitleid mit Cliff Corner! Der Bandit hätte ihn ohne zu zögern getötet oder noch Schlimmeres mit ihm angestellt.

Ben Raider ließ den Stein fallen, mit dem er Cliff Corner ins Reich der Träume geschickt hatte. Dann bückte er sich und nahm die Waffen an sich. Danach machte er sich daran, Cliff Corners Taschen zu durchsuchen.

Er fand nichts Brauchbares, Cliff Corner hatte weder Proviant noch Wasser bei sich.

Ben Raider richtete sich hoch auf. Es war heiß, obwohl sich der Tag dem Ende zuneigte. Die Sonne hing immer noch als Feuerball über dem Horizont und trocknete den Boden aus.

Mit den beiden Pferden hatte Ben Raider auch eine Überlebenschance verloren. Ein Risiko, das er gern eingegangen war; denn mit Cliff Corner hätte er erst recht nicht überlebt. So war es schon besser!

Er legte die Gürtel an, lud die Revolver neu und steckte sie in die Holster. Es waren nicht seine eigenen Waffen, aber er würde damit genauso gut umgehen können.

Den bewusstlosen und verletzten Cliff Corner ließ er einfach liegen, für ihn würde es ein böses Erwachen geben! Aber Ben Raider spürte nicht die geringsten Gewissensbisse in dieser Beziehung. Es war ihm egal, was aus dem Banditen wurde ...



17

Es gab für Ben Raider nur zwei Möglichkeiten: Entweder, er versuchte, sich zum Goldgräberlager durchzuschlagen oder er ging zur Stadt. Hinaus in die Einöde konnte er sich nicht wagen. Man würde ihn viel zu schnell aufstöbern und finden!

Obwohl der Weg zum Goldgräberlager durch das Felsengewirr führte und damit zahlreiche Deckungsmöglichkeiten bot, entschied Ben Raider sich dagegen. Er ging in Richtung Stadt!

Der karge Pflanzenbesuchs ließ vermuten, wie schwer es die Siedler hier früher gehabt hatten – als es die Mine noch nicht gab. Ein Land, das von solcher Trockenheit gebeutelt wurde, schürte Armut und Hunger! Von dieser Warte aus konnte er das Verhalten der Thompsoner durchaus verstehen. Der ehemalige Verwalter der Goldmine hatte ihnen bescheidenen Wohlstand gebracht, wenn auch zu einem eigentlich unhaltbaren Preis: Ein ganzer Ort hatte sich für die Gesetzlosigkeit entschieden!

Ben Raider schüttelte den Kopf. Ja, es war wirklich ein hoher Preis; denn mit jedem Fremden, der sich in Thompson verirrte, kamen Angst und Schrecken und die konnten oftmals schlimmer sein als Hunger und Not.

Außerdem waren die Thompsoner in ihrer eigenen Stadt lebendig begraben! Niemand durfte es wagen, die Stadt zu verlassen. Sofort würden die Misstrauischen Verrat wittern! Nur wenige Auserwählte hielten die Verbindung nach draußen.

Ein Gefängnis, in dem die Thompsoner zunächst freiwillig gehockt hatten. Inzwischen würde wohl jeder jeden überwachen, Lückenlos – Tag und Nacht!

Das musste auf die Dauer die Hölle sein – und Ben Raider ahnte, dass die ganze Aufregung wegen John und ihm für alle Beteiligten die Abwechslung war, auf die sie gelauert hatten.

Er dachte an die Lady und deren Andeutungen. Die gesamte Situation glich einem Pulverfass – und Ben Raider war die brennende Lunte!

Es war ihm sogar gelungen, die Neutralität im Stadtgebiet zu zerstören. In Thompson konnten sich sowohl Goldgräber als auch Banditen frei bewegen, sofern sie ihre Waffen beim Sheriff abgaben. Schon durch John Raider war dieses Gesetz durchbrochen worden: alle drei Parteien hatten für seinen Tod gesorgt!

Durch Ben Raider war die Situation noch deutlicher geworden: Die Grenzen waren verwischt. Kein Wunder, dass noch niemand aufgetaucht war, um nach dem Verbleib des Goldgräbertrupps zu forschen. Alle waren unsicher und fürchteten die direkte Auseinandersetzung. Der Gedanke, in Ben Raider einen gemeinsamen Feind zu haben, schweißte die Parteien für kurze Zeit zusammen. Das gemeinsame Ziel vereinte sie. Doch konnte ein einzelner Mann wirklich ein so lohnendes Ziel sein?

Ben Raider ahnte, dass es das Beste für ihn gewesen wäre, sich irgendwo zu verkriechen und abzuwarten. Er hatte die Ordnung nachhaltig gestört – und die Folge konnte Krieg zwischen den Parteien sein.

Damit würden sich sämtliche Probleme von allein lösen. Anschließend würde ihn niemand mehr verfolgen, wenn er davonritt, um Anzeige zu erstatten!

Und dennoch konnte Ben Raider diesen Weg nicht beschreiten! Aus einem praktischen Grund: Wie sollte er ohne Wasser, ohne Proviant und vor allem ohne genaue Ortskenntnisse die Zeit überbrücken und – überleben?

Der moralische Grund: Obwohl er in Thompson nur Männer gesehen hatte, war er auf einmal sicher, dass es dort auch Frauen und Kinder gab! Wie in jeder normalen Stadt des Westens – nicht mehr und nicht weniger. Nur hatte man in Thompson die Frauen und Kinder von der Straße geholt, so lange die Goldgräber und die Banditen alles verunsicherten!

Man fürchtete mit Recht um ihr Leben!

Und was war, wenn es tatsächlich zum Krieg kam? Die Goldgräber und die Banditen würden Thompson dem Erdboden gleichmachen!

Ben Raider ging den Weg in Richtung Stadt. Trockenes Weidegras knirschte unter seinen Stiefeln. Seine Miene zeigte einen grimmigen Ausdruck.

Zu Fuß ein verdammt weiter Weg, aber er gedachte ihn zu schaffen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er den Thompsonern beibringen konnte, dass er im Grunde genommen ein Freund war! Gewiss, der Rachedurst war nach wie vor in ihm wach, aber er hatte beschlossen, seine Rache auf die eigentlichen Verantwortlichen zu beschränken: Die Führer der drei rivalisierenden Parteien!

Einer davon war der Sheriff von Thompson, der offensichtlich den gegenwärtigen Zustand erst ermöglichte mit seinen Revolvern! Und der Sheriff hatte auch zugelassen, dass man John getötet und auf Ben Raider Jagd gemacht hatte.

Es waren noch zwanzig Minuten Marsch – eine Strecke, die man gut überblicken konnte, als eine Änderung eintrat, die Ben Raiders Pläne ins Wanken brachte: Aus der Stadt jagte ein Pferd! Auf dem Rücken des Pferdes klammerte sich eine winzige Gestalt fest, als ob es ein Kind wäre.

Ben Raider duckte sich hinter den Stamm eines halb vertrockneten Baumes. Er traute seinen Augen nicht!

Trotz der Entfernung glaubte er seinen Braunen zu erkennen – und die winzige Gestalt auf dem Rücken des Braunen war offensichtlich ein etwa zwölfjähriger Junge.

Es gab nur einen, den Ben Raider während seiner Anwesenheit in Thompson zu Gesicht bekommen hatte: Kid!

Was, um alles in der Welt, tat Kid da? Entführte er den Braunen, um ihn, Ben Raider, zu suchen? Warum?

Ben Raider klammerte sich an dem Baum fest. Seine Gedanken bewegten sich im Kreis.

Er sah zu der sengenden Sonne hinauf und wünschte sich zum ersten Mal, es wäre Nacht. Denn er konnte bei Tageslicht nicht einmal Kid in den Weg treten, sondern musste ihn davonreiten lassen. Das Opfer des Jungen war sinnlos ...



18

Ben Raider beobachtete gebannt. Kaum hatte Kid sich außer Schussweite von der Stadt begeben, als er das Tempo verlangsamte. Aus einem scharfen Ritt wurde ein »Zuckeltrab«.

Raider runzelte die Stirn. In ihm entstand ein schlimmer Verdacht.

Kid drehte mehrmals den Kopf, aber es gab keine Verfolger.

Das war mehr als seltsam!

Doch – jetzt tauchten zwei Reiter auf! Sofort gab Kid dem Braunen die Zügel frei. Der Gaul preschte los!

Die beiden Reiter zügelten ihre Pferde. Die Tiere trippelten unruhig. Die Männer hielten Ausschau nach Kid, aber sie machten keine Anstalten, ihm zu folgen. Ganz im Gegenteil: Jetzt wandten sie sich ab und ritten wieder in die Stadt hinein!

Kid verlangsamte sofort wieder sein Tempo. Aber diesmal hielt er die Stadt ständig im Auge.

Warum das alles? Warum folgte man ihm nicht auf der Stelle?

Es gab eine ganze Reihe von Gründen, aber Ben Raider entschied sich für einen einzigen: Dies war eine Falle!

Nicht, weil er Kid nicht traute. Der kleine Mexikanerjunge war von ihm in einer Art und Weise behandelt worden, wie es in dieser Stadt für Mexikaner völlig fremd zu sein schien. Daran hatte Kid keinen Zweifel gelassen.

Aber Kid hatte panische Angst vor seinen Peinigern! Sie hatten ihn nur auf den Braunen zu setzen brauchen.

Alles andere verlief nun fast von allein.

Nur ahnte keiner der Thompsoner, dass Raider bereits auf der Lauer lag: Der Junge sollte mit dem Pferd herausfinden, wo sich Ben befand!

Ein Plan, der eigentlich nur vom Sheriff stammen konnte. Keinem anderen traute Ben Raider so viel Verstand zu.

Durch den Jungen wussten sie wahrscheinlich vom besonderen Verhältnis zwischen Ben Raider und seinem Pferd. Der Braune würde Ben Raider wittern und – finden!

Prompt spürte Ben Raider eine Gänsehaut auf dem Rücken. Gewiss – er hatte den Plan rasch durchschaut, aber hatte er überhaupt eine Möglichkeit, der Falle zu entrinnen?

Gehetzt schaute er umher.

Nein! Das war offensichtlich. Wenn er jetzt losrannte, würde man ihn von der Stadt aus sehen. Dort lauerten gewiss hundert Augen, die die gesamte Umgebung genau beobachteten.

Ein Blick zur Sonne. Sie würde noch eine Weile am Himmel bleiben. Auf die Nacht durfte Ben Raider nicht hoffen. Es war aussichtslos!

Und schon sah er, dass der Braune stehen blieb und witternd den Kopf hob. Seine Nüstern blähten sich.

Er witterte seinen Herrn!

Ben Raider ballte die Hände zu Fäusten. Das treue Pferd hatte keine Ahnung, dass es damit seinen Herrn den Häschern auslieferte. Ben war überzeugt davon, dass die Verfolger schon warteten. Sie saßen auf ihren Pferden, bis an die Zähne bewaffnet! Sobald der Braune sich seinem Herrn näherte, kamen die Häscher, um sich auf Ben Raider zu stürzen.

Gegen eine solche Übermacht würde er nicht die geringste Chance haben! Hier befand er sich gewissermaßen auf dem Präsentierteller.

Und jetzt ritt der Junge mit dem treuen Pferd genau auf Ben Raider zu! Es war geschehen. Das Pferd hatte den Standort seines Herrn genau ausfindig gemacht!

Ben Raider blickte zur Stadt hinüber. Dort zeigte sich noch nichts. Alles erschien verdächtig still, obwohl die Friedlichkeit trog.

Das Unheil war nicht mehr abzuwenden! Es blieb Ben Raider nichts anderes, als tatenlos hier zu stehen und darauf zu warten, dass die Thompsoner ihre Stadt verließen, um sich auf die Fährte des Jungen zu heften – und der Junge würde sie mit tödlicher Genauigkeit zu Ben Raider führen.

Der Braune wurde schneller. Natürlich – er freute sich auf die Begegnung mit seinem Herrn ...

Ahnungslose Kreatur!

Bei der Stadt war alles ruhig. Der Junge schaute immer wieder herum und schien nicht zu ahnen, wozu man ihn missbrauchen wollte.

Der Braune verfiel jetzt in Galopp. Die geschmeidigen Muskeln des Vollblutpferdes spielten. Es galoppierte so leicht dahin, als hätte es kein Gewicht. Kraft und Anmut vereinten sich. Der Braune war kein gewöhnliches Pferd.

Aber Ben Raider konnte sich diesmal nicht darüber freuen!

Der Braune erreichte den Baum, hinter den Ben sich duckte. Knapp begegneten die Blicke des Revolvermannes den Blicken des Jungen.

Kid hielt die Zügel gepackt. Der Braune gehorchte ihm wie seinem richtigen Herrn. Und als der Braune Ben Raider passierte, zögerte er kaum merklich. Aber Ben verhielt sich stumm. Er tat nichts, um die beiden aufzuhalten. Der Braune galoppierte mit seiner leichten Last weiter, als würde Ben Raider gar nicht hinter dem Baum stehen.

Es dauerte Sekunden, bis Ben die Tatsache verdaut hatte, dass der schlaue Sheriff einen Fehler begangen hatte: Er hatte Kid gewaltig unterschätzt! Der Mexikanerjunge wusste ganz genau, was hier gespielt wurde, und, was noch wichtiger war: Er befand sich auf der Seite von Ben Raider! Noch deutlicher konnte kein Beweis sein.

Ben Raider duckte sich tiefer. Die Thompsoner mussten annehmen, er würde sich in den Bergen befinden. Sie mussten bald losreiten, sonst verloren sie Kid aus den Augen!

»Bravo, Kid«, murmelte Ben Raider vor sich hin und griff nach den Revolvern. »Du bist ein wahrer Freund. Der Einzige, den ich in diesem gottverlassenen Nest habe!«

Aber dann dachte er an die Lady und berichtigte sich ...



19

Ben Raiders Geduld wurde nicht mehr länger auf die Probe gestellt: Ein Reitertrupp preschte aus der Stadt, verließ die Straße und galoppierte querfeldein – kaum, dass der Junge auf seinem Pferd bei den ersten Ausläufern des Gebirgsmassivs verschwunden war. Sie würden den Vorsprung rasch eingeholt haben!

Aber auf diesem Weg würden sie weit genug an Ben Raider vorbeireiten und ihn nicht bemerken.

Raider ließ die Revolvergriffe los und duckte sich tiefer. Es würde doch nicht zum Kampf kommen.

Da – der zweite Reitertrupp! Dieser folgte der Straße. Es wurde deutlich, dass sie Kid den Weg abschneiden wollten. Nach Ben Raiders Schätzung kam man in dieser Richtung automatisch zum Goldgräbercamp.

Und dann kam der dritte Reitertrupp! Das war ein Aufgebot von knapp fünfzig Mann. Viel für einen einzigen Flüchtling, wie Ben Raider fand!

Er beobachtete die Stadt. Während fast fünfzig Reiter im gestreckten Galopp davonjagten, um einen Mann zu suchen, der längst entschlossen war, von selbst zu kommen, machte sich Ben Raider Gedanken darüber, wie gefährlich es für ihn werden würde. Er musste noch abwarten!

Der dritte Trupp wandte sich nach Nordwesten. So kamen sie dann aus drei verschiedenen Richtungen! Der Junge würde sie unweigerlich zu Ben Raider führen, wie sie glaubten – und dann wollten sie Ben Raider unbarmherzig in die Zange nehmen!

Ben wartete, bis er keinen mehr von ihnen sah. Noch eine Minute zur Sicherheit! Dann löste er sich aus der Deckung. Er legte die Hände so bedächtig auf die Revolvergriffe, als müsste er damit sehr vorsichtig sein.

Ben Raider ging jetzt nicht schnurgerade zur Stadt, um sie über die Main Street zu betreten. Es. galt, jede Deckungsmöglichkeit auszunutzen – sonst genügte ein einziger Schütze, um ihn über den Haufen zu schießen.

Als er so nahe war, dass es keine Deckungsmöglichkeiten mehr gab, hielt er ein.

Alles blieb ruhig. Man vertraute offenbar auf die Männer, die nach Ben Raider Jagd machten und in Wirklichkeit von Kid an der Nase herumgeführt wurden.

Der Mexikanerjunge würde den Thompsonern alles heimzahlen, was diese ihm angetan hatten! Davon war Ben Raider überzeugt.

Er verdrängte die Gedanken daran und konzentrierte sich auf die ersten Häuser rechts und links der Main Street.

Die Stadt wirkte ausgestorben. Ben Raider sprang hoch und sprintete auf die Häuser zu. Er musste damit rechnen, dass es einen Wächter gab, der nun Zielschießen auf ihn veranstaltete. Deshalb rannte er nur die ersten Schritte schnurgerade auf sein Ziel zu. Dann schlug er einen Haken nach links.

Im Zickzack näherte er sich der Stadt!

Doch keine Menschenseele zeigte sich. Kein Schuss fiel! Die Stadt blieb nach wie vor ruhig.

Ben Raider erreichte unbehelligt das erste Haus und stoppte mit vorgestreckten Armen an der Hauswand.

Er unterdrückte für Sekunden den keuchenden Atem und lauschte.

Da – Stimmen! Aber viel zu weit entfernt. Raues Gelächter! Das hatte überhaupt nichts mit ihm zu tun.

Ein Hund klagte heulend sein Lied.

Irgendwo schrie ein Baby.

Ben Raider tastete sich zur Hausecke und spähte vorsichtig darum herum.

Die Main Street lag offen vor ihm. Sie beschrieb einen sanften Bogen, sodass Ben nicht bis zum anderen Ende der Stadt sehen konnte.

Da saß einer auf dem Rand des Viehtrogs am Brunnen. Er hatte den Hut gezogen und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Nacken. Das Gewehr hatte er achtlos neben sich stehen.

Da saß einer auf dem Dach eines Gebäudes, den Hut tief in die Stirn gedrückt, das Gewehr in der Armbeuge. So döste er vor sich hin.

Ja, die Thompsoner waren gewappnet – aber es war zu lange nichts geschehen! Ihre Aufmerksamkeit hatte nachgelassen. Und niemand ahnte, dass der Gegner schon so nahe war!

Zwei Männer unterhielten sich laut. Sie lachten und scherzten, während sie im Schatten eines Vordachs standen.

Ben Raider brauchte nur einen einzigen Blick, um dies alles in sich aufzunehmen.

Es sah nicht so aus, als würde ihm in Thompson im Moment eine Gefahr drohen, falls er vorsichtig genug war.

Es gab für ihn nur ein Ziel, und dieses Ziel war die Lady! Er musste sie finden. Sie musste ihm helfen. Allein konnte er nichts tun.

Dabei wusste er gar nicht, wie er die Aufgabe überhaupt bewältigen sollte: Thompson für sich gewinnen! Yeah, wie – wenn er dabei nicht einmal offen auftreten konnte, ohne dass man ihn niederschoss?

Erzog sich zurück und tastete sich an der Hauswand entlang bis zur Rückseite. Dort verhielt er kurz und spähte wieder um die Hausecke.

Ein vertrockneter Garten, der durstig auf die Regenzeit wartete, um in seiner ganzen gepflegten Pracht erblühen zu können.

Ben Raider überlegte kurz. Er musste sich orientieren.

Ja, er war auf der richtigen Seite! Es musste ihm gelingen, zwischen den Häusern hindurch den Saloon zu erreichen. Im Nebenhaus musste er dann auf die Lady warten. Irgendwann würde sie kommen!

Oder war sie vielleicht schon dort?

An so viel Glück mochte er gar nicht glauben ...

Erlöste sich aus dem Schatten des Gebäudes und schlich durch den Garten. Wenn er ein Fenster erreichte, duckte er sich tief, um nicht durch Zufall entdeckt zu werden. Er passierte das erste Haus, kletterte über einen niedrigen Zaun und erreichte so das nächste Haus.

Das Spiel wiederholte sich. Immer wieder sicherte Ben Raider nach allen Richtungen.

Aus einem Haus klang eine schrille Frauenstimme. Ben Raider verstand nicht, was die Frau sagte. Sie schimpfte gotterbärmlich. Ben Raider schlich davon wie ein Dieb. Es war noch weit bis zu seinem Ziel. Viel zu weit, fand er.

Das nächste Haus. Das übernächste!

Ben Raider blieb vorsichtig und wachsam. Erging kein unnötiges Risiko ein.

Durch eine Lücke zwischen den Häusern blickte er genau auf das Sheriffs-Office. Für eine Sekunde blieb er stehen.

Die Eingangstür stand offen. Im Büro selber war es nicht hell genug. Ben Raider konnte nichts sehen. Aber er hatte den Eindruck, das Office sei leer.

Wo befand sich der Sheriff? Bei den Verfolgern war er nicht. Er befand sich in der Stadt.

Aber wo?

»Hands up!«, sagte jemand hart.

Eine Stimme, die Ben Raider nur zu gut kannte. Er wandte nicht den Kopf. Seine Haltung versteifte sich.

Eine verdammt harte, männliche Stimme, die überhaupt nicht zu dem knabenhaften Körper passte!

»Damned!«, fluchte Ben Raider.

Er hatte sich unversehens in eine Falle begeben.

Obwohl: Hatte er denn die Wahl gehabt?

»Ich habe auf Sie gewartet, Ben Raider – und das Warten hat sich gelohnt!«

»Dann war das nicht Ihre Idee gewesen, Sheriff, den Jungen loszuschicken?«

»Sicher war das meine Idee, Raider aber ich bin ein Mann, der gern mehrere Eisen im Feuer hat, wie Sie sehen. Und jetzt vorwärts, Ben Raider! Die Tür zu meinem Office steht bereits offen ... und die Tür in die Zelle auch.«

Der Sheriff schoss nicht und nahm Ben Raider auch nicht die Waffen ab. Er wagte sich keinen Schritt näher heran.

In Ben arbeitete es.

Sollte er einen Ausfallversuch wagen?

Der Sheriff würde auf jeden Fall schneller sein. Er brauchte nur abzudrücken.

Wie hoch standen Raiders Chancen? Würde der Sheriff ohne weiteres schießen?

Ja!, entschied Ben Raider, hob langsam die Hände in Brusthöhe und setzte sich in Bewegung. Zwischen den beiden Häusern hindurch erreichte er die Main Street.

Die Männer, die er vorhin beobachtet hatte, erwachten schlagartig aus ihrer Lethargie. Sie fuhren auf und stierten herüber.

Ihre Hände flogen zu den Waffen, obwohl es nicht mehr notwendig war.

Der Sheriff schnalzte mit der Zunge. »Los vorwärts, Raider!«

Und Ben gehorchte.

Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig ...



20

Er ging weiter über die Straße. Fenster wurden aufgerissen. Ein Gegenstand segelte zu ihm herüber. Ben Raider erkannte es aus den Augenwinkeln. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Der Gegenstand verfehlte ihn knapp – und als er im Straßenstaub landete, entpuppte er sich als Teetasse. Die wüste Beschimpfung wurde fortgesetzt.

Ben Raider blieb stehen. Dann wandte er bedächtig den Kopf und blickte zu dem bewussten Fenster hinauf.

Die übergewichtige Frau hatte einen hochroten Kopf und schüttelte die Fäuste wie ein Boxer.

Ben Raider lächelte sie an. Nur seine Augen machten dieses Lächeln nicht mit. Sie blieben nach wie vor eiskalt.

Der Frau blieben die weiteren Worte im Hals stecken. Sie wurde kreidebleich und schmetterte das Fenster zu.

Ben Raider wollte seinen Weg fortsetzen.

»Halt!«, befahl der Sheriff.

Erstaunt hielt Ben Raider an.

Die meisten Fenster waren wieder geschlossen; doch sammelte sich jetzt viel Volk.

Was hatten sie vor? Wollte der Sheriff Ben Raider doch der Meute ausliefern? Aber das Volk war noch sehr diszipliniert. Keine wüsten Beschimpfungen mehr, eher Schweigen. Aber Stille kann manchmal schlimmer sein als Höllenlärm ...

Ben Raider schaute sich um.

Er kannte sich aus. Es war nicht seine erste Stadt – und er hatte in manchen Städten erst einmal für Ruhe und Ordnung gesorgt, ehe man ihn hinauskomplimentiert hatte, weil er für gewisse Leute zu unbequem geworden war. Er wusste, was Schweigen bedeutete. Vor allem in solchem Fall: Man war zu allem bereit und wartete nur noch auf einen, der die Entscheidungen traf und das Signal gab.

Dieser eine konnte der Sheriff sein und der Sheriff ließ Ben Raider im Ungewissen.

Ben Raider zwang sich zur Ruhe, um klar denken zu können. Wieder einmal schätzte er seine Chancen ab. Er konnte nichts tun! Erst wenn sich die Leute auf ihn stürzen sollten und in die Schusslinie zwischen dem Sheriff und ihm gerieten ...

Diesen Gefallen taten sie ihm aber nicht! Sie warteten ab – und keiner wich seinen forschenden Blicken aus. Ihre Gesichter waren ernst und verschlossen. Sie hatten die Daumen in die Waffengürtel eingehakt.

Der Sheriff gab ihnen einen Wink. Ben erkannte es aus den Augenwinkeln. Er stand immer noch mitten auf der Straße – der Sheriff in einem Abstand von mindestens fünf Schritten. Zu weit weg, als dass Ben eine Chance gegen ihn gehabt hätte!

Ein paar zogen ihre Waffen und stellten sich in Positur. Andere suchten schleunigst Deckung.

Das roch nach Hinrichtung!

Ben Raiders Magen krampfte sich zusammen. Er schwitzte. Der Schweiß quoll ihm unter der Hutkrempe hervor, sickerte über seine Stirn und rann ihm ätzend in die Augen.

Aber Ben Raider blinzelte nicht einmal – und sein Gehirn arbeitete präzise und völlig unbeeinträchtigt. Es ging um sein Leben! Da leistete er sich keinen Fehler.

Nein!, entschied er sich: keine Lynchjustiz! Die Show dient einem anderen Zweck. Aber welchem?

Ein weiterer Wink des Sheriffs! Nur ein Mann reagierte. Er trat näher, von der Seite. Drei Schritte neben Ben Raider blieb er stehen. Mit dem Revolver zielte er genau auf Ben Raiders Brust. Der Hahn war gespannt, der Zeigefinger am Abzug. Ein winziger Druck genügte – und Ben Raider war ein toter Mann!

Der Sheriff näherte sich von hinten. Vorsichtig, lauernd – wie eine Katze, die in der Nacht ihr Maus Opfer beschlich ...

Bis er den Revolvermann Ben Raider erreicht hatte! Mit spitzen Fingern zog er ihm die Waffen aus den Holstern und warf sie weit hinter sich. Dann durchsuchte er den Verhafteten pedantisch genau.

Ben Raider lächelte. Doch es blieb nicht dabei: Er lachte leise. Auch das steigerte sich noch: zu brüllendem Gelächter! Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen, während alle betroffen dreinschauten und nicht begreifen konnten.

Abrupt brach Raider ab. Er knirschte mit den Zähnen und ließ die Arme sinken. Der Sheriff brachte sich schleunigst in Sicherheit.

»Feiglinge!«, knurrte Ben Raider. »Ihr verdammten Feiglinge! Vor wem habt ihr mehr Angst: vor den Goldgräbern, den Banditen in den Bergen oder vor eurem Sheriff? Oder vor mir? Nein – vor dem Sheriff, nicht wahr?« Seine Stimme scholl die Straße entlang und erreichte jedes Ohr. Eine Stimme, die durch und durch ging und Respekt einflößte.

Sie erkannten, dass Ben Raider weder Tod noch Teufel – noch ihren Sheriff fürchtete.

»Ja – vor dem Sheriff kriecht ihr zu Kreuze! Er ist ein Mann, der mit den Waffen zaubern kann, nicht wahr? Dann fordert ihn doch dazu auf, mir etwas vorzuzaubern! Vielleicht halte ich mit? Aber das wagt er nicht, euer sauberer Sheriff!«

Ben Raider drehte sich auf den Absätzen herum und ignorierte die drohenden Revolver. Er wandte sich dem Sheriff voll zu.

Der Mann mit dem knabenhaften Körper lächelte ihn an. Ein eisiges Lächeln, das überhaupt keine Wärme oder gar Menschlichkeit hatte. Dieser Mann wusste ganz genau, was er wollte – und vor allem, wie er das durchsetzen konnte!

»Das Raubtier ist gebändigt«, sagte er. »Ben Raider ist in unserer Hand, Leute! Wir töten ihn aber nicht, sondern sperren ihn ein, bis wir wissen, ob er nur die Vorhut ist.«

Ben Raider entgegnete: »Ich bin allein! Wenn ihr mich tötet, ist die Sache erledigt. Dann sind dort draußen nur noch die Goldgräber und die Banditen und hier drinnen der Sheriff.«

Doch Swiffert ließ sich nicht beeindrucken.

Einer aus der Menge rief: »Mach kurzen Prozess mit ihm, Pit! Klar, das ist eine reißende Bestie. Schieß ihn über den Haufen!«

Sheriff Swiffert schüttelte bedächtig den Kopf. Das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht.

»Ich entscheide selber!«, sagte er hart. »Ich entscheide, wann Raider sterben wird. Los, vorwärts!«

Ben warf einen letzten Blick in die Runde – und da sah er etwas, was ihm plötzlich neuen Mut und ungeheuer viel Kraft gab: Hinter einem Fenster, kaum zu sehen, befand sich eine Frau. Und es gab nur eine einzige Frau, die ihm diese Kraft geben konnte: die Lady! Er wusste immer noch nicht ihren Namen, aber er spürte, dass sie zu ihm hielt.

Ein wahnwitziger Gedanke setzte sich in ihm fest: Pit Swiffert schoss ihn nicht über den Haufen, weil die Lady es nicht wollte. Was verband die beiden miteinander?

Ben Raider verspürte sogleich brennende Eifersucht. Er ließ sich von den Revolvern des Sheriffs in das Office treiben. Der kühle Raum nahm ihn auf. Es war angenehm, nicht mehr die Hitze des Tages in solcher Brutalität zu spüren, wie sie auf der Main Street herrschte.

Es dauerte Augenblicke, bis sich Raiders Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten.

Das Office war nicht leer. Da stand ein Typ, beide Hände auf den Revolvergriffen, breitbeinig, Ben Raider abschätzig musternd. Ein blutjunger Bursche, der die noch weichen Gesichtszüge hinter Bartstoppeln verbarg, mit den kalten Augen einer Klapperschlange. Er kaute auf einem Hölzchen herum.

»Sperr ihn ein!«, befahl der Sheriff.

Selbst jetzt, da Raider unbewaffnet war, hielt er den Revolvermann in Schach.

Dass der Kerl ein Hilfssheriff war, empfand Ben Raider als Beleidigung des Gesetzes. Das war ein eiskalter Bandit, trotz seiner jungen Jahre ein Kerl, der seine eigene Großmutter verkaufte, wenn er sich davon einen Vorteil versprach.

Aber dem Sheriff war er hündisch ergeben! Wie die meisten von Thompson. Irgendwann musste der Sheriff allen seine Überlegenheit gezeigt haben: Ein gefährliches Spiel, das der Mann hier trieb, denn er musste damit rechnen, dass er ständig Todfeinde um sich herum hatte! Das war wie das Leben mit einer Zeitbombe in der Hosentasche, von der man nie wusste, wann sie hochging.

Der Sheriff schien sich nicht viel daraus zu machen. Sein Handlanger nahm die Schlüssel vom Schreibtisch und öffnete die Zellentür.

Ben Raider trat schweigend ein. Hinter ihm wurde die Tür scheppernd ins Schloss geworfen. Der Schlüssel drehte sich krachend. Das war so etwas Endgültiges, Unumstößliches – wie der Abschluss eines normalen Lebens, dem jetzt nur noch das Leben in der Angst und in der Unfreiheit folgen konnte.

Bens Hände klammerten sich um die Gitterstäbe. Er konnte nichts dafür.

Seine Wangenmuskeln spielten. Er betrachtete das Paar, das in Thompson maßgeblich für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Er hatte eher den Eindruck, dass Pit Swiffert und seine Leute die Stadt völlig im Griff hatten. Sie waren die eigentlichen Herren! Sie hatten auch die windigen Verträge mit den Goldgräbern und den Banditen ausgehandelt, weil sie selber Banditen waren.

Ben Raider runzelte die Stirn. Er dachte an all die Erklärungen, die man ihm gegeben hatte. Sie waren ihm einleuchtend und komplett vorgekommen, aber jetzt ahnte er, dass irgendwo ein Fehler lag. Eine Lösung, mit der man schlagartig sämtliche Probleme beseitigen konnte!

Aber er kam nicht darauf.

Die Schlüssel landeten auf dem Schreibtisch. Der Hilfssheriff pflanzte sich auf den Stuhl, legte die Beine hoch und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er kaute auf dem Hölzchen herum, rollte es zwischen den Zähnen hin und her und betrachtete unverwandt Ben Raider.

Bis der gefangene Revolvermann sich von dem Gitter abwandte und sich auf die primitive Holzpritsche setzte.

Der Sheriff schaute hinaus. Die Leute verliefen sich wieder. Das erwartete Schauspiel hatte nicht stattgefunden.

Und Pit Swiffert blickte zu einem bestimmten Fenster. Die Erkenntnis durchzuckte Ben Raider wie ein Blitz: Pit Swiffert blickte dorthin, wo sich die Lady befand!

Am liebsten wäre Ben aufgesprungen, um die Zelle zu verlassen. Aber er besann sich rechtzeitig. Es hatte keinen Zweck!

Pit Swiffert steckte die Revolver in die Holster und stampfte mit knallenden Absätzen hinaus. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Sein Hilfssheriff ließ sich von nichts stören. Er behielt den Gefangenen im Auge und kaute auf seinem Hölzchen herum.

Ben Raider vergrub sein Gesicht in den Händen.

Irgendetwas würde geschehen. Bald! In ein paar Minuten oder gar schon in ein paar Sekunden. Er spürte es mit jeder Faser seines Lebens.

Die Lady!

Er nahm die Hände herunter und grinste den Hilfssheriff an. Der vergaß plötzlich zu kauen.

Ben Raider richtete sich in seiner ganzen imposanten Größe auf und trat wieder an das Gitter.

Vorsichtig griff er nach den Eisenstäben. Er lachte rau und schüttelte den Kopf, als wäre das Ganze eher amüsant. Als könne er die Situation in keiner Weise ernst nehmen und als hätte er noch wichtige Trümpfe in der Hand!

Dann erwiderte er den Blick des Hilfssheriffs. So lange, bis dieser die Augen niederschlug ...



21

Die Tür wurde aufgestoßen. Jemand stürmte herein. Dieser Jemand brachte ein wenig von der Hitze mit, die draußen herrschte und erst im Laufe der kühlen Nacht abklingen würde.

Dieser Jemand war eine Frau – und die Wolke von Duft, die zu Ben Raider herüberwehte, zeigte ihm deutlicher als alles andere, wer sie war: die Lady!

»Mabel!«, rief der Hilfssheriff erschrocken und nahm die Beine vom Schreibtisch.

Sie stemmte ihre Arme auf die Tischplatte und schaute ihn an. »Wo ist der Gefangene? Was habt ihr mit ihm gemacht?«

Der Hilfssheriff nahm das Hölzchen aus dem Mund und deutete damit auf die Zelle.

Mabel wandte sich Ben Raider zu.

Ihre Augen schienen Blitze zu versprühen. »Das ist also dieser Hund von Ben Raider. Das ist also der Bruder des Verräters John Raider!« Sie streckte den Arm aus. »Das ist also der Mann, der sich im Saloon an mir vergriffen hat!«

Ihre Stimme war laut und anklagend. Gewiss konnte man es die halbe Straße hinunter hören.

Sie rannte herbei und rüttelte an dem Gitter.

Ben Raider wich unwillkürlich zurück.

»Mach die verdammte Tür auf, hörst du? Damit ich diesem Kerl an die Gurgel kann! Niemand hat bisher gewagt, Hand an mich zu legen, ohne dafür zu büßen.«

Der Hilfssheriff stand auf und eilte herbei. Beruhigend legte er Mabel den Arm um die Schultern.

»Komm, lass ihn, Mabel! Pit weiß schon, was er mit ihm machen wird. Wollte er nicht sowieso zu dir?«

Mabel schluchzte auf und barg das Gesicht in den Händen.

Der Hilfssheriff gebärdete sich hilflos. Er stand unschlüssig da und hatte die Hände in der Luft hängen, als wüsste er nicht wohin damit.

Da griff Mabel zu! Sie packte blitzschnell nach den beiden Revolvern des Hilfssheriffs.

Ben Raiders Augen weiteten sich. Er hatte noch nie eine Frau gesehen, die so gut mit Waffen umgehen konnte.

Die Revolver wirbelten in ihren Händen herum, bis sie auf den Hilfssheriff deuteten.

Der zuckte zurück. Dann hechtete er zum Schreibtisch, zog die Schublade auf, brachte einen Revolver zum Vorschein.

Er wollte abdrücken, das stand fest. Er wollte Mabel über den Haufen knallen, weil sie gewagt hatte, sich gegen ihn zu wenden. Darin kannte er keine Skrupel.

Doch Mabel war schneller. Sie drückte ab!

In dem engen Raum klang das wie das Abfeuern von zwei Kanonen.

Der Hilfssheriff, dieser Bandit mit einem Stern auf der Brust, wurde voll getroffen! Es warf ihn über den Stuhl. Er krümmte sich am Boden – und starb bereits nach wenigen Sekunden.

Mabel knallte einen Revolver auf die Schreibtischplatte, nahm die Schlüssel und eilte zur Zellentür.

»Aber ...«, begann Ben Raider. »Durch den Hinterausgang – rasch! Jetzt gibt es kein Zurück mehr, Ben Raider! Wir spielen um Sieg oder totale Niederlage.«

Über die Straße näherten sich eilige Schritte.

Mabel schickte ein paar Kugeln hinaus, um einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Dann eilte sie zum Hinterausgang.

»Wir treffen uns in meinem Haus! Du kennst den Weg.«

»Du wirst nicht mit mir ...«

»Viel Glück!« Sie reichte ihm die Revolver und schob ihn hinaus. Dann durchquerte sie das Office und nahm den Revolver, den der Hilfssheriff aus der Schublade gezogen hatte.

Mehr sah Ben Raider nicht mehr. Er rannte weiter.

Da hörte er die gellende Stimme von Mabel: »Pit Swiffert, komm rasch – ich hab diesen verdammten Gringo erledigt!«

Sie schien die Eingangstür aufgestoßen zu haben.

»Er hat deinen Hilfssheriff umgebracht. Komm rasch! Ich glaube, der Gringo lebt noch. Wie eine Katze. Die hat auch sieben Leben!«

Was hat sie vor?, dachte Ben Raider. Aber er rannte weiter, wie sie es ihm befohlen hatte. Er rannte hinter den Häusern vorbei und wurde nicht aufgehalten. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf die Geschehnisse auf der Straße.

Und er erreichte das Haus der Lady! Durch den Hintereingang drang er ein. Durch das Treppenhaus kam er zu dem Raum, in dem er den Geheimgang verlassen hatte.

Ben Raider trat ans Fenster und spähte hinaus.

Pit Swiffert war auf der Straße – unschlüssig. Noch befand er sich im toten Winkel!

Er winkte einem zu. Dieser gehorchte nur zögernd. Er ging auf das Office zu. Der Revolver in seiner Rechten zitterte. Die Tür zum Office stand halb offen.

Der Mann erreichte die Tür, trat ein.

Nichts geschah! Vorläufig wenigstens.

Ben Raider hielt unwillkürlich den Atem an. Ja, das war eine Frau, wie es keine zweite gab. Das war seine Mabel! Die Stimme des Mannes, der eingetreten war, erscholl nunmehr:

»Tatsächlich, Pit – die sind beide erledigt!«

Pit Swifferts Haltung entspannte sich. Er setzte sich in Bewegung, geriet in den Schussbereich von Mabel.

Er ging weiter, auf die Tür zu. Sie stand immer noch halb offen. Es war auf der Straße zu hell. Man konnte das Innere des Office nicht erkennen. Höchstens einen Schatten – und dieser Schatten bewegte sich, als Pit Swiffert heran war.

Ein Schuss krachte!

Die Hände des Sheriffs wollten hochfahren, wollten mit ihren Revolvern ebenfalls den Tod verbreiten. Doch dazu hatte er nicht mehr die Kraft! Mit ungläubigem Gesichtsausdruck brach er in die Knie.

Mabel zeigte sich. Schrill rief sie über die Straße hinweg: »Ich habe den Mörder meines Mannes gerichtet – und ich will dafür sorgen, dass all seine Helfer dem Henker ausgeliefert werden! Ben Raider ist ein rechtschaffener Mann. Er wird unser neuer Sheriff und in Thompson für Ruhe und Ordnung sorgen.«

Dass damit nicht jeder so ohne weiteres einverstanden war, zeigten die Schüsse, die auf das Office abgegeben wurden. Mabel zog sich gerade noch rechtzeitig zurück!

Auf der anderen Straßenseite, im Schatten der Vordächer, rannten Bewaffnete hin und her. Sie suchten geeignete Plätze, um die Belagerung des Office zu beginnen.

Und Mabel war allein!

Jetzt wurde gewiss auch der Hinterausgang des Offices bewacht.

Zeit für Ben Raider, in den Kampf einzugreifen!

Er schob das Fenster hoch und schoss auf die Bewaffneten. Aus dieser Richtung erwarteten sie keine Gefahr. Sie wurden von dem plötzlichen Feuer völlig überrascht und hatten keine Chance.

Einer wagte es, das Feuer zu erwidern – aber sein Schuss war ungenau, Ben Raider traf besser!

Er schwang sich über die Fensterbank hinaus, hielt beide Revolver in den Fäusten. Seinen Augen entging nichts! Drei Männer lagen im Straßenstaub. Sie zitterten wie Espenlaub, hatten Angst vor Ben Raider. Was dieser Mann getan hatte, musste ihnen wie ein Wunder vorkommen! Allein die Tatsache, dass Ben Raider überhaupt noch lebte, trotz allem, flößte ihnen gehörigen Respekt ein. Sie warfen ihre Revolver weit weg und blieben liegen.

Ben Raider erkannte eine winzige Bewegung auf einem der Dächer. Sein rechter Revolver flog herum. Der Schuss krachte!

Der Heckenschütze warf die Arme in die Luft und segelte herunter. Er schlug voll durch das Vordach auf den Steig und rührte sich nicht mehr.

Ben Raider ging weiter.

Plötzlich drehte er sich um sich selbst – eine einzige, fließende Bewegung! Seine Revolver spien Feuer. Die Kugeln zwangen weitere Heckenschützen tiefer in die Deckung.

»Pit Swiffert ist tot, ihr Narren!«, rief Mabel. »Wer dem neuen Herrn nicht dient, ist verloren. Kommt aus euren Deckungen heraus und gehorcht ihm!«

Ben Raider musste noch dreimal feuern, ehe er das Sheriffs-Office erreichte.

Breitbeinig stand er vor der offenen Tür.

Und die Rechnung von Mabel ging auf! Alles feige Burschen, wenn kein starker Mann da war, der ihnen genau sagte, wo es langging. Pit Swiffert hatte sie regiert – und sie hatten sich vor ihm geduckt, jetzt war Pit Swiffert nicht mehr am Leben. Er hatte seinen Meister gefunden. Sie brauchten ihm nicht mehr zu gehorchen ...

Deshalb kamen sie, denn es gab die Hoffnung, dass Ben Raider die alte Herrschaft fortführte. Dann blieb alles beim Alten! Dann hatten in der Stadt dieselben Leute das Sagen. Warum sollten sie sich also noch gegen Ben Raider auflehnen? Es waren zwanzig Burschen, die sich vor dem Sheriff Office versammelten.

Vielleicht hätte Ben Raider jetzt eine große Rede halten sollen, wie zum Amtsantritt. Aber das lag ihm nicht! Große Worte waren nicht sein Handwerk. Und vielleicht war es doch besser, wenn er den Mund hielt, denn der Kampf war immer noch nicht entschieden – auch wenn es jetzt so aussah.

Es gab immer noch fast fünfzig Bewaffnete außerhalb der Stadt, die Jagd nach ihm machten. Nicht gerechnet die Banditen in den Bergen und die Goldgräber!

»Komm rein«, zischte Mabel.

Ben Raider ließ die zwanzig Männer stehen und trat ein. Aber sie blieben vor dem Office. Sie wichen nicht von der Stelle. Als wüssten sie nicht, was sie ohne einen Führer tun sollten ...



22

»Es ist an der Zeit, dass du den Rest erfährst, Ben Raider«, sagte Mabel brüchig.

Er nickte. »Ja – das glaub ich auch!«

Äußerlich wirkte er ruhig und gelassen, aber in seinem Innern kochte ein Vulkan. Allein die Nähe von Mabel entfachte ein Feuer in ihm ...

»Ich bin Mabel Malloy. Vor zehn Jahren kam ich in diese Stadt. Sie war arm, aber sie hatte einen guten Bürgermeister: meinen späteren Mann! Ich will mir die Schilderung meiner bewegten und nicht gerade edlen Vergangenheit ersparen, sondern mich auf das Wichtigste beschränken. Vergiss alles, was du über Thompson bisher erfahren hast, Ben Raider. Es ist größtenteils gelogen: Meinem Mann gehörte der Höllencanyon! Damals wurde schon Gold geschürft: in der staatlichen Mine. Bis es sich nicht mehr lohnte.

Du weißt, dass der damalige Minenverwalter abzog und später mit seinen Leuten wiederkam, um heimlich zu schürfen? Aber der Kerl suchte an einer anderen Stelle: nämlich dort, wo mein Mann als Bürgermeister der Stadt bereits alle Rechte gesichert hatte. Dazu musste er nach Dallas reiten. Es kam zu einer fatalen Überschneidung der Ereignisse! Mein Mann war gerade abgereist, als der Minenverwalter überraschend zurückkehrte. Innerhalb von zwei Wochen war alles so, wie es heute ist. Auch die Banditen waren da! Sie besetzten das Höllencanyon. Es gibt zwar Rivalitäten zwischen den Goldgräbern und den Banditen, aber der ehemalige Minenverwalter und Stan Richard sind sich in allem einig: Die Banditen sorgen dafür, dass die Gegend unsicher bleibt und sich keiner aus der Stadt traut! So kommt auch niemand auf die Idee, etwas von dem Geheimnis um Thompson zu verraten.

Und noch etwas: Es erfährt auch keiner, dass die neue Mine in Wirklichkeit nicht dem Staat, sondern der Stadt Thompson gehört, wofür ihr Bürgermeister Malloy rechtzeitig gesorgt hat!

Aber Pit Swiffert mit seiner Bande war hier und hatte die Stadt bereits im Griff, als mein Mann zurückkehrte! Warum er überhaupt abgereist war, wussten außer mir nur die Mitglieder des Stadtrats – und die hatten Angst vor Swiffert.

Pit Swiffert fing meinen Mann ab! Wahrscheinlich versuchte er, ihn davon zu überzeugen, dass es besser war, mit den Banditen gemeinsame Sache zu machen. Mein Mann war anderer Meinung – und musste deshalb sterben! Und jetzt meint man in Thompson, den Goldgräbern verdanke man den bescheidenen Wohlstand! Und man meint, der starke Swiffert, der so gut mit seinen Revolvern umgehen konnte, sorgte dafür, dass die Goldgräber niemanden übers Ohr hauen und die Banditen brav außerhalb bleiben!

Es gibt außer mir nur noch drei Menschen, die über die wahren Zusammenhänge genau Bescheid wissen … wussten!«, verbesserte sie sich. »Pit Swiffert, Bandenboss Stan Richard und der Minenverwalter! Jeder hat einen Vorteil aus der gegenwärtigen Situation – und erst wenn die Thompsoner wissen, dass sie sich völlig unnötig den Swiffert-Banditen anvertrauten und nur die geprellten Handlanger sind, werden diese Burschen nichts mehr zu bestellen haben!«

»Warum sind die Richard-Banditen im Höllencanyon?«, fragte Ben Raider. »Warum hat mein Bruder überhaupt den Höllencanyon im Brief erwähnt?«

»Weil er die Geschichte kannte – von mir! Ich habe mich ihm anvertraut. Ich habe ihm auch geholfen, unbemerkt aus der Stadt zu kommen: Damit er Hilfe holt! In Wirklichkeit hat er versucht, einen persönlichen Vorteil aus der Situation zu ziehen – obwohl er mich letzten Endes doch nicht verraten hat. Und der Höllencanyon? ... Nun – es gibt einen Stollen! Da hat man früher einmal versucht, Gold zu finden, und hat es später aufgegeben, weil es sich angeblich nicht mehr lohnte. Mein Mann hat nach Aufgabe der staatlichen Mine im Canyon weitergegraben und Gold gefunden. Seitdem gibt es eine direkte Verbindung zwischen der neuen Mine und dem Höllencanyon! Die Banditen überwachen deshalb den Canyon!«

Ben Raider schüttelte den Kopf. Jetzt wusste er alles – oder fast alles. Es fehlte nur noch eine winzige Kleinigkeit: »Was sollen wir nun tun? Welche Chance haben wir?«

Sie runzelte die Augenbrauen.

»Wäre ich ein Mann, würde ich hinausgehen und den Narren verkünden, dass sie die rechtmäßigen Eigentümer der neuen Mine sind – dank meinem Mann! Aber würden sie mir glauben? Einer Frau? Deshalb habe ich die ganzen Jahre geschwiegen und alles erduldet. Es hätte mir niemand geglaubt! Ja, man hätte mich an den mächtigen Pit Swiffert verraten. So musste ich auch noch die ständigen Anträge dieses Mörders über mich ergehen lassen.«

Sie schüttelte die Fäuste, war außer sich vor Zorn.

Ben Raider nahm sie in die Arme. Einfach so! Er drückte sie an sich und presste seinen Mund auf ihren.

Sie entspannte sich, legte zärtlich ihre Hände in seinen Nacken.

Und dann klammerte sie sich an ihn wie eine Ertrinkende. Sie wusste, Ben Raider war anders als sein Bruder.

Ihm konnte sie vertrauen. Er würde sie nicht im Stich lassen – genauso wenig wie sie ihn.

Als sie sich voneinander lösten, waren sie glücklich – und ein wenig von diesem Glück schwang noch mit, als Ben Raider hinaustrat und doch noch seine Rede hielt.

Sie dauerte keine fünf Minuten – dann wussten alle, dass sie Pit Swiffert und sämtlichen anderen Banditen ganz gehörig auf den Leim gegangen waren.

Und es dauerte keine Sekunde, bis sie alles vergessen hatten, was mit dem toten Pit Swiffert zusammenhing: vor allem, dass sie für ihn und gegen Ben Raider gekämpft hatten.

Sie standen jetzt völlig auf der Seite von Ben Raider! Als wäre das schon immer so gewesen ...


ENDE