18. Kapitel

Ein Blick nach vorne:
Anti-Aging-Therapien heute und in Zukunft
Interview mit Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk

Ingmar Brunken (kursive Schrift): Wir haben uns ja entschieden, das Thema „Anti-Aging Therapien heute und in Zukunft“ nicht in Form eines Monologs oder eines Lehrkapitels anzugehen, sondern in Form eines Dialogs und Gesprächs, weil damit für unsere Leser die Expertise am besten zur Wirkung kommen kann. Ich übernehme dabei gerne die Rolle des neugierigen und nachfragenden Normalbürgers, der ich ja schließlich in Hinblick auf die medizinische Seite des Anti-Aging auch bin oder zumindest bis zur Behandlung und bis zum Schreiben dieses Buches noch war.

Und wir haben im Vorfeld dieses Gesprächs beschlossen, dass wir uns auf die für die Leserpraxis relevanten Fragestellungen des Anti- und Better-Aging fokussieren möchten.

Legen wir also los! Hier kommt meine erste Frage an dich:

Wir haben gesehen, dass es bereits heute Anti-Aging Behandlungen gibt, die das biologische Lebensalter zurückdrehen können. Werden solche Therapien bald zum Standard der Medizin gehören?

Bernd Kleine-Gunk [BKG]: Davon bin ich überzeugt. Wenn Behandlungen einen spürbaren und nachweisbaren Effekt haben, dann setzen sie sich auch relativ rasch durch. Wir kennen das aus dem Bereich der Ästhetik. Da erzielt Botulinumtoxin zum Beispiel einen guten Effekt auf Mimikfalten. Die Konsequenz ist: Millionen von Menschen lassen sich damit die Stirn glatt spritzen. Im Bereich des biologischen Anti-Aging sind die Folgen nicht so unmittelbar spür- und sichtbar wie in der Ästhetik. Wenn sich das Immunsystem bessert, ist das nicht gleich so offensichtlich als wenn die Zornesfalte nach einigen Tagen verschwindet. Wenn die übliche Herbstgrippe dann aber ausbleibt oder wesentlich milder verläuft ist das aber schon ein spürbarer Effekt. Ob ich dadurch dann auch länger lebe, weiß ich ganz genau natürlich erst nach einigen Jahrzehnten. Es lässt sich inzwischen aber ganz gut messen. „Horvath´s Clock“ ist eine epigenetische Uhr zur Bestimmung des biologischen Lebensalters. Sie revolutioniert gerade die Anti-Aging-Medizin. Auch bei der TRIIM Studie, die du ja durchgeführt hast, wird sie eingesetzt, um den Verjüngungsprozess zu messen.

Die Kosten für diese Verjüngungstherapien können ja erheblich sein. Auch wenn diese Kosten aus Sicht der begünstigten Patienten die gewonnene Gesundheit oder zusätzlichen Lebensjahre allemal wert sein dürften, habe ich aus Patientensicht eine Frage zu deiner Einschätzung als erfahrener Arzt: Wann werden die Kosten endlich von den Krankenkassen übernommen?

[BKG]: Diesbezüglich bin ich leider weniger optimistisch. Eine Kostenübernahme wäre sicherlich wünschenswert, ist aber in absehbarer Zukunft wohl eher nicht zu erwarten. Insgesamt muss man ja überhaupt sagen, dass die Prävention in unserem Gesundheitswesen – trotz aller verbalen Beteuerungen – immer noch eine untergeordnete Rolle spielt. Viele Krankenkassen nennen sich zwar inzwischen Gesundheitskassen, finanziert wird aber im Wesentlichen weiterhin die Reparaturmedizin und nicht der Erhalt der Gesundheit. Wenn es dann darum geht, „Altern zu behandeln“, wird es noch schwieriger. Altern ist ja immer noch nicht als Krankheit anerkannt. Altern ist allerdings ein Risikofaktor für viele Erkrankungen. Besser gesagt: Es ist DER Risikofaktor überhaupt. In diesem Sinne ist Altern nicht anders zu betrachten als Bluthochdruck oder erhöhte Cholesterinspiegel. Das sind auch keine Krankheiten an sich, aber es sind Risikofaktoren (zum Beispiel für eine Arteriosklerose und einen Herzinfarkt). Der biologische Alterungsprozess ist ein sehr viel umfassender Risikofaktor. Altern ist die Mutter aller Krankheiten. In Ärztekreisen spricht sich das allmählich herum. Bis das bei den Krankenkassen angekommen ist, wird es aber sicherlich noch ein wenig dauern.

Wenn das also in weiter Ferne steht. Was empfiehlst du Menschen mit weniger finanziellem Spieleraum. Welche Maßnahmen sind wirksam als Anti-Aging Prävention und gleichzeitig kostengünstig?

[BKG:] Da kommen wir dann auch gleich wieder zu den guten Nachrichten. Natürlich gibt es Anti-Aging Therapien, die relativ teuer sind. Bei dem TRIIM Behandlungsprotokoll ist das zum Beispiel der Fall, weil dort das Wachstumshormon zum Einsatz kommt, was sehr hochpreisig ist. Vieles im Bereich der Anti-Aging-Medizin lässt sich aber auch ohne hohe Kosten umsetzen. Die effektivsten Maßnahmen in diesem Bereich sind ja immer noch Lebensstilmodifikationen. Regelmäßig Sport treiben, sich ausgewogen ernähren, immer wieder mal kurze Fastenperioden einlegen, das alles kostet ja nicht viel Geld. Wer immer noch raucht und endlich damit aufhört, der spart sogar noch eine Menge.

Die billigste Behandlung ist ja immer noch KEINE Behandlung. Wer sollte sich denn überhaupt mit dem Thema Anti-Aging-Therapie beschäftigen? Gibt es da ein typisches Alter, ab wann eine solche Behandlung sinnvoll ist? Und gibt es umgekehrt ein Alter oder eine Altersspanne, in der Anti-Aging-Therapien sinnlos oder gar gefährlich werden? Seltsamerweise findet sich zu dieser Frage kaum etwas in den meisten Publikationen zum Thema Anti-Aging.

[BKG]: Für präventive Maßnahmen gelten im Wesentlichen zwei Regeln. Regel eins lautet: Je früher man damit beginnt, umso effektiver sind sie. Regel zwei besagt dagegen: Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun.

Es gibt zum Beispiel sehr schöne Studien aus Altersheimen, bei denen man über 80-jährige in Sportgruppen zusammengefasst hat. Da konnte man nachweisen, dass deren Kardiofitness, Knochendichte und andere Gesundheitsparameter sich schon bereits nach wenigen Monaten signifikant verbesserten. Trotzdem sollte man mit seinem Bewegungsprogramm natürlich nicht erst im Altersheim anfangen.

Kommen wir von der Gegenwart in die nähere Zukunft. Wie sehen die Anti-Aging-Therapien aus, die gerade in der Entwicklung sind?

[BKG]: Bisher beruhte die Anti-Aging-Medizin im Wesentlichen auf drei Säulen. Da war zunächst einmal die Lebensstilmodifikation. Ernährung, Bewegung, Stressmanagement spielen dabei die entscheidenden Rollen.

Dann kam die gezielte Supplementierung. Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamin D- oder Omega-3-Fettsäuren stehen da im Vordergrund, aber auch neuere Substanzen wie zum Beispiel das Spermidin.

Schließlich spielt auch der Hormonersatz eine wichtige Rolle. Das gilt vor allem für Frauen nach den Wechseljahren, wo dann die fehlenden Hormone substituiert werden. Es gilt aber durchaus auch für den Ersatz von Testosteron bei älteren Männern.

Das ist glaube ich sehr spannend für unsere männlichen Leser. Die Hormonersatztherapien für Frauen sind ja doch schon bekannter und Bestandteil entsprechender Behandlungen. Den Hormonausgleich beim altersbedingt abnehmenden Somatropin habe ich ja selbst durchgeführt. Aber welche Möglichkeiten gibt es in der Praxis für Männer, ihre mit zunehmendem Alter absinkenden, sonstigen Hormonspiegel z.B. beim Testosteron auszugleichen?

[BKG:] Das geht bei Männern eigentlich genauso wie bei Frauen. Wie diese ihre fehlenden Geschlechtshormone (Östrogen und Progesteron) substituieren können, so haben auch Männer die Möglichkeit, das fehlende oder absinkende Testosteron zu substituieren. Das kann man in Form von Hormongelen über die Haut machen, aber auch in Form von Depotspritzen, die dann drei Monate wirken.

Wichtig ist aber, zunächst einmal festzustellen, ob tatsächlich ein Hormonmangel vorliegt. Das kann man durch einen relativ einfachen Bluttest ermitteln. Und bevor man eine solche Therapie beginnt, müsste auch ein Urologe nachschauen, ob nicht eventuell ein Prostatakarzinom besteht. Das würde dann eventuell durch die Hormongabe in seinem Wachstum gefördert.

Also auch hier gilt: Es ist eine sehr wirksame Therapie. Man braucht dafür aber auf alle Fälle auch eine ärztliche Begleitung.

Das war jetzt ein Exkurs in neue Hormonersatztherapien, mit denen heute behandelt werden kann. Aber Hormonersatztherapien sind nicht die einzige Behandlungsmöglichkeit in der von dir genannten, dritten Säule?

[BKG:] Was wir derzeit erleben, ist die Entwicklung, dass auch Medikamente gezielt gegen das Altern eingesetzt werden. Bei der TRIIM Studie ist das ja bereits der Fall. Das Antidiabetikum Metformin wird derzeit intensiv auf sein Potenzial als Anti-Aging Medikament hin untersucht. Das geschieht vor allem in einer großen Studie namens TAME (Targeting Aging With Metformin). Rapamycin hat anscheinend ebenfalls interessante Wirkungen in dem Bereich, ist aber mit stärkeren Nebenwirkungen verbunden. Hier arbeiten verschiedene Firmen an sogenannten Rapaloga, also Substanzen, die lebensverlängernd wirken wie Rapamycin, allerdings ohne dessen Nebenwirkungen. Auf einen Nenner gebracht: Wir beginnen gerade die Ära, in der wir Altern medikamentös behandeln.

Was werden diese Entwicklungen für einen Patienten bedeuten, der sich in 10 Jahren gerne verjüngen möchte, was also durchaus für heute ältere Menschen relevant sind. Ich frage nicht ganz uneigennützig (lacht).

[BKG]: Wir unterscheiden ja im Anti-Aging Bereich zwischen Lifespan und Healthspan. Ich glaube nicht, dass wir in unmittelbarer Zukunft die maximale Lebenserwartung – die beim Menschen bei rund 120 Jahren liegt – nennenswert erweitern werden. Aber wir werden die gesunden Lebensjahre (die Healthspan) verlängern. Schon heute hört man ja oft den Satz: 60 sind die neuen 40. Ich denke, in zehn Jahren wird es heißen: 80 sind die neuen 50. Da ich ja noch ein paar Jährchen älter bin als du, arbeite ich daran durchaus auch im eigenen Interesse (lacht ebenfalls).

Wollen wir das noch ein wenig weiterdenken: Was würde einen heute 50- oder 60-jährigen erwarten, wenn er in den kommenden 40 Jahren noch eine Anti-Aging Therapie macht? Was wird er erleben und was wird er vermutlich erreichen können?

[BKG:] Ich denke, Voraussagen über einen Zeitraum von vierzig Jahren zu machen, ist tatsächlich wenig sinnvoll. Letztendlich können wir ja immer nur bestehende Entwicklungen hochrechnen. Was niemand vermag, ist Durchbrüche vorauszusagen, die auf völlig neuen Gebieten stattfinden. Das trifft auch auf Bereiche außerhalb der Medizin zu. In den 1960er Jahren waren zum Beispiel die Raumfahrt und die Atomkraft große Zukunftsthemen. Die Futurologen prophezeiten damals Städte auf dem Mars und atomkraftbetriebene Autos. Das Internet hatte dagegen niemand auf dem Schirm.

Auch in der Medizin haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten Entwicklungen gesehen, die niemand voraussehen konnte. Wer hätte um die Jahrtausendwende gedacht, dass es einen zweiten genetischen Code (die Epigenetik) gibt, mit dem sich unser biologisches Alter bestimmen lässt. Hätte zu der damaligen Zeit jemand behauptet, dass Darmbakterien Einfluss auf neurodegenerative Erkrankungen nehmen, er hätte wahrscheinlich schallendes Gelächter geerntet. Heute ist die Mikrobiom-Forschung eine der spannendsten Wissenschaftsfelder überhaupt – mit großen Konsequenzen für die Anti-Aging Medizin. Wenn ich also eine Vorhersage wagen würde, dann diese: Wir werden noch viel Unvorhersehbares erleben.

Ich habe von dir gelernt, dass es die präventive und die regenerative Anti-Aging-Therapie gibt und dass wir uns heute noch überwiegend im präventiven Feld bewegen (müssen) – das hast du ja auch eben schon erwähnt. Das begrenzt unsere Lebenszeit also auf die legendären 120 Jahre, die als bisher einziger Mensch Jeanne Calment nachweislich erreicht hat. Wann werden wir im Stande sein, mit regenerativen Therapien diese Grenze zu überwinden?

[BKG:] Diesen Wandel erleben wir gerade. Bisher war die Anti-Aging Medizin vor allem tatsächlich präventiv. Es galt, den Organismus vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Auf molekularer Ebene sind das zum Beispiel oxidativer Stress, niederschwellige Entzündungen oder Glykierung (Verzuckerung). Allmählich kommen wir aber in den Bereich der regenerativen Therapien. Durch Stammzelltechnologien und Tissue Engineering lassen sich Gewebe nachzüchten, epigenetische Veränderungen lassen sich reprogrammieren (zumindest in Ansätzen). David Sinclair hat auf diese Art und Weise blinde Mäuse wieder sehend gemacht. In gewisser Weise ist ja auch die Behandlung der TRIIM Studie, der du dich ja unterzogen hast, bereits eine regenerative Therapie. Die Thymusdrüse, die ab fünfzig eigentlich kaum noch vorhanden ist, wird medikamentös regeneriert. Dadurch wird der Immunseneszenz, also dem Altern des Immunsystems entgegengewirkt. Und das wirkt insgesamt verjüngend.

Mit den regenerativen Therapien steigt ja auch die Chance auf eine Verlängerung der allgemeinen Lebensspanne. Würdest du dem bekannten Altersforscher Aubrey de Grey zustimmen, der prophezeit, der erste Mensch, der tausend Jahre alt wird, sei bereits geboren?

[BKG:] Ich kenne Aubrey de Grey ja persönlich und schätze ihn auch sehr. Er ist inzwischen so etwas wie die Symbolfigur der „Radical Life Extension“ geworden. Man sollte allerdings wissen: De Grey ist nicht nur Wissenschaftler, er ist auch ein Marketing-Profi. Für seine Stiftung benötigt er eine Menge Geld, und Investoren begeistert man bekanntlich nicht mit vorsichtigen Hypothesen. Da müssen dann schon knallige Visionen her. So sehe ich das auch mit den tausend Jahren Lebenszeit. Der Harvard-Genetiker David Sinclair, der derzeit wahrscheinlich wichtigste Bio-Gerontologe, hält aber eine Lebensspanne von 250 Jahren für das Ende des Jahrhunderts für durchaus realistisch. Dem würde ich mich anschließen.

Das finde ich eine elektrisierende Aussage! Denn das bedeutet ja: Wir haben eine realistische Aussicht darauf, dass in den kommenden 76 Jahren eine massive Verlängerung der Lebensspanne und eine Überwindung der 120-Jahre-Grenze möglich ist - also durchaus innerhalb der Lebensspanne von vielen Menschen, die heute bereits leben.

Das wäre doch ein enormer Motivationsschub für viele unserer Leserinnen und Leser, mit den aktuell möglichen Anti-Aging-Maßnahmen die eigene Lebenszeit so zu verlängern, dass die dazu nötigen, neuen Behandlungen erreichbar sind.

Begehe ich da einen Denkfehler oder ist das eine echte Chance?

[BKG:] Das ist eine echte Chance, und wird auch bereits von den Vordenkern genau so propagiert: Von dem bereits erwähnten Aubrey de Grey stammt das schöne Konzept der „Longevity escape velocity“. Jedes Jahr, das wir durch Anti-Aging Maßnahmen hinzugewinnen, macht die Longevity Medizin weitere Fortschritte in Richtung Lebensverlängerung. In vielen Fällen sind diese sogar exponentiell. Irgendwann steigt dann die Lebenserwartung schneller an als unsere Lebenszeit vergeht. Ob wir dann tatsächlich tausend Jahre alt werden, sei einmal dahingestellt. Aber eine deutliche Verlängerung der Lebenserwartung ergibt sich auf jeden Fall.

Wenn Aubrey de Gray das mit 1‘000 Lebensjahren auch als Marketing-Spruch zugespitzt haben mag, geht doch deine Projektion mit 250 Jahren in die gleiche Richtung. Ich erkenne jedenfalls in den kommenden 200 Jahren keinen großen Unterschied zwischen Marketing-Sprech und Mediziner-Beurteilung. In 200 Jahren reden wir dann nochmal! (lacht) Aber zurück in die Gegenwart zum Thema „neue Entwicklungen“. Gibt es aktuelle, klinische Studien, deren Ergebnisse kurz bevorstehen und die einen Durchbruch bedeuten könnten? Welche spannenden Ergebnisse erwartest du da in Kürze?

[BKG:] Ein heißes Thema sind derzeit die sogenannten Senolytika. Um das zu verstehen, benötigt man ein wenig Hintergrundwissen. Jede Körperzelle hat nur eine begrenzte Lebenszeit. Sie teilt sich etwa 50- bis 60-mal, dann stirbt sie ab. Dabei gibt es allerdings zwei Arten, auf die sie sich aus dem aktiven Leben verabschieden kann. Das eine ist der programmierte Zelltod, die Apoptose. Solche Zellen sind dann tatsächlich Geschichte. Die andere Möglichkeit ist, dass die Zellen seneszent werden. Sie erfüllen dann zwar nicht mehr ihre ursprünglichen Aufgaben, sind aber auch nicht wirklich tot. Und als nicht-tote Zellen – selbst Fachjournale sprechen inzwischen von „Zombie-Zellen“ – richten sie eine Menge Schaden an. Zum einen arbeitet sich das Immunsystem an diesen Zellen ab, was zu chronischer Inflammation (also Entzündung) führt. Zum anderen sezernieren die Zombie-Zellen auch toxische Substanzen in ihre Umgebung, wodurch junge und gesunde Zellen geschädigt werden.

Man kann sich das in etwa vorstellen wie einen Korb voller frischer Äpfel. Wenn darunter ein fauler Apfel ist, kann er ebenfalls die gesunden Äpfel in seiner Umgebung infizieren. Genauso ist es mit den seneszenten Zellen in unserem Körper. Derzeit wird nun intensiv nach Substanzen gesucht, welche die „Zombie-Zellen“ endgültig ins Jenseits befördern. Von diesen sogenannten Senolytika verspricht man sich einen ganz neuen Ansatz für die Longevity Medizin. In Mäuseversuchen hat man bereits sehr gute Ergebnisse erzielt. Beim Menschen werden entsprechende Substanzen bereits in Phase 3 Studien getestet. Das bedeutet, dass mit einer baldigen Zulassung zu rechnen ist.

Kannst du uns einige dieser Substanzen nennen, die hier im Fokus stehen?

[BKG:] Da werden in der Tat sehr unterschiedliche Substanzen getestet. Ganz weit vorne ist bei diesen Untersuchungen zum Beispiel die Mayo Klinik, wo James Kirkland bahnbrechende Studien veröffentlicht hat. Er setzt bei der Bekämpfung der Zombie-Zellen auf ein mildes Chemotherapeutikum namens Dasatinib.

Da werden sich natürlich viele schwertun, solche doch recht aggressiven Substanzen für Anti-Aging-Zwecke einzusetzen. Es gibt aber auch Alternativen aus dem Phytobereich. Wir wissen zum Beispiel, dass sekundäre Pflanzenstoffe wie Quercetin (kommt in Äpfeln und Zwiebeln vor) und vor allem auch Fisetin (ist vor allem in Erdbeeren enthalten) ebenfalls senolytische Wirkungen haben. Hier muss man allerdings sagen: So viele Erdbeeren kann man nicht essen, dass man damit seine Zombie-Zellen abtötet. Auch hier müsste man dann also auf entsprechend hoch dosierte Supplemente zurückgreifen, die es inzwischen aber auch schon gibt.

Kommen wir zur Praxis der Anwendung und unserem medizinischen System: Warum gibt es heute doch eher wenige Ärzte, die solche Therapien für ihre Patienten anbieten oder durchführen? Wenn die Therapien wirken – und das tun sie ja offensichtlich – dann müsste es doch mehr Ärzte geben, die diese auch verschreiben.

[BKG:] Fangen wir einmal mit einem sehr banalen, aber nicht ganz unwichtigen Grund an: Anti-Aging-Medizin wird schlecht bezahlt. Das gilt natürlich nicht für das ästhetische Anti-Aging. Ein bisschen Botox in die Stirn spritzen ist schnell gemacht und bringt gutes Geld. Das biologische Anti-Aging ist dagegen sehr beratungsintensiv. Da geht es um Lebensstil, Ernährung, Supplemente, neue Therapien, etc. Diese „sprechende Medizin“ wird aber traditionell schlecht vergütet. Eine halbe Stunde Beratung für 30 bis 40 Euro – davon kann kein selbständiger Arzt seine Praxis finanzieren.

Hinzu kommt natürlich, dass die Anti-Aging-Medizin noch nicht als eigene Fachrichtung etabliert ist, wie etwa die Gynäkologie, Kardiologie oder die Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. Die entsprechenden Ärzte müssen sich das Wissen meist privat aneignen, zum Beispiel auf den Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen meiner Gesellschaft, der GSAAM.

Und dann haben wir auch noch das Problem mit den Krankenkassen, die Anti-Aging-Medizin zumeist nicht bezahlen. Der Satz, den ein deutscher Arzt am häufigsten in seinem Berufsleben hört, lautet wahrscheinlich: Zahlt das auch meine Krankenkasse? Und das tut sie in dem Bereich in der Regel nicht. Was dann meist noch einen ebenso intensiven wie erfolglosen Briefwechsel mit den Sachbearbeitern der jeweiligen Krankenkasse zu Folge hat.

Wie müsste sich unser System ändern oder weiterentwickeln, damit sich das ändert?

[BKG:] Es gibt eine Lösung, die für manche wahrscheinlich ziemlich radikal klingt, die aber - konsequent zu Ende gedacht - viele Vorteile mit sich bringt: Altern muss endlich als Krankheit anerkannt werden.

Vielen geht dies zu weit, weil sie Altern als natürlichen Prozess ansehen. Wir wissen aber, dass von täglich 150‘000 Todesfällen weltweit 100‘000 durch altersbedingte Erkrankungen bedingt sind. In der industrialisierten Welt sind es sogar 90 Prozent aller Todesfälle. Wer hier effektiv präventivmedizinisch wirken will, der muss Altern an sich behandeln. Alles andere ist nur ein Herumdoktern an Symptomen.

Wenn Altern als Krankheit anerkannt wird, dann bedeutet das auch, dass Krankenkassen die Therapien bezahlen. Es bedeutet nicht zuletzt, dass Pharma- und Biotechfirmen hierzu endlich vernünftige Studien machen können. Bisher scheitert das häufig daran, dass die entsprechenden Ethikkommissionen sich auf den Standpunkt stellen: Altern ist keine Krankheit, also genehmigen wir auch keine Studien, die Altern behandeln.

Nur mal zur Erinnerung: Bis in die 1990er Jahre galten auch Osteoporose und Demenz nicht als anerkannte Krankheiten. Das waren halt normale Alterungsprozesse. Das sehen wir heute natürlich anders. Was „normales Altern“ und was ein pathologischer Prozess ist wird also ständig neu definiert. Altern als eigenständige Krankheit anzuerkennen, wäre demnach nur konsequent. Das würde uns in vielen Bereichen weiterbringen.

Was würdest du einem interessierten – sagen wir 50-jährigen – raten: Sollte er jetzt eine Anti-Aging-Therapie beginnen oder sollte er noch einige Jahre abwarten, bis sich weitere Therapien etablieren?

[BKG:] Man sollte definitiv jetzt schon beginnen. Auch wenn die Erfolge mancher Therapien derzeit noch übersichtlich sind – sie helfen uns, fit und gesund zu sein, wenn dann in einigen Jahren die richtig effektiven Behandlungen an den Start gehen.

Philosophische oder ethische Fragen müssen wir hier nicht diskutieren, obwohl sie natürlich naheliegen. Aber erstens würde das den Rahmen dieses Buches sprengen, und zweitens hast du diese Fragen ja für interessierte Leser auch ausführlich in deinem Buch „Transhumanismus“ erörtert, gemeinsam mit dem Philosophie-Professor Stefan Lorenz-Sorgner. Es gibt jedoch zwei Themen in diesem Bereich, die bereits heute enorme Praxisrelevanz haben, und die ich deshalb doch ansprechen möchte.

Das erste dieser beiden Themen ist die Stammzellentherapie, über die uns ja fast täglich Presseberichte über entsprechende Experimente aus den USA erreichen. Ist das aus deiner Sicht eher eine Hoffnung oder ein Holzweg – möglicherweise gar eine ethisch fragwürdige Bedrohung?

[BKG:] Stammzelltherapien halte ich keineswegs für fragwürdig, sondern für eine der großen Zukunftsperspektiven der Anti-Aging-Medizin. Die kontroversen ethischen Diskussionen bezogen sich ja auch nicht auf die Therapien selber, sondern auf die Tatsache, dass man anfangs vor allem embryonale Stammzellen verwendete. Das war in der Tat ethisch problematisch und in Deutschland auch durch das Embryonenschutzgesetz teilweise limitiert. Inzwischen kann man aber Körperzellen zu sogenannten iPS (induzierten pluripotenten Stammzellen) zurückprogrammieren. Damit stellt sich die Problematik der embryonalen Stammzellen nicht mehr.

Im Übrigen werden Stammzelltherapien schon seit vielen Jahren eingesetzt, etwa bei der Behandlung von Leukämien. Relativ weit fortgeschritten ist auch bereits das Tissue-Engineering, also die Züchtung ganzer Gewebe aus Stammzellen. Künstliche Haut etwa steht kurz davor, in die klinische Routine eingeführt zu werden. Auch hier wird die praktische Anwendung nicht unbedingt als erstes im Anti-Aging Bereich sein. Opfer von Verbrennungen werden zweifellos zu den Ersten gehören, die eine solch künstliche Haut aus Stammzellen transplantiert bekommen.

Ist die Methode dann aber erst einmal etabliert, lässt sich bereits jetzt absehen, wie das zum Beispiel die ästhetische Dermatologie revolutionieren wird. Niemand wird sich mehr damit zufriedengeben, die sichtbaren Alterungsprozesse der Haut mittels Botox, Fillern oder Peelings zu kaschieren, wenn gleichzeitig die Möglichkeit besteht, Haut völlig neu nachzuzüchten. Das wird also ein echter Game changer. Und der bleibt natürlich nicht auf die Haut beschränkt.

Das zweite Thema, das ich meine, ist damit verwandt: die Veränderung der Keimbahn, also einer Behandlung, die bereits im Umfeld der Befruchtung am Genom des künftigen Menschen durchgeführt würde – und ja sogar bereits in vielzitierten und kritisierten Experimenten in China erstmals angewendet worden ist (übrigens mit fragwürdigem Erfolg). Eine solche Behandlung könnte uns genetisch so umprogrammieren, dass unsere Lebensspanne erheblich wächst……. Und damit potenziell unsere gesamte Spezies!

[BKG:] Hier stellen sich in der Tat sehr nachdrücklich ethische Fragen. Durch die 2013 entdeckte CRISPR/Cas Methode ist es ja inzwischen möglich, genetische Veränderungen mit geradezu chirurgischer Präzision vorzunehmen. Prinzipiell ist das auch an der Keimbahn möglich, wodurch diese Veränderungen nicht nur beim individuellen Patienten auftreten, sondern auch an alle nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Spätestens da betreten wir dann ethisch vermintes Gelände.

Gemacht wurde es aber bereits. Der chinesische Nachwuchsforscher He Jiankui hat 2018 ein Zwillingspärchen zur Welt gebracht, dem er zuvor bei der IVF-Befruchtung ein Resistenzgen gegen HIV eingepflanzt hatte. In der wissenschaftlichen Community ist das auf ziemlich einhellige Ablehnung, wenn nicht sogar Empörung gestoßen. Die chinesische Regierung hat ihn sogar für drei Jahre ins Gefängnis gesteckt. Dennoch hat der Vorfall bewiesen, was mittlerweile technisch möglich ist. Der Weg zu Designer Babys ist jedenfalls schon vorgezeichnet. Ob wir demnächst dann „Langlebigskeitsgene“ per CRISPR/Cas übertragen ist eine spannende Frage. Die Transhumanisten träumen bereits davon. Eher biokonservativ eingestellte Wissenschaftler sehen hier den Homo Sapiens in seiner ureigensten Existenz bedroht.

Unabhängig davon, was du oder ich denken, sind diese Entwicklungen ja bereits in vollem Gange – wie man an dem Beispiel aus China sieht. Eventuell können wir das also gar nicht mehr steuern, und der Zug ist schon abgefahren?

[BKG:] Das würde ich nicht unbedingt sagen. Im Bereich der Medizin und der Biowissenschaften gibt es eine Community, die sich auf gewisse ethische Standards einigen kann und diese auch weitgehend einhält. Die nahezu einhellige Verurteilung He Jiankuis hat jedenfalls dazu geführt, dass ähnliche Keimbahnveränderungen am Menschen seit 2018 nicht mehr durchgeführt wurden – auch wenn das technisch relativ einfach möglich wäre.

In anderen Bereichen ist das sicher problematischer. Ich denke da etwa an die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI), die ja auch für die Medizin immer wichtiger wird. Hier hat sich die Entwicklung weitgehend einer internationalen Kontrolle entzogen. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass für Weiterentwicklungen in diesem Bereich keine großen Labore notwendig sind, die meist von Wissenschaftlern geleitet werden, die sich ethischen Standards verpflichtet fühlen. KI-Programme kann prinzipiell jeder Computer-Nerd in seiner Garage schreiben. Auch die Aussicht auf extreme finanzielle Gewinne ist hier offensichtlich größer.

Das ist schon eine sehr unübersichtliche Gemengelage, vor der inzwischen sogar ausgewiesene Tech-Gurus wie Elon Musk warnen.

Es gab eine Reihe bahnbrechender, neuer Technologien, die in den letzten zwei Dekaden die Anti-Aging Forschung massiv befeuert haben… Was fehlt uns noch an Technologien, bevor wir wirklich unseren Körper auf Anti-Aging nachhaltig „umprogrammieren“ können anstatt Pillen zu schlucken oder regelmäßige Behandlungen durchzuführen? Wo liegen die Hürden?

[BKG:] Ich denke, wenn man effektive Anti-Aging-Therapien entwickeln will, muss man sich vor allem an den entscheidenden molekularen Alterungsfaktoren orientieren - den berühmten „Hallmarks of Aging“. Die sind inzwischen ziemlich gut definiert. Die therapeutische Beeinflussung dieser Faktoren steckt aber noch in den Kinderschuhen. Mitochondrien im Alter wieder fit zu machen – da gibt es zwar einige Supplemente, die das von sich behaupten. Eine etablierte mitochondriale Medizin haben wir aber derzeit noch nicht.

Das „epigenetische Rauschen“ ist für David Sinclair der wichtigste Alterungsfaktor, und er arbeitet intensiv an einer epigenetischen Reprogrammierung. Die funktioniert bisher aber nur an Mäusen. Bis zu Therapien an Menschen ist es auch hier noch ein weiter Weg.

Die Beseitigung von molekularem Müll in unseren Zellen – die sogenannte Autophagie – wird im Alter zu einer wesentlichen Herausforderung. Da haben wir jetzt mit Spermidin zumindest ein Supplement, das diese Autophagie zumindest unterstützt. Aber wirksame Medikamente, die Autophagie sehr effektiv stimulieren, fehlen auch weiterhin. Zusammenfassend lässt sich sagen: Da gibt es noch viel zu tun, aber wir wissen durch die Fortschritte der Grundlagenforschung zumindest, in welche Richtung wir arbeiten müssen.

Ich habe in diesem Gespräch das Gefühl bekommen, dass wir ein im Hinblick auf „Anti-Aging“ und „Better-Aging“ extrem spannendes Jahrzehnt und Jahrhundert vor uns haben!

[BKG:] Das sehe ich genauso. Die Fortschritte der Anti-Aging Medizin werden ja nicht nur unsere persönliche Lebensperspektive verändern. Eine deutlich verlängerte Lebenszeit hat ja auch fundamentale Auswirkungen auf die Gesellschaft an sich. Wie finanzieren wir bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 100 Jahren und mehr unser Rentensystem? Müssen wir dann den Generationenvertrag ganz neu verhandeln? Eine Zunahme der Lebenserwartung bedeutet auch eine weitere Zunahme der Weltbevölkerung. Hält unser Planet das überhaupt aus? Das alles sind ja Fragen, die weit über das rein Medizinische hinausgehen. Eigentlich ein spannender Stoff für ein weiteres gemeinsames Buch.

(Anmerkung d. A.: Dieses Buch ist inzwischen als Band 3 der Reihe „Verjüngung“ in Arbeit und wird voraussichtlich 2025 erscheinen.)