Montag, der 14. Oktober 2019, 04:30 Uhr
Berlin-Rudow
Der Wecker seines Handys riss Niklas Galanis aus dem Schlaf. Jeden Morgen drückte er mehrere Male die Schlummertaste, obwohl sich dieser penetrante Klingelton wie das Werkzeug eines Zahnarztes in seine Träume bohrte, um ihn in die Wirklichkeit zurückzubefördern. Nach knapp dreißig Minuten schaffte er es, endgültig aufzustehen und sein Bett zu verlassen. Sein Schädel brummte und schien gleich zu explodieren. Die Alkoholexzesse, denen er sich immer öfter hingab, arteten von Mal zu Mal mehr aus. Was mit einer überschaubaren Menge Bier begann, wandelte sich schnell in Gelage mit viel Wodka und noch mehr Jacky-Cola.
Montag, und jede Woche derselbe Scheiß! Seine Schicht begann gleich, er durfte nicht wieder zu spät kommen. Rüdiger Hoppe, sein Schichtleiter, hatte ihn bereits auf dem Kieker. Das Resultat der andauernden Verspätungen war eine zweite Abmahnung, die Rüdiger Hoppe, begleitet von einem selbstgefälligen Grinsen, ihm persönlich überreichte. Was ein Arsch , dachte er sich, als ob er nicht auch schon oft zu spät gekommen wäre. Regelmäßig stellte er sich vor, Rüdigers Schädel mit einem Hammer einzuschlagen. In seinen Augen war Rüdiger Hoppe lediglich ein ehrenloser Bastard.
Plötzliche Übelkeit kam in ihm auf. Sein Magen rebellierte, er schmeckte Galle und musste würgen. Er schaffte es gerade noch aufs Klo, um sich zu übergeben.
Niklas Galanis dachte an die vergangenen Tage, an dieses geniale Wochenende. Saufen und feiern bis zum Umfallen. Die Party, die Pino und Jürgen in der Gartenlaube im Kleingärtnerverein spontan veranstaltet hatten, war nicht nur ausgeufert, sie war der Hammer gewesen. Wie immer hatte sich Niklas Galanis gefühlt, als ob er sich auf einer Weihnachtsfeier befände und das Wichteln gleich beginnen würde. Auf diesen Partys wurde aber nicht gewichtelt. Im Gegensatz zu Weihnachten teilten sich hier die Beschenkten mit den Weihnachtsmännern das Geschenk. Er liebte Pino und er liebte Jürgen. Niemand sonst verstand es, seine Jungs jedes Mal so zu überraschen und ein solches Feuerwerk abzubrennen.
Die Gartenlaube war gemütlich eingerichtet. Auf ungefähr fünfundvierzig Quadratmetern konnten gut und gern acht Feierwillige einen ausgelassenen Abend verbringen. In der Laube, es gab nur einen Raum, befanden sich ein kleiner Elektroofen, eine Küchenzeile, natürlich ein 65-Zoll-Flatscreen und diese supergemütliche Couch. Dass sie dreckig und voller Spermaflecken war, hatte keinen der Anwesenden gestört, denn es war nur darauf angekommen, was hier gleich passieren würde. Jürgen und Pino hatten bestimmt wieder etwas ganz Besonderes zu bieten.
Als die Stimmung fast zu kippen drohte, wurde die Tür der Gartenlaube aufgestoßen. In der Öffnung stand Pino. Nackt und in Begleitung eines weinenden Jungen. Der Junge, er hatte ihn auf sechs bis sieben Jahre geschätzt, war von Pino auf die Couch geworfen und brutal vergewaltigt worden. Nachdem Pino sich an dem Jungen vergangen hatte, war Jürgen an die Reihe gekommen. Das Gegröle war immer lauter geworden. Die Meute hatte Jürgen, der wirkte, als ob er in Ekstase fallen würde, frenetisch angefeuert. Als auch er sein schmutziges Werk beendet hatte, waren endlich die anderen dran.
Verdammt! Die Jungs wissen einfach, was gut ist.
Niklas Galanis musste sich erneut übergeben. Diesmal war der Weg zum Klo jedoch zu weit, somit übergab er sich an Ort und Stelle. Das Erbrochene verteilte sich auf dem Teppichboden seines Wohnzimmers. Er schenkte dem Vorgang keinerlei Aufmerksamkeit und lief in seine Gedanken vertieft ins Badezimmer. Diese verfickten Jacky-Cola. Als ob Jack allein nicht schon schlimm genug wäre! Wieso mische ich es immer und immer wieder mit Cola? Lass es uns einfach machen. Ich trinke und du schlägst mir mit einem Hammer den Schädel ein. Wie wird wohl der nächste Morgen aussehen? Ich weiß es und ich wusste es schon immer. Laut Einstein heißt es doch, wenn man einen Fehler zweimal macht und ein anderes Ergebnis erwartet, sei man wahnsinnig!? Ich mache diesen Fehler mittlerweile zum 8.679. Mal, und ich Vollidiot hoffe noch immer, dass ich diesmal keinen Kater bekomme!
Diesem Vollidioten kam nun, da er das Badezimmer erreicht hatte, auch noch der spärliche Rest seines Mageninhalts hoch. Er schmeckte Galle und hasste sich für seine Gier nach Alkohol. Warum war er nicht in der Lage, diese Gier zu besiegen, obwohl er wie jeder Erwachsene wusste, dass der Morgen danach immer fürchterlich war?
Eigentlich wollte er vor seiner Schicht noch duschen. Die Übelkeit und das Übergeben hatten ihn jedoch aus seinem Rhythmus gebracht. Scheiß drauf , dachte er sich. Der Gedanke an gestern Abend gab ihm ein gutes, ein mächtiges Gefühl. Niklas Galanis schloss die Augen, und der Abend spielte sich noch einmal wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab . Ich kann ihn sehen, ich kann ihn spüren. Ich spüre seine Angst, ich spüre seine Verzweiflung. Ich spüre mein Verlangen. Ich tue es immer und immer wieder.
Warum musste er arbeiten, warum musste er Geld verdienen? Könnte ich mich doch nur immer meinem Verlangen hingeben! Diese Gedanken drohten ihn jedes Mal aufzufressen.
Niklas Galanis stellte sich ans Waschbecken. Er öffnete den Badezimmerschrank. Dabei fiel ihm die Zahnbürste entgegen. Sie landete im dreckigen, völlig versifften Waschbecken. Aufgestützt am Waschbeckenrand beobachtete er, wie die Zahnbürste einen schmierigen Streifen im Waschbecken hinterließ, während sie in Richtung Abfluss rutschte. Er griff nach der verdreckten Zahnbürste und suchte währenddessen im Badezimmerschrank vergeblich nach der Zahnpasta. Kopfschüttelnd steckte er sich die trockene Zahnbürste in den Mund und schrubbte einige Male mit den bräunlichen Borsten über die vergilbten Zähne. Dann spuckte er die stinkende Speichelbrühe in das Waschbecken. Er schaute voller Selbstekel in den Spiegel. Die Aknenarben verteilten sich über seine Wangen, seine Nase und das Kinn. Selbst der Hals war nicht verschont geblieben. Sein Gesicht glich einer Kraterlandschaft auf dem Mond, denn die Akne hatte tiefe Furchen hinterlassen. Seine Haut wirkte durch das rosarote Narbengewebe chronisch entzündet. Eigentlich hasste er seine Eltern, da sie ihn nie dazu bewegen konnten, zum Hautarzt zu gehen. Also hatte er während seiner Pubertät pausenlos an den mit Eiter gefüllten und juckenden Pickeln gekratzt und gedrückt. Jetzt konnte er das Ergebnis seiner dummen unbeholfenen Verhaltensweise jeden Tag wieder und wieder im Spiegel betrachten. Er dachte an seine Eltern und fing an zu weinen. Sie fehlten ihm so sehr. Hätten sie ihn nicht so früh verlassen, wäre sein Leben bestimmt komplett anders verlaufen. Wäre es das wirklich? Diese Frage stellte sich Niklas Galanis Tag für Tag.
Er musste sich anstrengen, seine Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen.
Beim Verlassen des Badezimmers verlor er, noch immer benommen vom Alkohol, das Gleichgewicht und stieß sich die Schulter heftig am Türrahmen . Fuck! Bin ich etwa noch immer voll? Ich muss was dagegen tun! Im Kühlschrank wartete ein eiskaltes Berliner Pilsner auf ihn. Er öffnete die Flasche an der Stuhllehne, indem er die Kante des Kronkorkens ansetzte und mit der flachen Hand von oben auf die Flasche schlug. Der Kronkorken flog unkontrolliert ins Wohnzimmer, und wieder splitterten einige Stücke der Lehne des Stuhls ab. Und so sah der Stuhl mittlerweile auch aus, fast alles in seinem Haus sah so aus. Alt, vergammelt und kaputt. Niklas Galanis gab schon lange nichts mehr auf die Optik seiner Einrichtung. Auf Gemütlichkeit in den eigenen vier Wänden legte er auch keinen Wert mehr. Nur der eine Raum! Diesen einen Raum hegte und pflegte er wie einen kostbaren Schatz. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er versucht, wieder in ein normales Leben zurückzufinden, musste aber erkennen, dass die Vergangenheit nicht mehr zurückzuholen war. Die Liebe seiner Mutter, diese unendliche Liebe, konnte er nirgendwo mehr finden. Somit änderte sich sein Leben von Grund auf, nur leider in die falsche Richtung.
Er ließ den eiskalten Gerstensaft die Kehle hinabgleiten. Eine Träne rann an seiner linken Wange gen Boden. Niklas Galanis hasste sein Leben, aber er liebte die kleinen, die ganz besonderen Dinge. Dinge wie den gestrigen Abend.
Es klopfte an der Tür. Das wird Paul sein . Paul, sein Arbeitskollege, der zurzeit auch notgedrungen sein Fahrer war, holte ihn seit einigen Wochen jeden Morgen ab. Niklas Galanis hatte vor vier Wochen seinen Führerschein bei einer Alkoholkontrolle verloren. Der Beamte der Verkehrskontrolle hatte 1,8 Promille festgestellt. Ein Bluttest folgte, der den gemessenen Alkoholwert bestätigte. Hier war sie wieder, die Gier nach Alkohol und vor allem seine Selbstüberschätzung. Die Fahrten unter Alkoholeinfluss waren jahrelang gut gegangen, bis zu diesem Abend und dieser einen Kontrolle . Was solls , dachte er sich. So hatte er wenigstens Zeit und Muße, den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren zu lassen. Paul war ein grauenhafter Fahrer. In Gedanken vertieft, musste sich Niklas Galanis wenigstens nicht über dessen Fahrweise aufregen. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Verdammt! Gestern war aber auch so gut.
Er nahm seine Tasche und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein Mann. Ein großer Mann komplett in Schwarz gehüllt. Es war nicht Paul!
***
Ein strenger Geruch riss ihn aus seiner Ohnmacht. Der beißende Gestank von Ammoniak drohte seine Nasenschleimhäute zu verätzen. Das ist Riechsalz! Er versuchte durch den Mund zu atmen, aber etwas steckte darin. Er konnte nichts sehen, doch er wusste sofort, dass es sich um einen Knebel handeln musste. Panik kam in ihm auf. Er wollte nach dem Knebel greifen, doch seine Hände waren gefesselt. Der Knebel steckte so tief in seinem Mund, dass er Mühe hatte, seine Zunge zu bewegen. Der beißende Gestank des Ammoniaks wurde intensiver. Der aufkommenden Übelkeit konnte er nichts mehr entgegensetzen. Sein Magen rebellierte, er musste sich übergeben. Der Knebel im Mund ließ das Erbrochene jedoch nicht durch. Es lief ihm aus der Nase. Er bekam kaum noch Luft und verschluckte sich an seinem Erbrochenen, das immer und immer wieder in seine Kehle lief. Er konnte den Schluckreiz nicht unterdrücken. Der Druck in seinem Kopf war kaum noch auszuhalten. Er verlor das Bewusstsein. Etwas berührte seinen Kopf, zerrte an dem Knebel. Jetzt wurde er noch panischer. Der Knebel wurde mit einem heftigen Ruck aus seinem Mund gerissen. Niklas Galanis schnappte nach Luft. Er hustete so stark, dass seine Lunge wie Feuer brannte. Er spuckte und würgte abwechselnd, um seine Kehle vom Erbrochenen zu befreien. Nach einiger Zeit beruhigte sich sein Organismus etwas und er war wieder in der Lage, einigermaßen normal zu atmen. Seine Glieder fühlten sich schwach an, zumindest dachte er das, denn er konnte sich nicht bewegen. Die verbliebene Kraft verließ von Minute zu Minute seinen stark geschwächten Körper.
Niklas Galanis versuchte sich zu orientieren, sein derzeitiger Zustand ließ dies jedoch nicht zu. Noch immer war alles verschwommen. Es war ihm, als befände er sich schwebend in einem luftleeren Raum. Saß er, lag er oder stand er? Wie lange war er ohnmächtig gewesen? Warum kam Paul nicht, um ihn abzuholen? Niklas Galanis war verwirrt und wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser.
Ein wuchtiger Schlag traf sein Gesicht. Sein Nasenbein brach, begleitet von einem heftigen Krachen. Er schmeckte Blut, das ihm augenblicklich in den Mund lief. Der Schmerz war unerträglich. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, den Moment zu verstehen und zu begreifen, was hier und jetzt mit ihm passierte. Er tauchte in die Tiefen seiner Wahrnehmung ab und drohte, sich endgültig darin zu verlieren. Ein weiterer Schlag riss ihn wieder aus der Tiefe. Er spürte, wie seine Schneidezähne splitterten, seine Lippen aufplatzten und das Blut sich über seinem Gesicht verteilte. Sein Kopf war mit etwas umwickelt, das sich wie Panzertape anfühlte. Das Tape saß so eng, dass jede kleinste Bewegung die Haut an seinem Kopf einreißen ließ. Gerade als er den schwachen chemischen Geruch des Klebestreifens wahrnahm, packte eine Hand seinen Kopf. Das Panzertape wurde mit einem brutalen Ruck entfernt. Beide Brauen und sein rechtes Lid wurden zusammen mit dem Panzertape abgerissen. Er schrie, aber er war nicht mehr in der Lage, den Schmerz einem Körperteil zuzuordnen. Blut tropfte aus den klaffenden Wunden von seiner Stirn und dem abgerissenen Lid. Erneut verlor Niklas Galanis das Bewusstsein.
Als er wieder aufwachte, lag er auf einem harten Untergrund. War es der Boden oder lag er auf einem Tisch? Er konnte sich noch immer nicht bewegen. Der Zustand der gefühlten Schwerelosigkeit war vorbei. Das hämmernde Klopfen in seinem Kopf, das dem eines Presslufthammers glich, war kaum zu ertragen. Alle Körperteile schmerzten. Er konnte diesen noch nie da gewesenen Schmerz nicht lokalisieren. War er noch am Leben, oder war er bereits tot? Ein weiterer stechender Schmerz riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Er spürte die Angst und jäh verfluchte er sie. Er öffnete die Augen, doch er konnte nur mit dem linken etwas sehen. Rechts nahm er die Umgebung wie durch einen rosaroten Blutschleier wahr. Er erinnerte sich an den heftigen Ruck und an den Moment, als das Panzertape abgerissen wurde. Er konzentrierte sich auf sein linkes Auge. Plötzlich sah er die Gestalt, sah ihr verzerrtes Gesicht. Sofort überkam ihn ein eiskalter Schauer. Er spürte ihren unbändigen Hass. Er sah den Teufel.
Kalter Stahl bohrte sich in seinen Unterleib und löste einen Schreikrampf aus. Erneut verlor er das Bewusstsein. Das Riechsalz, das die Gestalt ihm unter die Nase hielt, beförderte ihn sofort wieder zurück in die brutale Realität der unerträglichen Schmerzen. Niklas Galanis zerrte mit all seiner verbliebenen Kraft an den Fesseln. Vergebens. Das Einzige, was er dadurch erreichte, war, dass die dünnen Schlingen aus Draht sich bis zum Knochen durch sein Fleisch schnitten. Der Schmerz wurde heftiger und stetig intensiver. Er versuchte, seinen Kopf zu heben. Sein Kinn berührte seine Brust. Die Anstrengungen raubten ihm beinahe das Bewusstsein. Er lag noch immer auf dem Rücken. Neben ihm stehend bemerkte er die Gestalt. Sie war komplett in Schwarz gekleidet, das Gesicht durch eine Maske nun vollständig verdeckt.
»Was wollen Sie von mir? Warum tun Sie das?«, brüllte er die Gestalt an.
Keine Reaktion. Die Gestalt hob ihren rechten Arm. Er konnte den Bunsenbrenner sehen. Mit einem leisen, höllischen Knistern wurde die Flamme entzündet. Er wollte schreien, aber die Panik ließ ihn verstummen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht beobachtete er ohnmächtig vor Angst, wie die blaue Flamme sich seinem Unterleib näherte. Der Bunsenbrenner begann mit seiner hässlichen Arbeit. Die Flamme hellte auf, er spürte den Schmerz. Diesmal wollte das Bewusstsein ihn nicht verlassen. Die Flamme brannte sich mühelos durch sein Fleisch. Seine Haut schmolz, der Schmerz wurde unerträglich. Er biss sich so stark auf die Zähne, bis ein lautes Knirschen ihm durch Mark und Bein drang. Die verbliebenen Überreste seiner Zähne splitterten und zerbrachen.
Ein schwaches letztes Röcheln war zu hören. Niklas Galanis tauchte ein in die unendlichen Tiefen seiner eigenen Hölle.