Freitag, der 18. Oktober 2019, 08:30 Uhr
Berlin-Tiergarten
LKA 1 – Delikte am Menschen – Einsatzbesprechung
Eve Decker stand am Whiteboard. Auch die Kollegen des Spezialeinsatzkommandos (SEK) waren mittlerweile eingetroffen. Ihr Truppführer Ingo Swiczenberger, mit dem Spitznamen Switcher, war Pete bestens bekannt. Eine innige Freundschaft verband beide Männer. Pete verdankte Switcher sein Leben.
»Hey, Pete, wie geht es dir?«
»Wieder besser.«
»Mann, Mann, Mann … Du hast uns echt Sorgen gemacht. Dein Bein sah richtig scheiße aus und wir alle dachten, du wirst es verlieren!«
»Das dachte ich auch. Wärt ihr nicht so schnell vor Ort gewesen – es wäre definitiv anders ausgegangen. Ist Mick auch da? Seine Erstversorgung hat mein Bein gerettet. Über diese verdammte Aderpresse will ich jetzt zunächst kein Wort verlieren.« Pete lächelte verlegen, Switcher nutzte die Steilvorlage.
»Jep, Mick ist nicht nur der Meister des Tourniquets. Als Medic ist er spitze und im gesamten Trupp unverzichtbar. Ohne ihn gehen wir ungern in den Einsatz, aber ich dachte, meine MP5 hätte dir das Leben gerettet?« Switcher setzte sein teuflisches Grinsen auf.
»Die auch.« Das hat sie in der Tat , dachte sich Pete.
Vor vierzehn Monaten war Pete einem Funkspruch der Leitzentrale nach Ahrensfelde gefolgt. Ein Mieter in der Plattenbausiedlung hatte eine unbekannte Person gemeldet, die sich auf den Gängen der Wohnanlage umhertrieb. Aufgrund einer Personenbefragung hatte sich Pete in unmittelbarer Nähe von Ahrensfelde befunden und somit die Meldung bestätigt. Als er kurz darauf in der Wörlitzer Straße angekommen war, hatte sich ihm ein chaotisches Bild geboten. Im dritten Stock des Wohnblocks quoll schwarzer Qualm aus einem der Fenster. Er hörte Kinder verzweifelt schreien. Pete rief per Funk die Feuerwehr, vernahm jedoch entfernt das Martinshorn und stoppte den Funkspruch. Die Leitzentrale hatte die Feuerwehr bereits beauftragt. Pete hastete ins Treppenhaus in Richtung der brennenden Wohnung. Er nahm mehrere Treppenstufen auf einmal. Jetzt machte sich sein Training bemerkbar und er war froh, dass Switcher und die Jungs vom SEK ihn regelmäßig zum Workout einluden. Kurz bevor Pete am Ende der Treppe ankam, verlangsamte er seine Geschwindigkeit. Er lehnte sich an die Hauswand und drehte seinen Kopf in Richtung der Wohnungstür. Sie stand offen. Jemand musste die Tür eingetreten haben, denn sie hing aus den Angeln. In der Höhe des Türschlosses war das Holz gesplittert. Pete funkte die Leitzentrale an und meldete den Vorfall, dann zog er seine halbautomatische Pistole SFP9 von Heckler & Koch aus dem Holster und leuchtete mit der Waffenlampe in die offene Wohnung. Schwarzer beißender Qualm drang in seine Nase, seine Augen tränten. Pete hörte Schreie, deshalb bewegte er sich tiefer in das Innere der Wohnung. Als er um eine Ecke ins vermutliche Wohnzimmer blickte, sah er es. Eine Frau, ein Mann und zwei Kinder lagen regungslos auf dem Boden. In der Brust des Mannes steckte ein Messer. Die Kehlen der Frau und der Kinder waren aufgeschlitzt und das Blut quoll heraus . Verdammter Scheiß! Plötzlich hörte Pete ein Geräusch hinter sich. Er drehte sich blitzschnell um. Zu spät! Er sah das Mündungsfeuer der Schrotflinte, noch bevor er den Knall hören konnte. Seine Beine wurden vom Aufprall der Schrotladung weggerissen und er krachte wie ein nasser Sack zu Boden. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Eine Gestalt mit einer Sturmmaske kam auf ihn zu. Sie blieb einen knappen Meter vor ihm stehen. Pete sah in die kalten ausdruckslosen Augen des Angreifers, der unverzüglich die Schrotflinte erneut anlegte und auf Petes Gesicht zielte. Pete, das war es dann wohl , dachte er sich und schloss die Augen. Plötzlich durchbrach ein schallgedämpfter Schuss die vermutete Endgültigkeit. Ein weiterer Schuss peitschte durch den Raum und die Gestalt mit der Schrotflinte im Anschlag sackte tödlich getroffen zu Boden. Pete erkannte Switcher, die MP5 SD im Anschlag.
»Täter bekämpft!«, brüllte Switcher.
»Sicher!«, antworteten die übrigen Beamten des Kommandos.
»Beamter verletzt!« Switcher brüllte so laut, dass es in Petes Ohren mehr schmerzte als der Schuss der Schrotflinte.
Mick kam angerannt und legte Pete das Tourniquet an. Er drehte die Aderpresse so heftig zu, dass Pete lautstark aufschreien musste.
»Ruhig, Brauner, ich flicke dich schon wieder zusammen.«
Micks Lächeln hatte Pete beruhigt, obwohl der Schmerz, den die Aderpresse verursachte, nicht nachgelassen hatte. Kurz darauf war der Notarzt gekommen und man hatte Pete mit Blaulicht in die Notaufnahme gebracht.
Durch die gezielte Tötung des tschetschenischen Täters hatte das LKA 1 den Fall kurzfristig aufgeklärt. Der Täter, Sulimbek Kutaev, war polizeilich bekannt gewesen. Ein Auftragsmord der tschetschenischen Mafia war es gewesen. Khasan Kusnezow, das tschetschenische Hauptopfer, hatte der Organisation Geld gestohlen und man hatte an ihm ein Exempel statuieren wollen. Wie fast immer war dabei auch die Familie des Opfers in den Auftragsmord mit einbezogen worden. Für seine Frau und die Kinder war jede Hilfe zu spät gekommen. Die Opfer waren binnen weniger Minuten verblutet. Der Notarzt hatte nur noch den Tod feststellen können.
Switcher hatte sich der Internen gegenüber erklären müssen. Er hatte den tödlichen Rettungsschuss abgegeben. Dieselbe Leier wie immer war es gewesen: War die Schussabgabe zwingend notwendig gewesen? Hätte man den Täter nicht auch nur verletzen können? Das Verfahren war jedoch zügig abgeschlossen worden und Switcher hatte mit keinerlei Konsequenzen rechnen müssen.
»Was macht ihr hier? Lungert ihr nicht sonst ausschließlich in Tempelhof im 6er rum und verbringt eure Freizeit als Arbeit getarnt mit Aufpumpen, Rennen und Schießen?« Pete lachte laut, als Switcher jedoch die Hand an das Holster seiner Waffe legte, tat Pete es ihm gleich. Sie schauten sich wie in einem Italo-Western ins Gesicht. Sie gingen aufeinander zu, dann lachten sie und nahmen sich in die Arme.
»Danke noch mal, du Depp. Dein Schuss hat mir den Arsch gerettet.«
»Klar doch, du Doppeldepp, und jederzeit wieder! Vielleicht wartest du das nächste Mal auf uns! Dann muss ich dir nicht wieder deinen Arsch retten.«
»Herrschaften!« Eve Decker machte sich laut und bestimmend bemerkbar. Das Kommando, Pete, David und die übrigen Kollegen versammelten sich vor dem Whiteboard, Eve Decker startete mit dem Briefing. »Zuallererst ist es mir eine Freude, Pete endlich wieder in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Ich möchte nicht sagen, es wäre ein schlechtes Jahr ohne dich gewesen. Kein allmorgendliches: Warum schmeckt der Kaffee so scheiße? Die Brühe ist kalt. Was ist mit euch los? Hier ist es so heiß wie in der Sahara. Kann hier niemand das Fenster öffnen und den Mief ablassen? Warum regnet es schon wieder? Warum scheint die Sonne überhaupt? «
Brüllendes Gelächter brach spontan aus, eine Kollegin ergänzte:
»Und diese Chauvi-Sprüche!!! Wie lecker siehst du denn aus? Verdammt, duftest du gut …! «
Pete errötete. An Chauvi-Sprüche konnte, nein, wollte er sich nicht erinnern.
»So, das ist genug!« Eve Deckers Stimme dominierte die lockere Atmosphäre. »Lasst uns jetzt bitte zur Tagesordnung zurückkommen. Kriminalhauptkommissar Beska. Schön, dich wieder bei uns zu haben.«
»Vielen Dank, Eve. Und es ist verdammt schön, endlich wieder dabei zu sein.«
Das morgendliche Briefing war Standardprogramm im LKA 1. Das SEK, dessen normaler Tagesablauf aus Kraftsport, Schieß- und Taktiktraining bestand, gab einen kurzen Bericht der vergangenen Woche ab. In erster Linie waren sie jedoch gekommen, um Pete willkommen zu heißen. Die Jungs waren eine außergewöhnliche Truppe und es gab Pete stets ein gutes, vor allem aber ein sicheres Gefühl, wenn er mit ihnen im Einsatz war.
Es fanden zwei Einsätze in Marzahn und in Berlin-Neukölln statt. In Marzahn musste das SEK die Kollegen der Streifenpolizei bei einer Wohnungsräumung unterstützen. Der Mieter zog dabei eine Schusswaffe und zielte auf die Beamten. Als die Streife das Kommando hinzuzog und die Wohnung gestürmt wurde, stellte sich die Waffe als Spielzeugwaffe heraus. Niemand wurde verletzt. Lediglich ein paar blaue Flecken und eine durchnässte Hose beim potenziellen Gefährder waren das Ergebnis einer erfolgreichen Deeskalation.
Der Einsatz in Neukölln war dagegen vorbereitet. Das Mobile Einsatzkommando (MEK) hatte die verdächtige Person seit einigen Wochen observiert. Pünktlich um sechs Uhr morgens stürmte das SEK die Wohnung. Nach der Festnahme konnten die Beamten einige Kilo Marihuana und 20.000 Euro Bargeld beschlagnahmen.
»Frau Decker?« Ein Uniformierter stürmte zur Tür herein. Alle Augen starrten ihn an.
»Was gibt es?«
»Eben kam eine Meldung rein. Leichenfund an den Gleisen Richtung Schönefeld.«
»Alles klar. Pete! Du und David, ihr übernehmt das. Und übrigens: willkommen zurück!«
»Herrschaften, das ist alles.«