Freitag, der 18. Oktober 2019, 16:45 Uhr
Berlin-Moabit
Charité, Institut für Rechtsmedizin
Auf dem Parkplatz der Charité trafen sie auf Eve Decker. Pete fiel sofort auf, dass sie sich umgezogen hatte.
»Eve, was ist los? Heute noch ein Date?«
Eve war eine atemberaubende Frau, circa einen Meter fünfundsiebzig groß, mit langen braunen Haaren, die sie während des Dienstes meist streng zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Jetzt trug sie ihre gelockten Haare offen. Anstelle des grauen Kostüms, in dem sie wie eine Staatsanwältin wirkte, trug sie Jeans, eine weiße Bluse und einen cognacfarbenen Lederblazer.
»Das geht dich nichts an, Pete!«, antwortete sie mit einem verschmitzten Lächeln.
»Na, dann hoffe ich mal, dass der Leichengeruch und die Desinfektionsmittel auf dein Date nicht abschreckend wirken.« Pete konnte sich die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen.
»Verdammt, daran habe ich nicht gedacht!« Sie warf Pete einen Blick zu, der ihm zu verstehen gab: Stirb, du Hund! Sie holte ihr Handy aus der Tasche und tippte eine WhatsApp. »Dann halt morgen oder sonst irgendwann. Jetzt ist mir der Spaß ohnehin vergangen.«
»Hey«, warf Pete ein, »töte nicht den Boten!«
David konnte sich ein gehässiges Lachen nicht verkneifen. Jetzt traf Eves tötender Blick auch ihn. Verlegen drehte sich David zur Seite.
Für ein erstes Date konnte diese Duft-Kombi katastrophal enden. Eines der widerlichen Dinge an ihrem Job war der Geruch, dem sie an Leichenfundorten stets ausgesetzt waren. Je älter die gefundenen Leichen, je intensiver der Leichengeruch war, desto stärker drang dieser süßliche penetrante Gestank in die Kleidung. Dort setzte er sich dann wie ein Schwarm Parasiten fest. Gepaart mit Desinfektionsmitteln, die immer dann eingesetzt wurden, wenn der Tod im Spiel war, ergab dies einen außergewöhnlichen Duft-Cocktail, der eine ungeübte Nase nicht nur in Verlegenheit bringen konnte.
Vor etwa vier Jahren, es war Juli und sehr heiß gewesen, waren Pete und David zu einem Leichenfundort in einer Lagerhalle in Wedding gerufen worden. Die Leiche hatte bereits seit zehn Tagen dort gelegen. Bedingt durch die sommerliche Hitze, die jeden Tag die sechsunddreißig Grad Schwelle überschritten hatte, sowie der offenen Wunden an der Leiche, war der Körper übersät von Larven und Schmeißfliegen gewesen. Aus den Wunden hatten die Larven wie flüssige Lava gerieselt. Der süßliche Gestank war intensiv und widerlich gewesen und hatte in Petes Ranking der schlimmsten Gerüche die Nummer eins eingenommen. Obwohl sie Schutzanzüge getragen hatten, hatten sie ihre sämtliche Kleidung inklusive der Unterwäsche entsorgen müssen.
Die gesamte Berliner Rechtsmedizin machte sich stets über Petes übertriebene Wahrnehmung dieser Gerüche lustig. Ihm aber war das völlig egal, denn nichts hasste er so sehr wie den Geruch des Todes. Der Leichengeruch hatte noch volle zwei Tage in Petes Haaren gehangen und er hatte bereits über eine Kahlrasur nachgedacht. Erst am dritten Tag, unter gezieltem Einsatz eines taktischen Kokos-Maracuja-Vanille Damenshampoos, hatte sich die Lage allmählich relativiert. Peinlich für Pete war nur gewesen, dass die Jungs vom Kommando ihm kurz darauf begegnet waren, Switcher sich umgedreht und Pete einen Handkuss gepaart mit einer obszönen Geste lasziv zugeworfen hatte. Das Gelächter war der krönende Abschluss dieser peinlichen Begegnung gewesen.
Eve Decker ging mit hochrotem Kopf voran, Pete und David genervt anpflaumend. »Los, die Herren Klugscheißer.« Im Institut für Rechtsmedizin angekommen, steuerten sie direkt auf den Sektionssaal zu.
»Kommen Sie herein«, antwortete Dr. von Alvensleben, nachdem David heftig und viel zu laut an die Tür des Sektionssaals geklopft hatte.
Beim Betreten fiel Pete direkt der strenge und beißende Geruch der Desinfektionsmittel in die Nase. Er bemerkte sofort, was ihm in den letzten zwölf Monaten nicht gefehlt hatte. Die Rechtsmedizinerin stand an einem der fünf Sektionstische. Zu seinem Erstaunen waren alle Tische belegt. Weitere vier Teams obduzierten um die Wette. Zumindest wirkte das so auf Pete. In Berlin wird noch immer viel und unnatürlich gestorben , sagte er leise zu sich.
Das grelle, weiße, kalte Licht im Sektionssaal gab den toten Körpern eine unheimlich düstere, grausame Note. Auf den Sektionstischen lagen weibliche und männliche Leichen. Lange Hautschnitte, die unter dem Kinn begannen und am Schambein endeten, zeichneten alle toten Körper. Einige dieser Schnitte waren bereits vernäht. Hier war die innere Leichenschau bereits abgeschlossen und die Toten konnten nun endlich ihre Reise durch die unterschiedlichen Stadien ihrer Martyrien abschließen. Sein Blick huschte zu dem vierten Tisch und er erstarrte. Ein Kind! Sofort bildete sich ein Kloß in seinem Hals und er musste schlucken. Während seiner Tätigkeit bei der Berliner Kriminalpolizei hatte er schon viele Leichen gesehen. Unfallopfer, Suizidenten und Mordopfer, die abscheulichste Verstümmelungen aufwiesen. Das, was Pete jedoch immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte, waren die toten Kinder. Erst einmal spielte es keine Rolle, wie sie gestorben waren. Lediglich der Anblick eines toten Kindes war für ihn kaum zu ertragen. Wenn sie einen Tod durch Fremdeinwirkung feststellen konnten, wandelte sich die Bestürzung in die unbändige Gier, den Täter zu fassen . Wenn ich diese Gier nicht unter Kontrolle hätte, wäre ich nicht mehr in der Lage, meinen Beruf auszuüben. Diesen Satz musste Pete wie ein Mantra herunterbeten. Nur das gab ihm die nötige Kraft, stark zu bleiben und den gefassten Täter nicht an Ort und Stelle zu exekutieren.
Eine junge Frau Anfang zwanzig, Pete tippte auf eine Studentin, legte das Obduktionsbesteck aus und signalisierte ihrem Kollegen, dass es losgehen könne. Pete erkannte Max, den Assistenten von Dr. von Alvensleben.
»Guten Tag, Max. Lange nicht mehr gesehen.«
»Herr Beska.« Max wirkte gelangweilt. Pete war sich nie sicher, ob Max aus Gleichgültigkeit oder Unhöflichkeit dermaßen wortkarg war. Genauso schnell, wie die Konversation begonnen hatte, war sie auch schon wieder beendet. So wie immer.
Pete richtete seinen Blick auf den verbliebenen fünften Sektionstisch. Er erinnerte sich an die frühen Morgenstunden, als sie am Fundort eingetroffen waren. An den zerfetzten Körper des vermeintlichen Suizidenten, der jetzt auf diesem Sektionstisch lag. Der Anblick der völlig entstellten Leiche, die auf der beigen Granitplatte des Sektionstisches arrangierten Körperteile, wirkten auf die Anwesenden grausam und surreal.
Das war einmal ein lebender Mensch , dachte Pete. Der Leichnam war gründlich gewaschen worden, somit war erst jetzt das ganze Ausmaß der Verletzungen zu erkennen. Sofort fiel ihm auf, dass einige Körperteile so sehr zerstört waren, dass man nur erahnen konnte, welche Funktion sie einst hatten. Andere Körperteile wiederum fehlten komplett. Am Tatort hatte Jörg Faller erwähnt, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handeln würde, da das Becken mit den Geschlechtsteilen gefunden worden war. Um einen Mann handelte es sich in der Tat. Das, was aber noch kläglich von seiner Männlichkeit übrig geblieben war, hatte mit einem Penis in seiner ursprünglichen Form nichts mehr zu tun. Die verbliebenen Reste des Penis bestanden nur noch aus wenigen, schwarz verkohlten Hautfetzen. Die Hoden wurden entweder entfernt oder hatten sich beim Aufprall ›in Luft aufgelöst‹. Der Torso war komplett zerquetscht. Die Organe waren nur zum Teil noch vorhanden. Der Darm lag neben dem Torso drapiert auf dem Tisch. Es stank fürchterlich und Pete musste augenblicklich würgen.
»Alles okay, Pete?« Eve wirkte besorgt.
»Es muss«, antwortete Pete. »Ein Jahr weg hiervon und ich muss den ganzen Scheiß von vorn beginnen.« Dr. von Alvensleben reichte den Ermittlern FFP3-Masken, die sie dankbar annahmen. Die feinporigen Filter der FFP3-Masken blockten die zu erwartenden Gerüche nur unwesentlich ab. Die Masken dienten aber hervorragend als Placebo Effekt, der zusätzlich durch Eigengerüche verstärkt wurde. »Danke, Doc, äh, sorry … Frau Doktor.« Die Rechtsmedizinerin drehte sich sichtlich genervt zur Seite und begann mit der äußeren Leichenschau.
»Heute ist der 18. Oktober 2019. Es ist 17:15 Uhr, Aktenzeichen CHL 548/9. Die folgenden Personen sind anwesend:
- Erste Kriminalhauptkommissarin Eve Decker
- Kriminalhauptkommissar Pete Beska
- Kriminalhauptkommissar David Richter
- Leitende Rechtsmedizinerin Dr. von Alvensleben
- Assistenzärztin Yvette Ivory
- Sektionsassistent Max Borcherts
Auf dem Sektionstisch liegt eine männliche, nicht identifizierte Leiche. Ersten Schätzungen nach befand sich der Tote im mittleren Lebensalter.«
»Das heißt?« David bohrte nach.
»Zwischen zwanzig und sechzig Jahren. Der Leichnam weist multiple Traumata auf. Der gesamte Körper ist stark deformiert und wurde durch den Impact mit der S-Bahn in mehrere Teile zerteilt. Die vorhandenen Körperteile ergeben ein Gewicht von exakt 63,18 Kilogramm. Einige Extremitäten wurden vom Torso abgetrennt und waren am Fundort der Leiche nicht aufzufinden oder sind bedingt durch die Kollision stark beschädigt. Von dem Kopf des Toten sind außer der Gesichtshaut sowie einem Teil der Kopfhaut keine Knochen, Organe oder Haare mehr vorhanden. Es ist davon auszugehen, dass alle Knochen des Schädels bei der Kollision mit der S-Bahn zerstört wurden. Auffällig ist, dass beide Augenbrauen und das Lid des rechten Auges entfernt wurden. Rotbraune bandartige Vertrocknung und bläulich violette Hämatome, in Reihe gestellt, verlaufen horizontal über beide Augen und die Stirn.«
»Könnte das von einem Tape stammen?«
»Das ist möglich. Ich werde das intensiv untersuchen. Wir kommen nun zu den fehlenden Extremitäten: Kopf, der linke Arm. Drei Finger der rechten Hand, kleiner Finger, Ringfinger und Daumen, abgetrennt am Fingergrundgelenk. Der rechte Unterschenkel. Verbrennungen vierten Grades sind im Bereich des Beckens zu erkennen. Der Penis und das Skrotum sind stark verkohlt. Die Hoden sind nicht mehr existent.«
»Stark verkohlt? Durch einen Impact mit einem Zug? Können Sie schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?« Eve Decker war trotz des Zustandes der Leiche wie immer professionell.
»Aufgrund des Zustandes der Leiche lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts Konkretes bestimmen.«
»Was denken Sie?«, bohrte Pete erneut nach.
»Die Haut ist leicht dunkel verfärbt. Da der Körper durch die Traumata bereits an multiplen Stellen geöffnet ist, kann man Teile der noch vorhandenen Organe erkennen. Sie verflüssigen sich. Der Körper entwickelt bereits den typischen Leichengeruch, somit hat die Autolyse begonnen. Aufgrund des Verwesungsgrades gehe ich davon aus, dass der Tote vor drei bis vier Tagen verstorben ist.« Dr. von Alvensleben blickte in sechs ratlose Augenpaare. »Herrschaften, das ist lediglich eine erste Vermutung!« Die Rechtsmedizinerin fuhr fort. »Äußerlich sind keine Einstiche oder Einschusslöcher zu erkennen. Auch ein gebrochenes Genick wird aufgrund der Kollision mit dem Zug nicht zu bestimmen oder auszuschließen sein. Da die Schädelknochen komplett fehlen, ist eine tödliche Kopfverletzung weder in Betracht zu ziehen noch auszuschließen. Eine Untersuchung der Organe respektive eine chemisch-toxikologische Untersuchung, um eine Vergiftung oder Drogenmissbrauch feststellen zu können, wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Das Handgelenk des rechten Arms sowie der Knöchel am linken Bein weisen kreisförmige Rötungen und Hämatome auf. Der linke Oberarmknochen ist kurz unter dem Kugelgelenk durchtrennt worden. Hier handelt es sich um einen sauberen Schnitt, verursacht durch einen äußerst scharfen Gegenstand. Der Unterschenkel des rechten Beines wurde aus dem Kniegelenk gerissen. Die Bänder und Sehnen sind abgerissen und haben sich stark zusammengezogen.«
»Welche Möglichkeiten zur Identifizierung bleiben Ihnen? Vom Kopf sind nur noch Gesichtshaut und Knochenfragmente übrig. Die Zähne und Kiefer fehlen komplett und die Finger sind zum Großteil zerquetscht. Ist ein Abdruck der Finger noch möglich?« Dr. von Alvensleben schaute Pete mit einem stechenden Blick an.
»Ich muss die Fingerkuppen erst untersuchen. Wie Sie sehen können, werde ich von der Hand noch einige Abdrücke nehmen können. Sie haben recht, Herr Beska, da alle Zähne und beide Kiefer fehlen, ist eine odontologische Untersuchung nicht möglich. Ich werde während der Obduktion einige Gewebeproben entnehmen, um einen DNS-Abgleich durchführen zu können.«
»Wie lange wird das dauern?«, wollte David wissen.
»Herr Richter! Wie lange kennen wir uns bereits und wie lange sind Sie Kriminalbeamter?«
»Ich dachte nur …«, David wirkte verunsichert. »Ist okay. Es dauert ebenso lange, wie es dauert!« Mit diesen Aussagen und den drei Tagen, die für eine eilige Obduktion normalerweise angesetzt wurden, konnte und wollte sich David nicht anfreunden. Drei Tage weiter im Dunkeln zu tappen, ohne die genauen Umstände der Todesart zu kennen, würde ihn verrückt machen, und das, obwohl er ein erfahrenerer Ermittler war, der in seiner Karriere bereits viele Morde aufklären konnte.
Sie verließen den Sektionssaal und sprachen kein Wort. Pete war sich jedoch absolut sicher, dass alle drei das Gleiche dachten. Wer war der Tote und wer hatte ihn ermordet? Mein erster Tag und gleich wieder zwölf Stunden im Dienst. Gott sei Dank bin ich ausgeruht.