Kapitel 7

Freitag, der 18. Oktober 2019, 21:30 Uhr

Berlin-Teltow

 

Die kleine Imbissbude in Lichterfelde war Petes Geheimtipp. Dort gab es abseits der Schickimicki-Currywurstbuden in Berlin-Mitte seiner Meinung nach Berlins beste Currywurst. Vielleicht war sie aber einfach nur die am bequemsten liegende Imbissbude in Richtung zu Hause. Egal, denn die Wurst schmeckte einfach lecker und die Pommes mit Mayo und frischen Zwiebeln waren legendär. Außerdem gab es dort Bier und nicht nur Softdrinks. Der Dienst war vorbei, somit konnten Pete und David etwas Essen und ein Bier genießen.

»Decker war ganz schön pissig nach deiner Klugscheißerei.« David musste lachen.

»Aber es ist doch auch so. Ich wollte ihr nur eine unangenehme Situation ersparen. Riech mal an deinen Klamotten. Okay! Heute ist es nicht so schlimm, aber wir ›duften‹ wie ein mobiles Krankenhaus.«

»Stimmt. So möchte ich definitiv kein erstes Date haben.«

»Kannst du dich daran erinnern, dass du so einen Tatort schon einmal zuvor gesehen hast?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Wie konnte der Leichnam in dieser kurzen Zeit an einer so stark befahrenen Stelle unbemerkt platziert werden?«

»Die Stelle ist stadteinwärts um diese Uhrzeit stark befahren. Nicht stadtauswärts.«

»Warum wurde der Tote dann aber nicht in der Nacht dort abgelegt?«

»Weil nachts ein parkendes Auto am Straßenrand weitaus mehr auffällt als in den frühen Morgenstunden!«

»Ein Lieferwagen?«

»Ich denke eher nicht.«

»Sondern?«

»Vielleicht ein Wagen der Verkehrsbetriebe oder zumindest ein Wagen mit einer ähnlichen Beschriftung. Wer achtet schon morgens auf einen Wagen, der nach ›Verkehrsbetriebe Berlin‹ aussieht.«

»Niemand?«

»Korrekt.«

»David, du kümmerst dich bitte gleich morgen um die Verkehrsbetriebe. Erkundige dich nach den Dienstplänen für Wartungsarbeiten an der Strecke der S9. Prüfe bitte auch, ob die Autos mit GPS ausgerüstet sind. Ich werde mich noch einmal mit der Verkehrsüberwachung in Verbindung setzen. Vielleicht ist mittlerweile eine Meldung eingegangen.«

Sie aßen auf und verabschiedeten sich. Zu Hause angekommen setzte sich Pete ins Wohnzimmer und holte die Tatortfotos aus seiner Tasche. Für seine Ermittlungen benötigte er ausgedruckte Fotos, denn manchmal musste es eben oldschool sein. Pete musste die Fotos ausbreiten, sie an die Wand hängen, um sich davor zu stellen. Nur so konnte er Zusammenhänge, Abweichungen und Besonderheiten entdecken. Fotos auf dem Handy waren kurzlebig, nichtssagend. Jörg, der ihm die Fotos bereits am frühen Nachmittag gebracht hatte, war die Erschöpfung anzusehen gewesen. Er und sein Team der Spurensicherung hatten Fotos von jedem Körperteil, jedem Fundstück und der gesamten Umgebung aus jedem noch so unmöglichen Winkel gemacht. Die Macht der digitalen Möglichkeiten , dachte sich Pete.

»Alles okay, Jörg?«

»Soweit schon. Es war ein heftiger, ein intensiver Tag und er ist noch lange nicht vorbei. Ich wollte dir nur schnell die Fotos bringen. Wir müssen jetzt noch alle Fundstücke ins System eingeben und sie vor siebzehn Uhr an Frau Dr. von Alvensleben schicken.«

»Habt ihr die Teilstrecke der S9 wieder freigeben können?«

»Noch nicht. Mein Team ist noch vor Ort und sucht ein weiteres Mal die gesamte Umgebung ab. Die Kollision war so heftig, wir haben weitere Gewebereste und Knochenfragmente in einem Radius von fünfzig Metern gefunden. Ich denke, dass wir noch die ganze Nacht benötigen.«

»Okay. Bitte gib noch Decker ein kurzes Update.«

»Natürlich.«

Pete schaute auf seine Uhr. 23:00 Uhr! Er streckte sich und gähnte sekundenlang. Die Konzentration war an seinem ersten Arbeitstag vollends erschöpft, also entschied er sich für eine heiße Dusche und die Couch. In den letzten Jahren hatte sich Pete seine Lieblingsplatten als Vinyl gekauft. Der Onkyo-Verstärker holte so viel mehr aus einem Vinyl Longplayer gegenüber einer CD raus. Natürlich klang eine CD sauber und die digitalen Klänge waren kaum zu toppen, aber eine CD hatte keine Seele! iTunes hörte er im Auto, eine Vinyl dagegen nur zu Hause. Pete griff nach seinem aktiven Kopfhörer, legte die Reign in Blood von Slayer auf den Plattenteller und drückte Start. Automatisch driftete Pete in die Vergangenheit. Dann tauchte er ein in seine Musik.

Der erste Riff haute Pete wie immer sofort um. Er wusste nicht, wie oft er bereits Angel of Death gehört hatte. Aber diese ersten Sekunden! Dieser Riff! Kerry King vergewaltigt seine BC Rich Bitch, Jeff Hanneman steigt mit dem Main-Theme ein, Dave Lombardo prügelt die Becken zu Tode und dann Tom Araya und dieser Schrei! Die Reign in Blood ist seit dreiunddreißig Jahren released und ist noch immer die beste Thrash-Scheibe aller Zeiten! Always and ever. Pete schloss die Augen und gab sich seiner Musik hin.

Als Reign in Blood im Oktober 1986 released wurde, gab es nur Vinyl. Pete hatte es damals verpasst, sich rechtzeitig ein Exemplar zu kaufen. Als er noch am selben Abend seinen damals besten Freund traf, hatte dieser Arsch sein Exemplar bereits gekauft. Pete war nicht stolz darauf, aber kurz bevor sie sich verabschiedeten, tauschte er die Platte mit der Songtexthülle gegen ein anderes Cover aus. Pete musste sich korrigieren. Er war doch stolz auf sich, obwohl sein bester Freund ihn damals für diese Aktion abgrundtief hasste. Die Reign in Blood war die erste LP, die ohne Kompromisse zehn Tracks in nicht einmal dreißig Minuten durchprügelte. Jeder Song war ein Schlag in die Fresse. Der zweite Song der LP, Piece by Piece , dreht sich um einen Serienmörder. Dieses Thema hatte Pete damals so fasziniert, dass er sich intensiver mit dem Phänomen des Serienmörders beschäftigte. Er begann Bücher zu lesen, Bücher über Serienmörder, Serienvergewaltiger und andere Psychopathen. Er verschlang alle Bücher, die das FBI über Serienmörder verfasst hatte. Über Profiler und deren Erkenntnisse zur Überführung dieser Psychopathen. Pete beschäftigte sich intensiv mit John Douglas und Robert Ressler, die Godfather des Profilings. Irgendwann fasste er den Entschluss, selbst diese perversen sexbesessenen Psychopathen zu jagen. Damals in den Neunzigern dachten alle, dass diese Monster meist in den USA zugange seien. Sie hörten von Ted Bundy, dem Green River Killer, von John Wayne Gacy, Jeffrey Dahmer, Noris und Bittaker, dem Night Stalker oder dem Son of Sam. Das waren Rockstars. Wenn man diese Namen nur aussprach, überkam jeden ein schauriges Gefühl. Die US-Medien pushten diese Namen in die übrige Welt. Die Vereinigten Staaten, das Land der Serienmörder und dem FBI als Gegengewicht.

Hörte man aber auch von Peter Kürten, Fritz Haarmann, Rudolf Pleil, Jürgen Bartsch, Joachim Kroll, Fritz Honka oder Volker Eckert? Bestimmt hörte man von ihnen, aber man nahm sie nicht so wahr wie die Rockstars aus den USA, denn das waren nur deutsche alltägliche Namen! Petes Fazit war damals schon: Egal, wie spektakulär die amerikanischen Namen klingen und wie unspektakulär dagegen die deutschen wahrgenommen werden, auch bei uns in Deutschland gibt es das Böse. Es beobachtet, es verfolgt und es schlägt zu.

1993, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, bewarb sich Pete Beska bei der Polizei.