Kapitel 8

Montag, der 21. Oktober 2019, 22:00 Uhr

Berlin-Köpenick

 

»Noch ’n Bier und ’nen Kurzen!« Aus dem kleinen Gastraum brüllte ein dicker vollbärtiger Mann. »Ich verdurste und es interessiert sich hier wohl keine Sau dafür!«

Inge Korf war jetzt schon genervt. In die Kneipe kamen nur Alkis aus diesem Teil der Stadt. Arbeitslose Dauersäufer. Unnützes Pack, das nicht mal in der Lage ist, ein anständiges Trinkgeld zu geben , maunzte sie ständig. Ihre Gesichtszüge verdunkelten sich und ein Ausdruck blanken Hasses huschte über ihr Gesicht. Inge Korf war zweiundsechzig Jahre alt, klein und untersetzt. Auf ihr Äußeres gab sie schon lange nichts mehr. Ihre Kleidung kaufte sie, bedingt durch ihre finanzielle Situation, ausschließlich in Secondhand Stores. Früher, in der guten alten Zeit, da war sie attraktiv. Sie war sportlich, sie war erfolgreich und beinahe wäre sie in die Auswahl des DDR-Olympiateams gekommen. Beinahe … – dann aber verletzte sie sich. Ein Kreuzbandriss beendete ihre Karriere als Kugelstoßerin genauso schnell, wie sie begonnen hatte. Die Partei, so nannten sie die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), kümmerte sich jedoch um ihre Mitglieder und Inge war voller Überzeugung und voller Stolz Mitglied der Partei. Damals in der DDR, in der guten alten Zeit, war ohnehin alles besser. Die medizinische Versorgung wurde vom Staat, also von der Partei, bezahlt.

Nach der medizinischen Behandlung ihres Knies und ihrer gescheiterten Karriere durfte Inge als ungelernte Kraft in einer Fabrik arbeiten. Der Sozialismus machte es möglich. Dort lernte sie auch Robert, ihren späteren Mann kennen. Das gemeinsame Einkommen der jungen Eheleute war klein. Es reichte jedoch aus, um ruhig und bescheiden in der DDR leben zu können. Nach fünfzehn Jahren harter Arbeit waren Inge und Robert in der Lage, sich einen Trabant leisten zu können. Da Inge Korf damals sportlich sehr erfolgreich und außerdem noch ein Mitglied der Partei war, wurde sie bei der Zuteilung eines Autos bevorzugt. Der Trabant war ihr ganzer Stolz. Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Öffnung der Grenze im Jahr 1989 verließ Robert seine Inge. Den Trabant nahm er mit und somit stand sie wieder allein da. Für Kinder hatten sie sich nie entscheiden können. Die Fabrik, in der Inge arbeitete, entsprach nicht den Richtlinien der westdeutschen Arbeitsschutzgesetze, somit wurde sie kurzerhand nach Öffnung der Grenze von der Berufsgenossenschaft der Bundesrepublik Deutschland stillgelegt. Ein Käufer hatte sich nicht gefunden, denn für das, was dort produziert wurde, gab es im vereinten Deutschland keinen Bedarf mehr.

Arrogante Wessis , schnaubte sie .

Weil die ›Halbe‹ jedoch nur ein Euro neunzig kostete, fielen diese arroganten Wessis in der Kneipe ein wie Fliegen auf frischer dampfender Scheiße. Herbert, der Chef der Kneipe, kam nur noch wegen der Abrechnung und zum Abschließen. Einen Stundenlohn von acht Euro fünfzig zahlte Herbert Müller seinen Aushilfen. Die Gäste lassen viel Trinkgeld springen. Damit hatte er Inge während der Gehaltsverhandlung geködert . Einen Scheiß tun sie , brabbelte sie vor sich hin . Der geizige Mistkerl hat mich übers Ohr gehauen. Wenn ich am Ende der Schicht mit 10 Euro Trinkgeld rauskomme, dann ist das viel. Inge Korf wusste sich aber zu helfen, somit landete jeder zehnte Schein in ihrer Tasche.

Inge öffnete eine Flasche Export und goss den Doppelkorn ins Schnapsglas. Als sie es zum Tisch brachte, sagte der vollbärtige Mann nur »wurde auch Zeit«. Inge konnte sich ein sarkastisches »gern geschehen« nicht verkneifen. Da ihre Schicht erst vor einer Stunde begonnen hatte, musste sie noch weitere vier Stunden aushalten und der Ablauf des Abends änderte sich auch nicht mehr. Unfreundliche Gäste, die immer das Gleiche bestellten. Bier und Schnaps, Bier und Schnaps, Bier und Schnaps …

Pünktlich um dreiundzwanzig Uhr brüllte Inge in einer schrecklichen, ohrenbetäubenden Tonart »letzte Bestellung!« und sofort meldeten sich die üblichen Verdächtigen. Inge servierte die letzten Drinks und kassierte ab. Als der letzte Gast, es war wie jeden Abend der dicke vollbärtige Walter, die Kneipe verließ, sperrte sie endlich die Eingangstür ab. Sie nahm das Geld und die Bon-Rolle aus der Registrierkasse und ging zum Nebenzimmer, wo sie bereits Herbert vermutete. Die Tür zum Büro war immer verschlossen, auch wenn Herbert bereits in seinem Büro saß. Kein Licht war unter dem Türschlitz zu erkennen. Sie klopfte an der Tür. Keine Antwort. Sie ging zum Hintereingang, aber der war noch abgeschlossen.

Seltsam! , dachte sie sich. Herbert kam zwar nie zu den regulären Zeiten, die Abrechnung machte jedoch immer nur er. Sogar wenn er mal krank war! Bei Geld vertraute Herbert keinem, nicht einmal Inge.

Sie rief bei Herbert zu Hause an. Ein Handy hatte er nicht. Moderner unnützer Müll , sagte er stets. Wenn ich zu Hause oder im Büro bin, kann man mich erreichen. Wenn ich unterwegs bin, eben nicht. Sie hörte das Freizeichen und ließ es klingeln. Nach dem achten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein.

»Hier ist der Anschluss von Herbert Müller. Ich bin derzeit nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Nummer. Ich rufe Sie zurück. Auf Wiederhören.«

»Hallo, Herbert, hier spricht Inge. Es ist viertel nach zwölf und du bist noch nicht da. Bitte ruf mich an, oder vielleicht kommst du ja auch gleich.«

Inge ging zurück in die Gaststube. Sie stellte die Stühle auf die Tische und wischte nass durch. Dann spülte sie die schmutzigen Gläser. Als sie erneut auf die Uhr schaute, war es bereits halb zwei. Inge griff nach dem Telefon und wählte erneut Herberts Nummer. Wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter und sie legte auf. Plötzlich vernahm sie ein leises Klicken. Das Geräusch kam aus dem Nebenraum. Endlich, Herbert ist da! Leicht angesäuert verließ sie die Gaststube und sah, dass die Tür des Büros offen stand. Licht brannte jedoch nicht. Sie ging auf das Büro zu und blieb im Türrahmen stehen. Sie schaute in den dunklen Raum, konnte aber nichts erkennen. Ein seltsames und beklemmendes Gefühl überkam sie. Die Nackenhaare stellten sich auf und ihr wurde mulmig. Etwas stimmte nicht! Sie rief laut nach Herbert. Keine Antwort. Dann ging sie zur Hintertür. Sie war verschlossen. Ein Geräusch aus dem Gastraum war zu hören.

»Hallo?«, rief sie laut. Keine Antwort. »Herbert, lass den Scheiß! Ich bin ohnehin schon schlecht gelaunt und ich brauche diesen Mist jetzt ganz und gar nicht.« Wieder kam keine Antwort.

Allmählich bekam Inge es mit der Angst zu tun. Da sie im Gastraum bereits alles erledigt hatte und das Licht gelöscht war, wurde der Raum nur noch durch ein beklemmendes Zwielicht, das die gewölbten Fenster der Gaststätte vom Licht der Straßenlaternen ins Innere des Gebäudes ließen, beleuchtet. Inge öffnete die Tür zum Gastraum und trat hinein. Nichts Außergewöhnliches war zu erkennen. Verdammt, jetzt sehe ich schon Gespenster.

Die zwei Hände, die sich in diesem Moment um ihre Kehle legten, bemerkte sie erst, als es bereits zu spät war. Wie Schraubstöcke legten sich die Hände um Inges Kehle und drückten unbarmherzig zu. Bedingt durch Inges Panik wurde es noch schlimmer. Der Druck in ihrem Kopf war mittlerweile so stark, dass sie das Gefühl hatte, ihre Augäpfel würden aus den Höhlen quellen. Sie schloss die Augen. Aufblitzende Sterne tanzten wie tollwütige Hyänen in der Dunkelheit. Der Druck nahm weiter zu, dann ließ er abrupt nach. Inge rang nach Luft und konnte etwas davon schnappen. Die Hände waren noch immer um ihren Hals geschlungen. Einmal atmen, zweimal atmen, dreimal … die Hände erhöhten erneut den Druck und schnürten die Luftzufuhr wieder ab. Diesmal war der Druck noch stärker und sie nässte sich ein. Sie keuchte und versuchte, ihre Finger unter die Hände an ihrem Hals zu bekommen, aber sie war chancenlos. Der Druck nahm zu und sie drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Inge wurde schwarz vor Augen. Der Druck wurde erneut gelockert und sie rang nach Luft. Ihre Kehle schmerzte heftig und der Schwindel ließ keinen klaren Gedanken mehr zu . Atmen, atmen , redete sie sich ein, vielleicht hört er dann auf. Bestimmt will er mir nur Angst machen, denn so haben wir es im Chat doch verabredet! Diesmal lockerten die Hände den Druck nicht mehr. Der Druck erhöhte sich stetig und Inge war nicht mehr in der Lage, dagegen anzukämpfen. Als der Kehlkopf und die Luftröhre eingedrückt wurden, gab sie einen letzten röchelnden Laut von sich. Den Bruch ihres Kehlkopfskeletts nahm sie nicht mehr wahr. Speichel lief ihr aus dem Mund. Ihr Gesicht war zu einer hässlichen Fratze geworden. Die Zunge hing aus ihrem Mundwinkel. Die Augen waren blutunterlaufen, alle Äderchen geplatzt, und ihr Gesicht sah aus wie ein roter aufgedunsener Klumpen Fleisch. Inge Korf war tot.