Kapitel 10

Dienstag, der 22. Oktober 2019, 11:00 Uhr

Berlin-Köpenick

 

Ein grelles Licht blendete Herbert, seine Augen brannten fürchterlich. Sein Schädel drohte zu platzen und er schloss sofort wieder seine Augen. Wo bin ich , dachte er sich. Herbert versuchte sich zu orientieren. Er nahm alles nur verschwommen wahr. Warum war ihm so übel und warum hatte er solch starke Kopfschmerzen? Hatte er gestern getrunken? Egal, wie sehr er sich bemühte, er konnte sich an nichts mehr erinnern. Herbert presste seine Lider zusammen und rieb sich die Schläfe. Was war los, was war mit ihm passiert? Er bemerkte, dass er nicht in seinem Bett lag. Er saß in einem Sessel. In seinem Sessel! Eine Welle der Erleichterung durchdrang seinen Körper. Er probierte es erneut und öffnete vorsichtig die Augen. Die Sicht wurde langsam, aber stetig klarer. Er musste stark blinzeln und plötzlich war seine vollständige Sicht wieder vorhanden. Herbert saß in seinem Sessel in seinem Wohnzimmer. Die Sonne schien durch die Fenster direkt in sein Gesicht. Die Wärme tat ihm gut, er schloss seine Augen erneut. Nach einigen Sekunden öffnete er sie wieder. Er nahm die Wärme und die Helligkeit der Sonne nicht einfach nur wahr, er saugte sie regelrecht auf. Jetzt fühlte er sich fit genug, um aufzustehen. Seine Knie fühlten sich wacklig an und er taumelte leicht, als er die ersten Schritte wagte. Herbert ging direkt ins Bad, um sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser zu waschen. Er bemerkte, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. Er wiederholte es einige Male, bis er sich wieder kräftiger fühlte. Langsam kam auch seine Erinnerung zurück.

Was war gestern passiert? Wie viel Uhr ist es? Herbert schaute auf seine Armbanduhr. Das Ziffernblatt seiner Breitling zeigte 11:23 Uhr. Es fühlte sich an, als ob ein Vorschlaghammer seinen Hinterkopf mit voller Wucht getroffen hätte . Meine Kneipe? Die Abrechnung? Er hastete zum Telefon. Just in dem Moment, als er den Hörer aufnehmen wollte, bemerkte er die blinkende rote Anzeige vom Anrufbeantworter. Er drückte ›Abspielen‹ und lauschte gespannt der Ansage.

 

» Sie haben sechs neue Nachrichten.

Erste Nachricht: 17:33 Uhr

Hallo, Papa, ich wollte dich besuchen, aber du bist nicht zu Hause. Ruf zurück. Hab dich lieb.

Zweite Nachricht: 17:45 Uhr

Hallo, Herr Müller, hier spricht Uwe Brandt – Berliner Pilsener. Würde es kommende Woche bei Ihnen passen? Bitte rufen Sie kurz zurück.

Dritte Nachricht: 00:15 Uhr

Hallo, Herbert, hier spricht Inge. Es ist viertel nach zwölf und du bist noch nicht da. Bitte ruf mich an, oder vielleicht kommst du ja auch gleich.

Vierte Nachricht: 01:05 Uhr

Herbert? Wann kommst du?

Fünfte Nachricht: 01:30 Uhr

Herbert! Ich will endlich nach Hause.

Sechste Nachricht: 10:58 Uhr

Papa? Alles okay? Ruf bitte zurück. Mache mir Sorgen! «

 

Herbert musste schlucken. Noch nie hatte er einen Blackout gehabt. Noch nie hatte er seine Tochter versetzt und vor allem hatte er es noch nie versäumt, die Abrechnung in der Kneipe zu machen . Habe ich gestern getrunken? Herbert Müller öffnete seinen Spirituosenschrank und prüfte jede Flasche seiner schottischen Whiskey-Sammlung. Seine Whiskeys waren sein ganzer Stolz, somit kannte er von jeder Flasche die aktuelle Füllmenge. Nichts fehlte! Herbert konnte sich nicht entscheiden, ob er nun erleichtert oder noch verunsicherter sein sollte. Ein Rausch hätte zumindest den Blackout erklärt. Er nahm die Autoschlüssel und verließ das Haus. Er stieg in seinen Mercedes, startete den Motor und fuhr los. Die Fahrt von Lichtenberg nach Köpenick dauerte etwa zwanzig Minuten. Er musste sich stark konzentrieren, Schwindel und Übelkeit nahmen wieder zu. Als die Ampel auf Rot wechselte, richtete er ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Er nutzte die Wartezeit an der Kreuzung Müggelheimer Damm/Grüne Trift und schloss die Augen. Da war sie wieder. Ein Teil seiner Erinnerung kam schlagartig zurück. Gestern Abend gegen viertel vor neun klingelte es an der Haustür, soweit konnte sich Herbert noch erinnern. Aber was geschah dann? Konzentriere dich, Herbert. Ich öffne die Tür, aber ich sehe nur den weißen Lieferwagen. Nein, das ist kein Lieferwagen, eher ein Montagewagen. Ein Caddy oder Ähnliches. Aber niemand steht vor dem Eingangstor. Von der Haustür aus kann ich die Einfahrt auf mein Grundstück optimal überblicken. Ich laufe zum Tor und schaue in das Innere des Fahrzeugs. Niemand sitzt darin. Ich gehe zum Haus zurück und schließe die Tür. Dann wache ich auf und das Sonnenlicht blendet mich …!

Tuuut, Tuuut! Herbert wurde lautstark aus seinen Gedanken gerissen. Die Autos, die hinter ihm an der Ampel warteten, hupten und forderten ihn aggressiv auf, endlich loszufahren. Herbert nahm den Fuß von der Bremse und der alte Mercedes E 220 d setzte sich schwerfällig in Bewegung.

An seiner Kneipe angekommen, stürmte er aus dem Wagen und lief hastig zum Hintereingang. Die Tür war verschlossen. Natürlich war sie verschlossen, nur er besaß einen Schlüssel. Er holte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Vor lauter Hektik fiel er ihm aus der Hand. Als er sich bückte, fuhr es ihm in den Rücken und er fluchte laut. Er griff mehrfach nach dem Schlüsselbund, bis er ihn zu fassen bekam. Als er den Schlüssel in das Schloss stecken wollte, fiel er ein weiteres Mal zu Boden. Sein Fluchen hörte sich an, als ob ein Pfarrer just in diesem Moment einen Exorzismus durchführen würde. Endlich machte es Klick und die Tür war offen. Herbert hastete zu seinem Büro. Gerade, als er die Tür aufschließen wollte, hielt er inne. Etwas war anders. Langsam drehte er seinen Kopf in Richtung des Gastraums. Herbert nahm einen metallischen Geruch wahr und ließ vom Schloss seiner Bürotür ab. Sein Blick richtete sich zum Gastraum, seine Nackenhaare stellten sich auf. Je näher er dem Gastraum kam, desto intensiver wurde der Geruch. Herbert hatte früher als Zivildienstleistender bei den Maltesern gejobbt, daher kannte er den Geruch von Blut nur allzu gut. Familientragödien, Morde, Selbstmorde oder Unfälle in der Hobbywerkstatt. Herbert hatte in diesen zwei Jahren bei den Maltesern nahezu alles erlebt. Im Gedächtnis blieben jedoch die Suizidenten, die sich erfolgreich die Pulsadern aufschnitten. War der Schnitt, der die Arterien am Handgelenk öffnete, korrekt gesetzt, war die Blutmenge enorm. Der Geruch war immer intensiv, egal zu welcher Jahreszeit die Leichen aufgefunden wurden. Den Geruch von Blut vergisst man nie. Von wo kam nun dieser metallische, nach Kupfer riechende Gestank? Sein Blick richtete sich zum Gastraum. Die Tür stand offen und sie hing aus den Angeln. Auf dem Boden sah er die große Blutlache, die von seiner am Boden liegenden Angestellten stammte. Hastig lief er wieder zu seinem Büro und schloss die Tür auf, griff zum Telefon und wählte den Notruf der Polizei. Die Beamtin in der Funkleitzentrale forderte ihn auf, ruhig zu bleiben und auf die Streife zu warten. Herbert legte auf. Eine innere Unruhe ließ ihn nicht mehr los.