Kapitel 15

Dienstag, der 22. Oktober 2019, 20:00 Uhr

Berlin-Teltow

 

Nicht mal eine Woche im Dienst und direkt zwei neue Fälle. Das fängt ja gut an. Pete schüttelte den Kopf. Eve Decker wollte, dass Pete und David auch den heutigen Fall übernahmen. Solange die Leiche von Inge Korf noch nicht obduziert und der Bericht verfasst war, beschäftigte sich Pete zuerst mit dem möglichen Suizid. Zu Hause angekommen, machte er sich auf Nahrungssuche. Er fluchte, denn sein Kühlschrank gab nichts Schnelles und Leckeres her. Somit war Pizza angesagt. Pete bestellte sich eine Meatlover mit doppelt Käse und überbrückte die Lieferzeit mit einer heißen Dusche. Nachdem er das letzte Stück Pizza verschlungen hatte, nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich vor seine Fotowand. Pete betrachtete die Bilder einige Minuten. Die Reihenfolge war den nummerierten Fundorten zugeordnet. Er konzentrierte sich zuerst auf die Umgebung. Auf dem Laptop öffnete er Google Maps und verglich die Aufnahmen mit den Satellitenbildern.

Ein möglicher Zugang zu den Gleisen war an der gesamten Strecke der Bundesstraße 96a eingezäunt. Bis zum Fundort auf den hinteren Gleisen waren es circa siebzig Meter. Wie konnte der leblose Körper innerhalb von knapp zehn Minuten auf den Gleisen platziert werden, ohne dass es auffallen konnte? War es ein sehr kräftiger Mann oder mehrere Täter, die den Körper gemeinsam getragen haben? Pete grübelte. Laut Obduktion wog der Tote etwa achtundsiebzig Kilogramm. Auch zu zweit stellte ein solches Gewicht eine große Herausforderung dar. Dazu kam noch, dass das Gelände unwegsam war und jede Sekunde ein Zug die Gleise passieren konnte. Oder wurde der Körper bis zur Fundstelle gefahren? Wo hätte ein Auto die Zäune passieren können, ohne aufzufallen? Pete beschloss, sich am nächsten Tag und in aller Früh die Fundstelle noch einmal genauer anzusehen.

Nun kamen die Bilder der einzelnen Körperteile und deren Fundorte an die Reihe. Durch den Aufprall des Antriebswagens wurde der Körper in dreiundzwanzig Teile zerrissen. Die großen Teile des Körpers waren kaum noch den einstigen Stellen zuzuordnen. Bei den kleinen und den winzigen Körperfetzen musste man schon ein Puzzlegroßmeister sein. Obwohl Jörg und sein Team erstklassige und gestochen scharfe Fotos gemacht hatten, bedurfte es einer Menge Fantasie und einem medizinischen Grundverständnis, um zu wissen, was was war und wo es hingehörte! Da Pete außer seiner Erfahrung als langjähriger Ermittler, der bereits Hunderte Leichen zu Gesicht bekommen hat, medizinisch gesehen keine Ahnung hatte, konzentrierte er sich auf die größeren Körperteile. Pete konnte die einzelnen Extremitäten dem Körper zuordnen, dann beschäftigte er sich intensiver mit dem Torso. Die Kriminaltechnik hatte jede Bruchstelle des Torsos sowie jede abgetrennte Stelle der Extremitäten mehrfach fotografiert. Ihm kam das mit Dr. von Alvensleben geführte Telefonat in den Sinn: Ich konnte am rechten Bein und am linken Arm glatte Schnitte erkennen. Eine mögliche Tatwaffe könnte eine Axt oder ein Beil gewesen sein.

Pete sah sich die Fotos intensiv an, dann nahm er sich eine Lupe zu Hilfe. Diese Lupe hatte ihm einst sein Großvater geschenkt, als dieser erfuhr, dass sich Pete für den Polizeidienst entschieden hatte. Junge, es ist mir bewusst, dass ihr im Gegensatz zu früher mit den neuesten Technologien ausgestattet seid, aber glaube mir, wenn deine Augen einmal schlechter werden und du die Nadel im Heuhaufen auf einem vermaledeiten Foto suchen musst, dann wirst du an mich denken und diese verdammte Nadel finden!

Wie ich hier so auf dem Boden sitze, um mich herum die Bilder, die ich von der Wand wieder abgenommen habe und diese große Lupe vor meinen Augen halte, komme ich mir vor wie Sherlock Holmes. Aber Fuck! Da ist es. Opa, du bist der Beste. Pete schnalzte zufrieden mit der Zunge.

Der Torso wies unterschiedliche Amputationen auf. Der Kopf war knapp unter dem Kinn weggerissen worden. Die verbliebenen Hautfetzen hinterließen ein asymmetrisches Muster. Unter dem Schultergelenk, es wurde nur noch von wenigen Sehnen am Torso gehalten, erkannte Pete einen glatten Schnitt. Die abgetrennte Stelle an der Haut und den Knochen ließ eine saubere Amputation erkennen. Die abgetrennte Stelle unter dem rechten Knie wies dieselben Merkmale auf. Die Stelle, an der der Oberschenkel vom Torso abgerissen war, konnte man mit der linken Schulter vergleichen. Er teilte die Annahme von Dr. von Alvensleben. Eine Axt oder ein Beil kamen auch ihm als mögliche Tatwaffe äußerst plausibel vor.

Bei den Fingern der rechten Hand sahen die Amputationen komplett anders aus. An den abgetrennten Stellen wirkte die äußere Haut wie gequetscht. Eine Zange? Eine Zange! Der Daumen und der Ringfinger wurden direkt am Fingergrundgelenk abgekniffen, der kleine Finger am Endgelenk . Wurde das Opfer vor seinem Tod etwa gefoltert?

Äußerst verstörend wirkten auf Pete die Region rund um den Penis und den Hoden. Ein schwarzer Fleck und verkohlte Hautfetzen waren alles, was noch übrig war. War eine Kollision mit einem Zug in der Lage, eine solch starke Verletzung der Genitalien zu verursachen? Welchen Schmerz musste der Gefolterte wohl ertragen haben, falls man ihm die Genitalien weggebrannt hatte? War er zu dem Zeitpunkt bereits tot oder erlebte er den wahren Horror am lebendigen Leib? Ein Schaudern überkam Pete und er fasste sich, ohne nachzudenken, an die Leiste. Alles noch da! Er kam wieder zur Ruhe. Und dann war da noch die vertrocknete Stelle, die längs über die Augen verlief. Ein Tape, vielleicht sogar ein Panzertape, wickle ich mir nicht selbst um den Kopf! Pete versuchte seine Gefühle mit seiner professionellen Rationalität wieder in Einklang zu bringen. Was sie hier vorfanden, war mit einem möglichen Suizid nicht in Verbindung zu bringen. Würde man die klaren Hinweise der Amputationen, die eindeutig auf Fremdeinwirkung zurückzuführen waren, beiseitelegen, so würden auch die Fesselmerkmale einen Suizid klar widerlegen.

Das Opfer wurde gefoltert und getötet. Dies war eindeutig. Warum sich der Täter jedoch die Mühe machte, diesen Mord wie einen Suizid aussehen zu lassen, war Pete noch nicht ersichtlich. Genauso wie die fehlenden Körperteile . Dienen sie als Trophäen oder werden wir sie vereinzelt in den kommenden Wochen oder Monaten in der Spree oder im großen Müggelsee finden? Plötzlich traf Pete der Schlag, seine Nackenhaare stellten sich auf und ein Kribbeln durchfuhr seinen Körper. Er wurde mehrfach getötet! Pete musste schlucken. Er suchte nach seinem Handy und rief David an.

»Hast du dir die Bilder angesehen?«

»Klar!«

»Und?«

»Von Alvensleben liegt richtig.«

»Das sehe ich auch so. Die Merkmale der amputierten Körperteile sind eindeutig auf Fremdeinwirkung zurückzuführen.«

»Warum ist uns das nicht bereits am Fundort aufgefallen?«

»Weil wir aufgrund einer Suizid-Meldung unaufmerksam waren.«

»Verdammt, Pete, da hast du recht und das nervt mich brutal!«

»Ich meine aber etwas anderes! Er wurde mehrfach getötet!«

»Er wurde was?«

»Ich denke, dass unser Opfer zuerst gefoltert wurde. An der Folter ist er gestorben. Dann hat man den toten Körper, der bereits seit mehreren Stunden oder Tagen tot war, mit einem Zug kollidieren lassen. Wie würdest du das nennen?«

»Vielleicht wollte der Täter den Mord vertuschen! Was passt da besser, als vom Zug überrollt zu werden?«

»Lass uns rekapitulieren: Wir finden den toten und zerborstenen Körper eines Suizidenten. Am Unfallort liegen die Extremitäten verstreut, einige Körperteile fehlen. Sie sind nicht aufzufinden. Wo könnten sie sein? Haben sie sich in Luft aufgelöst? Dann finden wir das Becken. Schwarz verfärbtes Fleisch in der gesamten Genitalregion. Brandwunden? Wie könnten sie entstanden sein? Durch Reibung, als der Zug den Körper erfasst hat?«

»Okay?« David musste sich stark konzentrieren.

»Lass mich weiter ausholen. Wie stirbt der übliche Suizident auf den Gleisen? Er legt sich quer auf die Gleise. So hat er die Gewissheit, dass der Zug ihn komplett erfasst und der Tod sofort eintritt. Außerdem sieht ihn der Zugführer praktisch nicht. Der Zug erfasst den Körper, zerteilt ihn und fährt meist weiter. Der tote Körper wird dann von einem entgegenkommenden oder einem nachfolgenden Zug entdeckt. Unser möglicher Suizident hat jedoch auf einem Klappstuhl sitzend auf den herannahenden Zug gewartet. Er wurde so drapiert, dass ihn der Zug voll und frontal erfassen konnte. Ich mag mich täuschen, aber das sieht verdammt nach abgrundtiefem Hass oder nach Bestrafung aus. Such dir was aus.«

»Vielleicht ein Auftragsmord. Rumänische oder tschetschenische Mafia?«

»Ich denke nicht. Die Jungs foltern und töten. Aber sie inszenieren nicht.«

»Ehebruch? Der Ehemann überrascht seine Frau im Bett mit einem anderen in seinem Haus.«

»Wäre denkbar. Aber wo ist dann die Frau?«

»Vielleicht taucht sie in den kommenden Tagen oder Wochen irgendwo auf.«

»Möglich. Hast du in der Zeit bei der Polizei schon einmal einen spontanen Mord erlebt, bei dem sich der Mörder, in diesem Fall der Ehemann, zu einem Folterknecht entwickelt und den Geliebten seiner Frau während der Folter ermordet hat? Danach kommt er auf den glorreichen Gedanken, er könne den Nebenbuhler noch mehr demütigen, indem er ihn mit viel Aufwand vor einem Zug platziert? Das wäre dann wie ein konstruierter Mord aus einem Film mit vorhersehbarem Ende!«

»Pete. Wie ist deine Theorie? Sag sie mir!« David war kurz davor zu explodieren.

»Über das Motiv bin ich mir noch im Unklaren. Fakt ist aber: Dieser Mann musste sterben, weil er etwas unsagbar Schlimmes getan hat. Zumindest für den Mörder.«

»Und Inge Korf? Das war auch kein normaler Mord.«

»Aber ein komplett anderer Ablauf der Tötung. Inge Korf wurde nicht gefoltert. Sie wurde nicht an einen anderen Ort geschafft.«

»Wie gehen wir jetzt damit um? Voll in die Offensive, oder lassen wir erst den Bericht der Obduktion bei Decker eingehen? Hier besteht klar eine Verbindung.«

»Scheiß auf das, was ich vorhin gesagt habe. Wir werden sie mit unserer Theorie konfrontieren.«

»Warte, ich schalte eine Konferenz mit Decker.«

»Alles klar.«

Eve Decker hörte Pete aufmerksam zu, während er ihr ihre Theorie mitteilte.

»Das klingt plausibel«, bemerkte Eve Decker kühl. »Wenn Dr. von Alvensleben eure Theorie durch den Obduktionsbericht bestätigt, dann wisst ihr beide ja, in welche Richtung ihr ermitteln müsst. Morgen gegen zehn Uhr soll der Obduktionsbericht fertig sein. Wir treffen uns in der Rechtsmedizin im Büro von Dr. von Alvensleben.«

»Perfekt! David und ich werden uns zuvor die Fundstelle genauer anschauen.«

»Tut das.« Sie beendeten die Telefonkonferenz. Nach ein paar weiteren Bier und einigen Folgen Two and a Half Men , schlief Pete auf der Couch ein. Er wachte gegen zwei Uhr wie gerädert auf und schleppte sich mühsam ins Bett.