Donnerstag, der 14. Februar 2019, 15:00 Uhr
Wiesbaden
Bundeskriminalamt – Taskforce HEAVEN
Noah blickte in die Runde der Anwesenden. Die Namen auf der Liste seines Wunschteams wurden von Alexander Mier freigegeben. Noah hatte sich eine kleine schlagkräftige Truppe zusammengestellt. Die Taskforce HEAVEN bestand neben Noah aus drei weiteren Personen. Alexander Mier hatte jedem Einzelnen die freie Wahl gelassen, ob er oder sie in der Taskforce ermitteln wollte. Bedingt durch das zu erwartende Grauen mussten sich die potenziellen Taskforce-Mitglieder einem Stress- und Belastungstest unterziehen. Waren sie auch dazu in der Lage, in dieser Taskforce zu ermitteln? Alexander Mier wusste nur allzu gut, dass die Arbeit in dieser Taskforce jeden Einzelnen an seine Grenzen bringen würde.
Noah schaute in die Gesichter von Sandy Nöller, Marc Habermehl und Frank Ahrens. Alle drei waren seit einigen Jahren beim Bundeskriminalamt und im Referat CC 23. Sandy Nöller hatte bereits im Jahr 2015 in einer ähnlichen Sache ermittelt. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und alleinstehend. Seit sieben Jahren arbeitete sie beim Bundeskriminalamt.
Name: Sandy Nöller
Geboren: 1992
Geburtsort: Mannheim
Religion: konfessionslos
Staatsang.: deutsch
Bildungsweg: Hochschulabschluss
Studium: TU Darmstadt
Sandy hatte bei ihrem Abitur fünfzehn Punkte in allen Fächern erreicht. Ihre Leistungskurse hatte sie in Physik, Mathematik und Englisch belegt. Bevor sich Sandy an ihrer Wunschuniversität, der TU in Darmstadt, einschreiben konnte, hatte sie Post vom Bundeskriminalamt erhalten. Ihr war ein duales Studium in der IT-Forensik angeboten worden, welches sie sofort angenommen hatte. Sandys Eltern, die Familie war durch und durch akademisch geprägt, waren Anthroposophen an der Freien Waldorfschule. Als Sandy sie mit dem Angebot und ihrer direkten Zusage beim BKA konfrontiert hatte, war der Himmel über ihnen eingebrochen. Sandys Eltern hatten die Diskussion mit ihrer Tochter gesucht, doch Sandy hatte sich auf den lebenslangen Kuschelkurs nicht mehr eingelassen. Sandys Entscheidung war festgestanden, und seither überzeugte sie während ihres dualen Studiums beim Bundeskriminalamt durch ihre außergewöhnliche Disziplin und ihre souveräne Art.
Marc Habermehl war neunzehn Jahre und ein Single wie Sandy Nöller. Er war erst seit einem Jahr beim Bundeskriminalamt und der Jüngste im Team.
Name: Marc Habermehl
Geboren: 2000
Geburtsort: Offenbach
Religion: evangelisch
Staatsang.: deutsch
Bildungsweg: Mittlere Reife
Marc hatte seine schulische Karriere im Alter von sechzehn Jahren abgebrochen. Sein Elternhaus war pures Chaos gewesen. Sein Vater hatte die Familie verlassen, als Marc sieben Jahre alt gewesen war. Seine Mutter, die sich seit seiner Geburt ausschließlich um seine große Schwester und um ihn gekümmert hatte, war sofort in Hartz IV abgerutscht. Da der Vater seinen Verpflichtungen nur sporadisch nachgekommen war, war Geld im Hause Habermehl seit jeher Mangelware gewesen. Marc hatte früh seine Leidenschaft für das Internet und die Möglichkeiten, durch Manipulation schnelles Geld verdienen zu können, entdeckt. So war er rasch in die Tiefen des World Wide Web abgedriftet. Marc hatte innerhalb kürzester Zeit ein ausgeprägtes Talent einer ›menschlichen Suchmaschine‹ entwickelt. In Fachkreisen war er nur noch ›der Ermittler‹ oder ›Sherlock‹ genannt worden. Schnell hatte die Wirtschaft Marcs Talente entdeckt, somit war er nahezu täglich mit Aufgaben, die der Werksspionage nicht nur ähnlich gewesen waren, für diverse und kostspielige Aufträge gebucht worden. Die Honorare, die Marc Habermehl erhalten hatte, waren exorbitant gewesen. Da es jedoch eher untypisch gewesen war für einen Sechzehnjährigen mehrere Hunderttausend Euro Guthaben auf dem Konto zu besitzen, hatte sich das BKA für ihn und seine Tätigkeiten interessiert. Noah hatte während der Ermittlung gegen Marc Habermehl den Auftrag erhalten, einen seiner speziellen Bots zu aktivieren, um Marc für einen plausiblen nachvollziehbaren Auftrag begeistern zu können. Marc hatte sofort angebissen. Als Marc den Auftrag angenommen hatte, hatte keine dreißig Minuten später das Mobile Einsatzkommando des Bundeskriminalamtes vor seiner Tür gestanden. Während des Verhörs hatte Noah Marcs Talent umgehend erkannt. Er hatte Alexander Mier überzeugt, dass man Marc Habermehl nicht in eine Jugendstrafanstalt abschieben dürfe. Dieser Junge war ein Juwel und weit mehr als nur ein Mehrwert für das Bundeskriminalamt und das Referat CC 23. Alexander Mier hatte zugestimmt.
Marc hatte nicht lange überlegt und das Angebot angenommen. Aufgrund seiner illegalen Tätigkeiten im World Wide Web hätte er mit einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren rechnen müssen. Seinen Schulabschluss mit dem Bestehen der Mittleren Reife hatte Marc unter Aufsicht des Bundeskriminalamtes erlangt.
Frank Ahrens, der Dritte im Team, war siebenunddreißig Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Seit zehn Jahren war er mittlerweile beim Bundeskriminalamt. Frank war Noahs wichtigster Ermittler auf der Wunschliste. Seine Erfahrung, gepaart mit dem Hunger eines jungen Vaters, musste dieser Taskforce den gewünschten Erfolg bringen.
Name: Frank Ahrens
Geboren: 1983
Geburtsort: Mainz
Religion: evangelisch
Staatsang.: deutsch
Bildungsweg: Mittlere Reife
Frank hatte seine Karriere als Polizist begonnen. Er hatte sich nach der Mittleren Reife bei der rheinland-pfälzischen Polizei beworben. Nachdem er zum Polizeioberkommissar befördert worden war, hatte er sich beim Spezialeinsatzkommando am Standort Mainz beworben. Nach fünf Jahren in der Truppe war Frank mit dem Spitznamen ›Chief‹ stellvertretender Truppführer geworden. Nach einigen Hundert Einsätzen war Frank mit einem Schlüsselerlebnis konfrontiert worden. Die Kollegen vom Mobilen Einsatzkommando (MEK) hatten seit mehreren Wochen eine rumänische Bande observiert. Die Bande war verantwortlich für schwere Straftaten im Großraum Mainz gewesen. Nach dem Zugriff, der wider Erwarten unspektakulär verlaufen war, waren Chief und sein Team auf einen Monitor aufmerksam geworden. Entgegen der Dienstvorschrift hatten sie ihre Augen von dem, was auf dem Monitor zu sehen gewesen war, nicht abwenden können. Sie hatten die Gruppenvergewaltigung eines offensichtlich noch minderjährigen Jungen gesehen. Nach Abschluss der Ermittlung hatte das Landeskriminalamt Mainz in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt mitteilen müssen, dass das Opfer nicht zu identifizieren gewesen sei. Die Täter, die auf dem Video zu sehen waren, waren den Ermittlungsbehörden nicht bekannt gewesen und die Ermittlungen hatten sich ins Leere verlaufen. So erfolgreich wie der Einsatz gegen die rumänische Bande verlaufen war, so unbefriedigend war für Frank die Tatsache gewesen, dass sie erst immer handeln hatten können, wenn es meist schon zu spät gewesen war. Dazu war noch gekommen, dass Frank sich einem Disziplinarverfahren hatte unterziehen müssen. Als Frank gesehen hatte, was auf dem Monitor gezeigt worden war, war er zum Anführer der Rumänen gegangen, hatte ihm die Zähne eingeschlagen und ihm das Nasen- und das Jochbein gebrochen. Dieser unbändige Hass, der in ihm aufgekommen war, hatte nur mit roher Gewalt in Zaum gehalten werden können. Lieber hätte er seine Waffe gezogen und dem Mistkerl ins Gesicht geschossen. Frank hatte erkennen müssen, dass seine Tätigkeit beim SEK damit beendet war. Er hatte gegen diese pädophilen Schweine ermitteln und sie fassen wollen, bevor sie ihre Fantasien in die Tat umsetzen konnten. Dazu hatte er sein Tätigkeitsumfeld ändern müssen.
Da Frank schon immer eine Leidenschaft für die IT-Forensik gehabt hatte, hatte er gewisse Kenntnisse bereits vorweisen können. Er hatte sich daraufhin beim Bundeskriminalamt Abteilung Cybercrime beworben und war direkt aufgenommen worden. Alexander Mier hatte bereits beim Bewerbungsgespräch erkannt, dass dieser Spezialbeamte aus Mainz mit der Erfahrung von einigen Hundert Einsätzen wichtig für das junge Team des Referates CC 23 war. Alexander Mier hatte Frank Sandy zugewiesen. Seit diesem Tag bildeten die zwei ein Team. Frank wurde von Sandy in die Feinheiten und in die Besonderheiten der IT-Forensik eingeführt. Frank wiederum vermittelte Sandy Einblicke in die reale Welt der Zugriffe.
»Bitte öffnet die Mappen.« Noah leitete das erste Team-Meeting der Taskforce HEAVEN ein.
In den jeweiligen Mappen befanden sich ein kurzer Einleitungstext, eine zusätzliche Vertraulichkeitsvereinbarung und ein versiegelter Umschlag. Abgesehen von Alexander Mier registrierte Noah eine zurückhaltende Art bei Sandy und Marc. Selbst Frank, den sonst so gut wie nichts aus der Ruhe bringen konnte, verhielt sich anders als gewohnt. Frank ergriff zuerst das Wort. »Was ist das hier?«
Alexander Mier beobachtete Frank aufmerksam.
»Bevor wir weiterreden, müsst ihr bitte die Vertraulichkeitsvereinbarungen unterschreiben.« Noahs Aufforderung war eindeutig.
»Aus welchem Grund?« Sandy klang überrascht. »Wir haben eine pauschale Vertraulichkeitsvereinbarung, die in unseren Arbeitsverträgen hinterlegt ist. Worum geht es hier?«
»Wie zuvor erwähnt, können wir erst weitersprechen, wenn ihr die NDAs unterschrieben habt. Vorab werde ich euch nur mitteilen können, dass es sich hier um eine international angelegte Fahndung handelt. Wir werden mit Behörden aus Europa und Übersee zusammenarbeiten. Alexander hat mir die Bildung und Leitung dieser Taskforce übergeben. Ich habe mein Wunschteam zusammengestellt. Das ist der Grund, weswegen ihr hier seid. Genügt euch das vorab?« Noah klang ruhig und souverän.
Sofort nachdem Noah seinen Satz beendet hatte, unterschrieb das Team geschlossen die Vertraulichkeitsvereinbarung. Alexander Mier sammelte sie direkt ein.
»Unsere Taskforce heißt HEAVEN. Bevor ihr euch fragt, wieso ich diesen Namen gewählt habe, erkläre ich euch, worum es geht. Wie ihr wisst, habe ich mehrere aktive Bots im Web eingesetzt, um besondere Hardcore-Chatrooms im pädophilen Milieu zu finden. Nach mehreren Wochen und vielen harmlosen Treffern hat mein Bot mit dem Namen Hartmut einen echten Volltreffer gelandet. Ihm wurde eine persönliche Einladung für den Hardcore-Chatroom HEAVEN im Darknet geschickt. Ab diesem Punkt habe ich übernommen. Die Landingpage entsprach einer professionellen Website, die auch zu einem Streamingdienst hätte gehören können. Ich spreche hier nicht von einer semiprofessionellen Website! Hier waren Marketingprofis und sehr viel Budget am Werk. Als ich das Menü der Seite öffnete, überkam mich ein noch nie da gewesenes Unbehagen. Bitte schaut euch nun die Screenshots an.«
Das Team studierte die von Noah angesprochenen Screenshots einige Minuten. Dann stammelte Sandy: »Mein Gott. Was ist das für ein kranker Scheiß?«
Augenblicklich schaltete sich Alexander Mier ein. »Das hier ist genau der Grund, warum es die Abteilung Cybercrime und das Referat CC 23 gibt. Das hier ist der Grund, warum wir Mitarbeiter wie euch eingestellt haben. Das hier ist der Grund, warum ich mir täglich Gedanken und Sorgen mache, um meine, um alle Kinder weltweit. Das hier ist der Grund, warum es unser Referat geben muss. Wir müssen uns alle, so wie wir hier sitzen, die Frage stellen, ob wir dieser Herausforderung gewachsen sind! Ob wir dem Horror, der uns im Laufe der Ermittlungen begegnen wird, gewachsen sind. Ob wir jeden Morgen, wenn wir aus dem Bett steigen, in der Lage sind, den kommenden Arbeitstag professionell und souverän zu meistern. Noah hat euch bewusst ausgewählt. Ihr seid in euren jeweiligen Fachgebieten die Besten, aber seid ihr auch mental in der Lage, in dieser Taskforce zu bestehen und gegen HEAVEN zu ermitteln? Diese Frage könnt ihr euch nur selbst beantworten.«
Alle schwiegen. Binnen weniger Sekunden verwandelte sich der Konferenzraum des Bundeskriminalamtes in eine Halle des puren Horrors.
Noah übernahm den Lead erneut. »In den Mappen findet ihr die Zugänge zur Website HEAVEN sowie eure Alias-Charaktere.«
»Du sagtest doch, dass nur Hartmut eine Einladung erhalten hat?« Marc wirkte irritiert.
»Um nicht aufzufallen, musste ich mir als Hartmut einige Streams anschauen. Dass ich hier noch so vor euch stehe und nicht direkt in die Klapse eingeliefert werden musste, ist nur Alexander zu verdanken. Der erste Stream, den ich mir anschauen musste, hat mich an meine Grenzen gebracht. Die Schwelle, die ich überschreiten musste, um einen weiteren Stream anschauen zu können, war nur möglich, nachdem Alexander ein sehr eindringliches Gespräch mit mir geführt hatte. Wir müssen verstehen, nein, wir müssen begreifen, dass diese Arbeit, die Arbeit, die nur durch uns erledigt werden kann, einzigartig ist. Wir müssen die Drahtzieher dieses Pädophilen-Rings ausfindig machen und gegen das gesamte Netzwerk ermitteln. Hier stehen mehr als nur Leben auf dem Spiel. Hier geht es um Kinder, um sehr viele Kinder!«
Es herrschte Totenstille. Noah blickte in drei kreidebleiche Gesichter. Alexander Mier ging es nicht anders, jedoch hatte er sich bereits intensiv mit der neuen Aufgabe beschäftigt. Nachdem er die Leitung des Bundeskriminalamtes über die Bildung der Taskforce HEAVEN mit Einbeziehung von Europol und dem FBI informiert hatte, wurden ihm alle verfügbaren Mittel zugesprochen. Unverzüglich versorgte er Warren Baugh mit allen relevanten Informationen. Ein besonderer Aspekt war, dass einige zehntausend Nutzer über IP-Adressen aus den USA in HEAVEN aktiv waren. Keine zwei Stunden später rief ihn Warren Baugh zurück und teilte ihm mit, dass Direktor Willard diesem Fall höchste Priorität eingeräumt hatte. Zur gleichen Zeit telefonierte Noah mit Jules de Pauw, Federale Politie in Belgien, und Benjamin Statton, Europol. Die Federale Politie wie auch Europol ließen nicht lange mit der Zusage der kooperativen Ermittlung auf sich warten. Der Kampf gegen den Pädophilen-Ring HEAVEN war somit eröffnet.
»Der Chatroom ist folgendermaßen aufgebaut. Mit dem Einladungslink hat man eine begrenzte Zugriffszeit.«
»Wie lange?« Frank unterbrach Noah. Man konnte ihm die Ungeduld anmerken. Franks Jagdtrieb brannte lichterloh.
»Die Probezeit ist auf fünf Minuten begrenzt. Diese kurze Phase ist meiner Meinung nach bewusst ausgewählt, da der Content so brutal und gnadenlos ist, dass sich Konsumenten eines solchen Genres sofort für eine aktive Mitgliedschaft entscheiden müssen. Sonst ist man, ohne eine Chance zurückzukommen, wieder raus. Über eine Art SSL-Verschlüsselung, eine solche Verschlüsselung habe ich bisher noch nicht gesehen, können User dann per Kryptowährung bezahlen.«
»Kauft man eine Mitgliedschaft oder muss man pro Stream bezahlen?« Auch Marc konnte seine Neugier nicht mehr zügeln. Dem übrigen Team ging es nicht anders.
»Für fünfzig Euro kauft man nur die Mitgliedschaft. Weitere zehn bis einhundert Euro werden pro Stream fällig. Ihr könnt euch denken, dass die Preise der Härte und der Exklusivität der jeweiligen Streams angepasst sind. Jeder User hat die Möglichkeit, nachdem er eine Mitgliedschaft gekauft und mindestens einen Stream erworben hat, einen weiteren Gast einzuladen. Das haben wir viermal gemacht! Und glaubt mir, die Hölle kann nicht schlimmer sein als das, was in diesen Streams gezeigt wird.« Noah beendete seinen Vortrag. Im Konferenzraum war es erneut totenstill.
Frank war der Erste, der sich äußerte. »Ich muss hier nichts überlegen oder abwägen. Ich bin dabei.«
»Ich auch!« Sandys Antwort war eindeutig.
»Äh, ich mach auch mit!« Marc war sich seiner Entscheidung noch nicht zu einhundert Prozent sicher, konnte sich aber auch nicht dagegen entscheiden.
»Europol und das FBI sind bereits eingeschaltet. Das wird eine globale Ermittlung.« Alexander Mier beendete damit das Meeting.
Marc ging an seinen Arbeitsplatz zurück. Er öffnete die Mappe, dann griff er nach dem versiegelten Umschlag und öffnete auch diesen. Im Umschlag befand sich lediglich eine Nummern- und Buchstabenfolge. Ein Code und eine URL. Marc tippte die Adresse der URL auf seiner Tastatur ein. Nun wurde er aufgefordert, einen Code einzugeben. Nach Eingabe des Codes öffnete sich sein Alias-Profil:
Geboren: 1976
Geburtsort: Aleppo
Religion: Muslim
Land: Syrien
Staatsang: syrisch
Aufenthaltsort: Bremen
Bildungsweg: Hochschulabschluss
Beruf: Muezzin
Sexuelle Neigung: pädophil
Budget: 1/2 Bitcoin
»Wow!« Marc konnte seine Verwunderung nur mit einem lauten Wow ausdrücken. Okay , dachte er sich, dann werde ich mal meine Arabisch-Kenntnisse auffrischen müssen.
Auf der Seite war auch das weitere Vorgehen vermerkt. Bot Jamal war in der Lage, unabhängig zu agieren. Marc musste Jamal aktivieren, indem er den Einladungslink, den ihm Bot Hartmut geschickt hatte, bestätigte. Er wurde auf die Landingpage weitergeleitet.
GREETINGS, FRIENDS OF THE VERY SPECIAL
Ein Schauer überkam ihn. Noah hatte nicht übertrieben, aber davon war er auch nicht ausgegangen. Mit diesem Horror jedoch direkt konfrontiert zu werden, löste in Marc ungeahnte Ängste aus. In seiner ersten Session schaffte es Marc gerade mal einen Teil der Headlines der angebotenen Streams zu lesen. Eigentlich überflog er sie nur. Als er die Headline las, BOYS UP TO 3 YEARS , schloss er die Website augenblicklich. Worauf war Noah hier gestoßen? Welche kranken Schweine konsumierten so etwas? Was aber noch viel schlimmer war, wer produzierte diesen Content? Wer wusste, dass der Consumer-Markt diese Dimensionen hatte, und wer war in der Lage, solch einen Content überhaupt anzubieten? Woher kamen die Opfer und was machte man mit ihnen, nachdem sie vergewaltigt oder getötet wurden? Marcs Hirn stand kurz vor einem Kollaps. Fragen hämmerten sich durch seine Nervenbahnen bis in alle Extremitäten seines Körpers. Ihm wurde schwindelig.
»Hey, Großer?« Eine Hand tätschelte sein Gesicht. Es war Sandy. »Alles okay? Was ist mit dir?«
»Äh, ich …«, Marc stammelte. »Ich habe die Nerven verloren und dann wurde es schwarz vor Augen.«
»Hast du dir die Seite angeschaut?«, fragte Sandy mit einfühlsamer Stimme.
»Nur einen Teil. Was ist das?«
»Das ist der blanke Horror«, erwiderte Sandy. »Ich bin auch nicht sehr weit gekommen. Außer einigen Headlines habe ich mich noch nicht weiter vorgewagt.«
»Sind wir wirklich wegen so etwas hier beim BKA?« Marc war kurz davor, die Fassung zu verlieren.
»Ja, Marc! Alexander hat recht und das weißt du auch. Schau dir unsere Abteilung an und achte mal darauf, wie wenige wir sind. Hier arbeiten nur die Besten und wir vier sind die Speerspitze. Noah hat uns auch ausgewählt, weil wir bis jetzt stets pragmatisch vorgegangen sind. Unsere Gefühle und Empfindungen konnten wir bis dato beiseitestellen. Was uns hier aber erwartet, hat mit unseren bisherigen Jobs und Ermittlungen nicht mehr das Geringste zu tun. Wir sind im Vorhof zur Hölle angekommen. Sobald wir den ersten Stream öffnen werden, sind wir in der Hölle. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Ich glaube, dass uns das bis an unser Lebensende nicht mehr loslassen wird.«
»Kannst du das? Kannst du deinen Job in dieser Taskforce durchziehen?« Mars Stimme zitterte.
»Ich weiß es noch nicht, aber ich fühle mich dazu verpflichtet. Ich habe diesen Job angenommen, da ich meine Aufgabe im Aufspüren von bösen und sehr bösen Menschen sehe. Jetzt, da wir mit dem wahren Bösen konfrontiert werden, kann ich nicht den Schwanz einziehen. Wenn ich meine Augen schließe und an die Kinder denke, wenn ich daran denke, dass es immer die Kleinsten und Schwächsten erwischt, dann steht die Aufgabe über meinen Ängsten. Ich weiß nicht, ob und wie ich aus so einer Sache herauskommen werde, aber verdammt noch mal, ich will und werde alles dafür tun, um diese Dreckschweine hinter Schloss und Riegel zu bringen.«
Marc schaute Sandy mit großen Augen an. »Vielleicht hast du recht! Ich bin dabei, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass ich wohl bald Alkoholiker sein werde.«
Sandy konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. »Ich wahrscheinlich auch! Alles wieder okay?«
» Okay möchte ich jetzt noch nicht behaupten, aber ohne deine Worte von eben wäre ich hundertprozentig raus.« Marc wirkte erleichtert.
»Wir sollten, nein, wir müssen uns einen separaten Raum nehmen und gemeinsam als Team dort arbeiten. Wir werden einander brauchen. Das ist kein Einzeljob.«
Marc war einverstanden. »Das sehe ich auch so.«
Sandy ging zu ihrem Schreibtisch und loggte sich erneut ein. Ihr Profil war seltsam. Eine Endfünfzigerin mit Vorlieben, die sich ein normal denkender Mensch nicht einmal im Ansatz hätte vorstellen können:
Geboren: 1961
Geburtsort: Waldkirchen
Religion: römisch-katholisch
Land: Deutschland
Staatsang.: deutsch
Aufenthaltsort: Traunstein
Bildungsweg: Hauptschule
Beruf: Hausfrau
Sexuelle Neigung: pädophil
Budget: 1/2 Bitcoin
Also die ganz normale Omi, zumindest auf den ersten Blick. Gab es solche Menschen wirklich? Was taten diese Menschen, wenn sie nicht online ihren sexuellen Perversionen nachgingen? Wenn sie nicht an Orgien teilnahmen oder den Nachbarsjungen gerade befummelten? Waren sie die Art Bekannte, Verwandte, Freunde oder Nachbarn, über die nach deren Festnahme nur gesagt wurde: Das ist ja so furchtbar! Wir kennen Marion schon so lange, aber es ist uns nie etwas aufgefallen. Sie war immer höflich und zuvorkommend. Außerdem war Marion ein geschätztes Mitglied der Gemeinde. Fragen Sie unseren Pfarrer. Er wird Ihnen das bestätigen können. Marion Ammerschläger war zwar nur ein Bot, der Alias von Sandy im Laufe der Ermittlung, aber diese Menschen existierten und Sandy musste sich als diese Person ausgeben. Sandy ekelte sich. Für solche Menschen und deren Neigungen wurden Kinder entführt, gefoltert und sexuell missbraucht. Sie wusste, dass sie ihre eigene Meinung nicht kundtun durfte. Vor allem nicht in der beruflichen Situation, in der sie sich befand. Diese Menschen hatten den Tod verdient! Und vor allem keinen normalen, gnädigen oder schmerzlosen Tod!
Sandy klickte auf den Link des ersten Streams und ihr eigener Horror begann.
Frank blieb noch sitzen, nachdem Sandy und Marc den Konferenzraum bereits verlassen hatten.
»Was gibts noch?«, fragte ihn Noah.
»Marc ist erst neunzehn und fast noch ein Kind. Wie soll er eine solche Ermittlung durchhalten können? Er wird daran kaputtgehen und das weißt du.«
»Dessen bin ich mir bewusst. Aber Marc ist auf seinem Fachgebiet der Beste! Wir können auf seine Mitarbeit nicht verzichten. Zumindest mussten wir ihn fragen. Lehnt er aus eigenen Beweggründen ab, so ist das eine andere Situation und wir müssen uns extern um diese Position bemühen.«
Noah wirkte abgeklärt. Die wenigen Stunden, in denen er sich mit HEAVEN beschäftigte, hatten ihn bereits geprägt. Noah wusste, dass keiner aus dem Team, auch nicht Alexander Mier, nach dieser Zeit noch der Alte sein würde. Alexander hatte es bereits gesagt. Dies war der Grund, warum sie hier beim BKA waren. Verbrechen mussten aufgeklärt werden. Verdächtige mussten überführt und festgenommen werden und Gerichte hatten über sie zu richten. Dies war dann nicht mehr ihre Aufgabe.
Frank verstand Noah, musste aber nachfragen. Auch wenn es nicht so wirkte, war Marc das Nesthäkchen der Abteilung. Mit seinen neunzehn Jahren und seiner unbekümmerten Art wurde er von allen Kollegen gemocht und in besonderem Maße geschätzt. Wie würde sich sein Verhalten, sein gesamtes Wesen jetzt verändern? Konnte er eine solche Ermittlung überhaupt durchstehen? Aber Noah und Alexander hatten recht. Für diese Sache musste jeder sein Opfer bringen. Sie mussten diesen Monstern das Handwerk legen, komme, was wolle! Aber nein. Das waren keine Monster! Das waren Menschen aus Fleisch und Blut. Greifbare lebendige Individuen und keine Fabelwesen. Menschen, denen man vielleicht schon einmal in der Stadt, im Bus oder beim Einkaufen begegnet war, ohne zu wissen, wer gerade neben einem saß, stand oder etwas bezahlte. Monster hätte man erkennen können. Monster wären groß, sie hätten spitze und scharfe Zähne. Aus ihren Mäulern würde der Sabber triefen und ihre blutroten oder giftgrünen Augen würden einem zeigen, dass das letzte Stündlein geschlagen hätte. Aber es waren nur Menschen. Männer und Frauen. Alte und junge. Dicke und dünne. Gepflegte und ungepflegte. Gebildete und ungebildete. Arme und reiche. Freunde, Bekannte, Verwandte und Nachbarn. Religiöse und nicht religiöse. Und alle Ethnien!
Viele dieser Menschen hatte Frank in seiner Tätigkeit als Beamter des SEK festnehmen können. Er konnte sie aber nie aufspüren, gegen sie ermitteln, ihre üblen Machenschaften verfolgen und sie dann als krönenden Abschluss zur Strecke bringen. Das war nun anders. Frank öffnete seine Mappe:
Name: Pascal Klein
Geboren: 1989
Geburtsort: Gelsenkirchen
Religion: Atheist
Land: Deutschland
Staatsang.: deutsch
Aufenthaltsort: Gelsenkirchen
Bildungsweg: Hauptschule
Beruf: Friseur
Sexuelle Neigung: pädophil
Budget: 1/2 Bitcoin
Nachdem er sich eingeloggt hatte, wurde er von dem gleichen Satz begrüßt wie alle anderen auch.
GREETINGS, FRIENDS OF THE VERY SPECIAL
Frank klickte zuerst auf Streams und schaute sich die einzelnen Headlines an. Dann wechselte er im Menü zu den Chats. Diese waren wiederum in unterschiedliche Chatrooms aufgeteilt. Die Perversität war im Verhältnis zu den Headlines der Streams noch beängstigender. Frank dachte an einen seiner letzten Einsätze zurück, als sie in Mainz die rumänische Bande festgenommen hatten und er während des Einsatzes den Content auf den Monitoren der Bande hatte sehen müssen. Frank hätte an diesem Tag und nach dieser Konfrontation lieber ein anderes Einsatzmittel eingesetzt als nur seine Hände. Monges, sein stellvertretender Truppführer, hatte ihn gerade noch davon abhalten können.
Frank tat sich schwer, die einzelnen Foren anzuschauen. Er klickte direkt auf den ersten Link mit der Bezeichnung Misogynie (Frauenhass), und eine weitere Seite wurde geöffnet. Er traute seinen Augen nicht. Was ist das hier? Der Fünf-Sterne-all-inclusive-Club für Perverse aller Art? Das Forum Misogynie hatte achtzehn, in unterschiedliche Sprachen aufgeteilte Chatrooms. Von Arabisch bis Vietnamesisch waren alle gängigen Sprachen vertreten. Darunter befanden sich auch einige exotische Sprachen: Afrikaans, Mazedonisch oder Paschtu. Paschtu? Dass Frauen in Afghanistan keine bedeutende Rolle spielten, war bekannt. Aber dass afghanische Männer in Foren ihren Hass und ihre perversen Fantasien teilten?
Frank klickte auf ein weiteres Forum mit dem Titel Nekrophilie. Auch hier waren die Chatrooms nach Sprachen sortiert. So ging es weiter und weiter. Frank zählte zwanzig unterschiedliche Foren. Das Einzige, was er nicht finden konnte, war ein Forum mit der Headline Sex! Dies war wohl zu normal für die speziellen User auf dieser Plattform. Frank klickte auf den Link Nekrophilie des deutschsprachigen Chatrooms und las den ersten Beitrag.
User 7315:
Ich war gestern wieder in der Leichenhalle, hatte echt Glück. Der Bestatter hat uns wieder mal ’ne Tusse gebracht, die ihren Körper der Wissenschaft vermacht hatte. Das hätte sie bestimmt nicht gemacht, wenn sie gewusst hätte, was sie hier erwartet.
User 1285:
LOL. Die alten Weiber sind so saudumm. Gut so. haha
User 0698:
@7315 und? erzähl. Werd schon geil.
User 4293:
@7315 und? Wie alt?
User 7315:
ungefähr sechzig und die fudd war echt noch gut in schuss.
User 17854:
@7315 spann uns nicht auf die folter … hast du sie gefickt?
User 7315:
@17854 Klar man. Ich hab sie gut gefickt und sie hat die fresse gehalten …
User 1285:
LOL
User 0698:
Sie halten immer die fresse hahaha hahaha
User 4293:
@0698 das tun sie
@7315 hast du sie auf dem tisch liegen lasen und was ging?
User 205780:
Ja man. War sie noch steif?
User 0001:
@7315 Wie hat ihre tote Fotze gerochen? War sie schon verfault?
Frank musste die Nachricht mehrmals lesen . »Wie hat ihre tote Fotze gerochen? War sie schon verfault?« – User 0001 ? Wer bist du? Frank öffnete weitere Foren, er musste sich quälen, die Chats zu lesen. In nahezu jedem Chat las er Posts von User 0001 und allem Anschein nach war er der einzige User, der kein Legastheniker war. Seine Sätze waren stets ausformuliert und grammatikalisch korrekt. Weitaus auffälliger waren jedoch die Perversität und die Brutalität in seinen Fragen. User 0001 leitete keinen Chat. Er postete keine Erfahrungen, er stellte nur Fragen und stachelte die Community an.
Frank erkannte schnell, dass die Fragen bewusst provokativ formuliert waren, da sich die anderen User anfangs immer zurückhielten und ihre Vorlieben und Fantasien ausnahmslos in einer Art Light-Version teilten. Das schien User 0001 zu missfallen. War er eventuell der Administrator? Nachdem User 0001 seine Frage gestellt hatte, kamen die anderen User auf einmal in Fahrt und liefen sich heiß. Schnell entwickelten sich daraufhin die einzelnen Chats, die wegen ihrer Headlines schon schlimm genug waren, in ein Tollhaus des menschlichen und meist männlichen Abschaums! Nun kamen die Tiere in den Menschen zum Vorschein, obwohl Tiere so etwas nie tun würden. Verdammt, Noah! Was hast du hier entdeckt?