Mittwoch, der 23. Oktober 2019, 19:15 Uhr
Berlin-Moabit
Charité, Institut für Rechtsmedizin
Dr. von Alvensleben erwartete Pete und David im Sektionssaal 1. Außer Dr. von Alvensleben befanden sich keine weiteren Rechtsmediziner im Sektionssaal. Die übrigen Sektionstische waren leer, der Stahl blitzte vor Sauberkeit. Der strenge Geruch der Desinfektionsmittel war allgegenwärtig und lag wie schwerer Nebel auf hoher See in der Luft. Die Arbeitsplätze und Sektionstische waren blitzblank. Der eine Tisch, auf dem Inge Korfs nackte Leiche lag, stach grausam hervor. Gewarnt durch den letzten Besuch in diesem Sektionssaal, das war gerade einmal fünf Tage her, waren Pete und David heute besser vorbereitet. Bevor sie den Raum betraten, setzten sie ihre FFP3-Masken auf. Dennoch schafften es die Desinfektionsmittel und ein leicht süßlicher Geruch, sich in ihre Nasen zu schleichen. Konnte man sich an diese Gerüche je gewöhnen? Diese Frage trieb Pete schier in den Wahnsinn.
»Guten Abend, die Herren, schön, Sie an einem Tag gleich zweimal begrüßen zu dürfen.« Dr. von Alvensleben empfing sie gut gelaunt wie immer, obwohl sie längst Feierabend hätte haben müssen.
»Guten Abend, Frau Doktor«, antworteten Pete und David unisono.
Inge Korf lag auf dem Sektionstisch. Die grelle Beleuchtung im Sektionssaal ließ den toten Körper, vor allem ihr Gesicht, grausam erscheinen. Der Hautschnitt war bereits vernäht. Pete erinnerte sich an das entstellte Gesicht, das wie eine Halloweenfratze ausgesehen hatte. Zumindest hatten sie sie in der Gaststätte so vorgefunden. Die Rechtsmedizinerin hatte Inge Korfs Zunge bereits entfernt, um Hinweise auf Stauungsblutungen oder Zungenbisse zu finden. Anstelle der Zunge steckte jetzt ein mit etwas Zwerchfell umwickelter Zellstoff in Zungenform in Inge Korfs leicht geöffneter Mundhöhle.
»Wollen Sie den Bericht lesen oder soll ich Ihnen die ersten Erkenntnisse der Obduktion berichten?«
David reagierte sofort. »Auf jeden Fall, aber wir müssen zuerst das Handy entsperren.«
Dr. von Alvensleben lief zu einem der Stahlschränke, die sich an der Rückwand des Sektionssaals befanden und kam mit dem Beweisbeutel und den Durchsuchungsbeschlüssen zurück. »Das hier ist für Sie. Frau Decker hat es mir vorhin per Fax zukommen lassen.« Sie übergab Pete die Durchsuchungsbeschlüsse für Inge Korfs Mobiltelefon und für ihre Wohnung, dann nahm sie das Handy aus dem Beutel und entsperrte es mit Inge Korfs Daumen. »Bitte sehr, Herr Richter.« Sie gab ihm das Handy.
David klickte sich in die Einstellungen und änderte den Code. »Das wäre geschafft. Nun zu Frau Korf.«
»Sie werden morgen einen ausführlichen Bericht erhalten. Wichtig für Sie wird sein, dass Ihre Theorie zutrifft, die besagt, dass Frau Korf zuerst erwürgt wurde. Der Druck muss so stark gewesen sein, dass der Täter ihr während des Erwürgens auch Wirbel und das Kehlkopfskelett gebrochen hat. Ich gehe jedoch davon aus, dass dies nicht absichtlich geschehen ist. Der Täter hat ihr daraufhin mit einer sehr scharfen Klinge die Kehle durchgeschnitten. Schauen Sie hier.« Die Rechtsmedizinerin deutete auf den Hals. »Der Schnitt reicht von Ohr zu Ohr. Er wurde mit dermaßen viel Kraft durchgeführt, dass der Täter Frau Korf beinahe enthauptet hat. Er hat jeweils die Arteria carotis communis und die Vena jugularis externa sowie die interna durchtrennt. Außerdem konnte ich eine Kerbe im dritten Halswirbel entdecken. Wäre er mit der Klinge zwischen die Wirbel geraten, würde der Kopf nur noch an einigen Hautpartien hängen.«
»Also hat er alles in ihrem Hals durchtrennt, was sein Messer finden konnte! Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«, fragte Pete Dr. von Alvensleben.
»Ich hatte schon viele Strangulationen und auch einige aufgeschnittene Kehlen. Aber noch nie hatte ich einen toten Körper vor mir auf dem Tisch liegen, der beide Tötungsarten aufwies.«
»Und Frau Korf wurde erwürgt?«
»Wir haben bereits das Zungenbein untersucht. Es ist gebrochen. Zudem ist ihr Zahnfleisch leicht rosa verfärbt. Die Einblutungen, die üblicherweise durch Strangulation erfolgen, waren eindeutig zu erkennen. Zudem können Sie hier die Blutergüsse über und unter der Wunde erkennen. Der Schnitt hat die Blutergüsse ein wenig verdeckt, sie sind aber noch eindeutig zu sehen. Interessant ist auch, dass der Täter vor Frau Korf stand.«
»Heißt das, dass sie von vorn erwürgt wurde?«
»Nach dem jetzigen Kenntnisstand ist davon auszugehen!«
»Er hat sie demnach gar nicht überrascht? Kannte Inge Korf ihren Mörder?«
»Das wäre möglich, aber das müssen Ihre Ermittlungen ergeben. Ich kümmere mich nur um die Todesursache. Und, Herr Beska, darum beneide ich Sie und Herrn Richter bei diesem Fall nicht. Lesen Sie bitte den Obduktionsbericht des Toten von den Gleisen!«
»Wie meinen Sie das?« David wirkte verunsichert.
»Bitte lesen Sie den Bericht und lassen Sie sich Zeit. Mein Team und ich konnten eindeutige Merkmale finden, die einen gewöhnlichen Mord verblassen lassen.«
»Einen gewöhnlichen Mord?« Pete wurde nervöser.
»Lesen Sie den Bericht!« Die Rechtsmedizinerin klang jetzt resolut.
Pete und David verabschiedeten sich und peilten ihr nächstes Ziel an. Inge Korfs Wohnung.
»Wo müssen wir hin?«
David startete den Motor. Petes Knie war zwar wieder okay, aber er war froh, dass David für gewöhnlich fuhr. Außerdem war David ein hervorragender Fahrer. Er nahm regelmäßig an den Fahrertrainings der SE teil. Da Pete ohnehin ein mieser Fahrer war, war das die perfekte Variante einer sicheren Personenbeförderung. Zudem konnte er sich so besser mit dem Fall befassen und David war ein dankbarerer Zuhörer. Ja, wir sind ein zu beneidendes Team.
»Köpenick, Lobitzweg 103. Nimm am besten die …«
»Ich weiß, wie wir da hinkommen. Kümmere du dich um das Handy und lass mich fahren.«
»Sorry, Spätzchen.« Sie lachten und David fuhr los.
Pete nahm das Handy und entsperrte es mit dem neuen Code, den David im Sektionssaal der Charité eingerichtet hatte. Auf dem Display war nichts Besonderes zu sehen. Die üblichen Apps, die nicht in Kategorien angelegt waren. Er klickte sich durch Seiten voller Apps. Games, Games und noch mehr Games. Apps von fast allen gängigen Supermarktketten und Kaufhäusern. Wie kann man nur so viel Müll auf seinem Handy haben? Er wischte weiter durch die Apps und sah Mail Apps von Google, Yahoo, GMX und drei weiteren E-Mail-Dienstleistern. Bei jeder dieser Apps wurden zwischen hundert bis weit über tausend nicht geöffnete Nachrichten angezeigt. Im ersten Moment dachte er nur an Spam. Wer machte sich so einen Stress und richtet sich sechs E-Mail-Adressen ein? Pete wischte die einzelnen Screens wieder zurück und da fiel es ihm auf. Was war das? David registrierte sein Erstaunen.
»Was ist los? Hast du was gefunden?«
»Ich denke schon.«
Nach Eingabe des Codes hatte er sich durch die Anzahl der Apps ablenken lassen. Somit übersah er die Home-Leiste am unteren Rand des Handys. Hier befanden sich die meistgenutzten Apps von Inge Korf. Laut las Pete den Namen der App vor.
»Tor-Browser!«
»Mach keinen Scheiß.« Es platzte aus David heraus.
»Ich mache keinen Scheiß!«
David blickte Pete mit großen Augen an. »Was macht eine Frau Anfang sechzig mit Tor?«
»Entweder war Inge Korf ein Crack oder pervers.«
»Oder Rote-Armee-Fraktion! Das Alter würde passen.«
»RAF? Ich denke eher nicht. Die RAF ist seit drei Jahrzehnten nicht mehr aktiv und was hätte jetzt noch die Notwendigkeit, damalige Mitglieder zu exekutieren?«
David stimmte Pete zu. Pete klickte auf die App und der Tor-Browser öffnete sich. Als er die Quick-Links sah, musste er schlucken.
»Und? Was siehst du?« David konnte seine Ungeduld nicht mehr zurückhalten. Jetzt ärgerte er sich, dass er der Fahrer war und nicht selbst das Handy checken konnte.
»Nun ja, zumindest wissen wir jetzt, dass Inge Korf eindeutig pornosüchtig war.«
David verlangsamte die Fahrt, blinkte und hielt in einer Parkbucht. »Zeig mal her.«
Auf dem Display des Handys waren zwölf Quick-Links zu sehen. Neben den bekannten Links wie YouPorn, Pornhub und XHamster erweckte ein Link ihre Aufmerksamkeit: HEAVEN. Pete klickte darauf.
GREETINGS, FRIENDS OF THE VERY SPECIAL
Kurz nach der Begrüßung öffnete sich ein Menü. Es hatte nur zwei Kategorien. Streams und Chats. Die Seite sah professionell programmiert aus. Die Farben waren wie der Tor-Browser in einem dunklen Lila gehalten. Pete klickte zuerst auf Streams.
BRUNETTE BITCHES FROM 16 YEARS
RAPED AND TORTURED
BLACK-HAIRED BITCHES FROM 16 YEARS RAPED AND TORTURED
BLONDE BITCHES FROM 16 YEARS
RAPED AND TORTURED
RED-HAIRED BITCHES FROM 16 YEARS RAPED AND TORTURED
…
BOYS UP TO 3 YEARS
BOYS UP TO 5 YEARS
BOYS UP TO 10 YEARS
…
GIRLS UP TO 3 YEARS
GIRLS UP TO 5 YEARS
GIRLS UP TO 10 YEARS
»Was ist das für ein kranker Scheiß?« David verlor die Fassung. »Klick auf den ersten Link«, forderte er Pete auf.
»Bist du dir sicher?«
»Los!«
Pete klickte auf BRUNETTE BITCHES FROM 16 YEARS, RAPED AND TORTURED. Es öffnete sich eine Unterkategorie mit Datumsangaben, die sich als Links darstellten. Der Hintergrund dieser Seite war tiefschwarz. Die Links stachen in einem metallischen Rot hervor.
31.12.2018 05.03.2019
15.01.2019 14.03.2019
23.01.2019 22.03.2019
02.02.2019 01.04.2019
11.02.2019 10.04.2019
Die chronologische Reihenfolge der Links setzte sich weiter fort und endete mit dem Link vom 17.10.2019. Pete klickte auf den Link vom 24.12.2018 und erstarrte. Er konnte David neben sich nicht mehr wahrnehmen. Alles um ihn herum wirkte surreal. Die Zeit verlangsamte sich.
Im Stream wurde eine sehr junge und bildhübsche Frau gezeigt, die nacheinander von drei nackten massigen Männern in schwarzen Latexmasken vergewaltigt und misshandelt wurde. Dann klickte Peter den 15.03.2019 an. Diesmal war die junge, ebenso hübsche Frau etwas kräftiger. Sofort erkannte Pete dieselben drei Männer in ihren schwarzen Latexmasken. Er schloss unverzüglich das Fenster und klickte zurück, bis er sich wieder im Untermenü ›Streams‹ befand. Pete klickte auf BOYS UP TO 3 YEARS. Als sie die circa sechzig Links mit den Datumsangaben sahen, konnten sie sich trotz ihrer langjährigen Professionalität nicht mehr zurückhalten. Pete schloss die Augen und verkrampfte innerlich. David brüllte und schlug so heftig mit beiden Fäusten auf das Lenkrad das Pete annahm, der Airbag würde gleich zünden. Nach einigen Sekunden beendete er mit dem Home-Button die Tor-App und schaute zu David. David zitterte am ganzen Leib und auch Pete hatte sich nicht unter Kontrolle.
»Ich rufe Decker an.« Petes Stimme klang verzweifelt.
»Decker?«
»Ich bin es, Eve.«
»Was gibts, Pete?«
Er gab ihr ein kurzes Update und die Adresse von Inge Korf. Eve bestätigte und übernahm die Beauftragung der Kriminaltechnik. David startete den Wagen und sie fuhren zu Inge Korfs Wohnung. Auf der restlichen Fahrt wechselten sie kein Wort mehr. Die wenigen Minuten, in denen sie Teile des Contents von HEAVEN betrachtet hatten, veränderten ihr bisheriges Leben für immer.
Gegen zweiundzwanzig Uhr trafen Eve Decker und die Kriminaltechnik an Inge Korfs Adresse ein.