Donnerstag, der 24. Oktober 2019, 06:45 Uhr
Berlin-Tiergarten
LKA 1 - Delikte am Menschen
Pete und David warteten in Eve Deckers Büro auf den Besuch aus Wiesbaden. Sie hatten sich mit extrastarkem Kaffee bewaffnet. David ging auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Pete dagegen saß scheinbar völlig ruhig und gelassen auf einem der bequemen Freischwinger vor Eves großem beeindruckendem Schreibtisch. In seinem Inneren sah es jedoch anders aus. Pete war mindestens genauso aufgeregt wie David. Die Informationen, die sich beide vom BKA erhofften, mussten einfach ein Brett sein.
»Mann, ich bin echt gespannt, was uns das BKA mitteilen wird.«
»Und ich erst!«
Die Aufregung hatte sie vollends in Beschlag genommen. Sie konnten es kaum noch erwarten, Alexander Mier endlich kennenzulernen, um den Grund seines Besuchs zu erfahren.
Die Tür öffnete sich. Eve Decker und ein großer imposanter Mann in Jeans und Lederjacke betraten das Büro. Jeans und Lederjacke? Pete ging davon aus, dass das BKA stets in Anzug oder Kostüm seine Termine wahrnehmen würde. Dieser Alexander Mier war Pete sofort sympathisch.
»Pete, David, das ist Alexander Mier.«
Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln setzten sie sich. Voller Erwartung schauten sie Alexander Mier an, als ob der Osterhase gleich nackt um die Ecke rennen würde.
Alexander Mier erwiderte den Blick. Für einige Sekunden schien die Zeit stillzustehen, dann ergriff er das Wort. »Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. Wir haben die Plattform HEAVEN dieses Jahr im Februar entdeckt.« Sofort wurde er von David unterbrochen.
»Wie habt ihr diese Plattform entdeckt?«
»Noah Schmidt, mein Chef-IT’ler hat eine Bot-Armee, die das Web und das Darknet 24/7 scanned und Besonderheiten autark entdecken kann. Die Bots sind in der Lage, an Chatrunden teilzunehmen und auch mit gleichgesinnten Usern zu diskutieren.«
»Wie funktioniert das?«, wollte Decker wissen.
»Die Bots sind mit einer von Noah geschriebenen künstlichen Intelligenz versehen. Diese KI kann sich den Vorlieben und Interessen der Chatpartner anpassen und somit den passenden Content liefern.«
»Und das fällt dem Chatpartner nicht auf?« Für David klang das bis jetzt wie Kauderwelsch.
»Nein, der Chatpartner denkt, dass er sich mit einem realen Menschen austauscht. Der Bot ist in der Lage, die Sätze nach Schlüsselwörtern zu filtern und dementsprechend Fragen und Antworten zu bilden. Dauert der Chat jedoch länger als zwei Minuten, wird Noah oder ein Teammitglied gewarnt und der Bot wird durch uns persönlich ersetzt.«
»Okay, das habe ich verstanden. Ein x-beliebiger Bot.«
»Kein x-beliebiger!« Jetzt unterbrach Alexander Mier David, der im Begriff war, den Ermittlungserfolg herunterzuspielen.
»Die Bots weisen jeweils ein besonderes Charakteristikum auf. Noah hat den Bots Geschlecht, Alter, Herkunft und Vorlieben verpasst. Jeder Bot fischt somit in seinem Interessentümpel nach den passenden Chatpartnern in diversen legalen und illegalen Foren.«
»Gut, diese speziellen Bots, die für Menschen mit besonderen Vorlieben stehen, suchen autark im Web sowie im Darknet nach Gleichgesinnten, um sie dann kennenzulernen, Vorlieben zu teilen, sich auszutauschen oder demnächst mal gemeinsam einen Kaffee trinken zu gehen?« Wie so oft hatte David seine arrogante Ader am Start. Pete suchte den Blickkontakt, wurde aber von David ignoriert.
»Sie haben den Punkt getroffen, Herr Richter.« Pete verdrehte sich bei Alexander Miers Antwort beinahe den Hals.
»Im ersten Stadium stehen ausschließlich vertrauensbildende Maßnahmen. Kein Chatpartner wird Ihnen Geheimnisse, spezielle Vorlieben oder dunkle Fantasien mitteilen, bevor er sich nicht absolut sicher ist, dass Sie nicht genauso ticken wie er und das geschieht nicht nach ein paar Sätzen. Die Foren, in denen die Bots aktiv sind, findet man im World Wide Web und im Darknet. Auch im World Wide Web sind Hardcore-Foren präsent. Die Grenzen zwischen legal und illegal verschwimmen öfter, als Sie sich vorstellen können und wollen.«
»Entschuldigen Sie, Alexander, aber hier in Berlin befinden wir uns in der ›realen‹ und nicht in der interaktiven Welt. Unsere Aktivitäten im Internet beschränken sich auf Standort-Recherchen, E-Mails checken, mal ein Game zocken, zu Googlen und Essen zu bestellen. Ich bin noch nie aus Versehen oder bewusst auf illegalen Content gestoßen. Als Kriminalbeamter würden mir solche Inhalte garantiert auffallen. In einigen Fällen, wenn wir bei Ermittlungen mit den vorhandenen Beweisen nicht weitergekommen sind, habe ich auch selbst nach Informationen und möglichen Foren gesurft. Jedes Mal, wenn ich einen eventuell passenden Gesprächspartner gefunden hatte und meine erste Frage stellte, wurde ich aus dem Chat gekickt. Wie schaffen es programmierte Bots solch ein Vertrauen aufzubauen? Vor allem aber, wie schaffen es diese Bots glaubwürdig zu sein?«
»Und das, Herr Beska, ist exakt der Ansatz unserer Arbeit in meinem Referat. Was glauben Sie, in welchem Web wir zahlenmäßig häufiger Verhaftungen durchführen?«
»Wenn Sie so fragen, dann wohl im World Wide Web.«
»Korrekt! User, die in Softcore-Foren und Chatrooms aktiv sind, vertrauen meist einer Person, mit der sie einige Tage geschrieben haben. Nach der Bildung eines Vertrauensverhältnisses, welches sich bereits nach wenigen Tagen einstellt, plaudern diese Individuen ihre Fantasien zügig, offen und ungefiltert aus.«
»Das ist aber noch lange nicht illegal! Es sind lediglich Fantasien«, warf Decker ein.
»Natürlich nicht. Wir haben dann aber einen Ansatz und überprüfen die IP des Users. Haben wir die IP-Adresse gefunden, haben wir in den meisten Fällen auch eine Wohnadresse. Der Rest ist dann klassische Ermittlungsarbeit, so wie bei Ihnen in der ›realen‹ Welt. Sie haben vielleicht Glück und die Adresse gehört zu einem Einfamilienhaus. Dann sind die Bewohner schnell und unkompliziert zu überprüfen. Liegen polizeiliche Einträge vor, sind Anzeigen wegen möglichen Belästigungen vorhanden … Bei einer Anfrage vom Bundeskriminalamt spielen die Provider größtenteils auch problemlos mit. Richterliche Beschlüsse werden selten verlangt. Diese Vorgehensweisen kennen Sie aber auch bedingt durch Ihre Tätigkeiten. Verdächtige, die wir so ermitteln, haben sich in den meisten Fällen noch nicht ungesetzlich verhalten, daher beobachten wir sie weiter und das ist unter anderem eine der Aufgaben der Bots.«
»Okay, das habe ich verstanden. Aber …«
»Geduld, Herr Richter. Ich komme gleich zum Punkt. Am 13. Februar dieses Jahres erhielt einer unserer Bots mit dem Namen Hartmut eine persönliche Einladung mittels einer E-Mail.«
»Mittels einer E-Mail? Tauschen diese User ihre E-Mail-Adressen etwa aus?« Das überraschte jetzt auch Pete.
»Korrekt, Herr Beska, mittels einer E-Mail. Der Bot Hartmut ist sechsundsiebzig Jahre alt, praktizierender Christ und er ist pädophil. Hartmut war seit einigen Tagen in diversen Softcore-Foren aktiv und freundete sich mit einem User an. Noah, Sie erinnern sich an ihn, beobachtete den Chatverlauf, konnte jedoch außer den üblichen Fantasien nichts Auffälliges erkennen, bis plötzlich das E-Mailpostfach von Hartmut eine Mail mit einer persönlichen Einladung und einem Link erhielt. Da Sie Frau Korfs Handy bereits in den Händen hatten und den Link selbst geöffnet haben, wissen Sie, wie es ab jetzt weitergeht.«
»Ihr verfolgt HEAVEN seit dem 13. Februar? Was konntet ihr bis jetzt herausfinden?« Eve Decker kam aus der Reserve.
»Bis jetzt wenig oder besser gesagt, nahezu nichts!«, antwortete Alexander Mier mit einem Kopfschütteln. »Zumindest bis gestern. Die erste reelle Spur mit einem eindeutig identifizierten Opfer habt ihr geliefert.«
Pete konnte es zwar nur erahnen, aber auch David und Eve musste es soeben eiskalt den Rücken hinuntergelaufen sein.
»Ich bin hier, um die Taskforce HEAVEN personell aufzustocken. Eve, das BKA möchte mit deinem Dezernat kooperieren. Das hier könnte einer der größten Fälle sein, in dem wir je gegen Aktivitäten im Darknet ermittelt haben. Unsere Partner aus diversen Ländern innerhalb Europas und aus Übersee sind bereits involviert und an Board.« Den beiden Ermittlern stockte der Atem. Sie schauten zu Eve, diese wiederum blickte direkt in Alexander Miers Augen, keine Regung war zu erkennen. Nach einigen Sekunden ergriff sie das Wort.
»Ich nehme an, dass du bereits mit unserer Polizeipräsidentin gesprochen hast?«
»Das habe ich«, antwortete Alexander Mier trocken.
»Und da du mein Dezernat und mich direkt ansprichst, hat sie eine Freigabe bereits erteilt.«
»Auch das ist korrekt.«
»Gut. Pete, David, was meint ihr dazu?« Pete schaute zu David, und der erwiderte den Blick.
»Was bedeutet das für unseren Fall?«
»Es ist und bleibt euer Fall, bis wir eindeutige Verbindungen zu HEAVEN ermittelt haben. Sorry, ich habe mich nicht eindeutig genug ausgedrückt. Sie, Herr Beska, und auch Sie, Herr Richter, erhalten einen Sonderermittlerstatus des Bundeskriminalamtes. Sie haben somit Zugriff auf alle Informationsquellen des Bundes. Auch wird Ihr Etat erhöht und Sie können intern eine eigene Taskforce aufbauen. Eve, das übernimmst bitte du. Dieser Fall genießt allerhöchste Priorität. Wir haben bereits das Ministerium des Innern und das Auswärtige Amt informiert. Die Chefdiplomaten der beteiligten Länder stehen seit Monaten in direktem Kontakt.«
»Wow, das geht jetzt wirklich schnell.« Das verwunderte selbst Pete.
»Über welche Dimension sprechen wir hier? Welche weiteren Länder sind betroffen?«
»Wir gehen davon aus, dass in diesem Netzwerk mehrere Hunderttausend User aktiv sind. Die Website von HEAVEN bietet fünfundzwanzig Sprachen an. Das bedeutet, dass sehr viele Länder involviert sind.«
»Wie viele?« David konnte es nicht fassen, ein Schaudern durchfuhr seinen Körper.
»Sie haben leider richtig gehört, Herr Richter. Mehrere Hunderttausend aktive User. Wie Sie es vielleicht an den Links haben sehen können, stehen dort die erfolgten Aufrufe und Likes. Keines der Videos hat weniger als 200.000 Aufrufe. Die vergebenen Likes sind alle über neunzig Prozent.«
»Gibt es außer dem Fall von Inge Korf noch andere Vorkommnisse in Deutschland oder Europa?« Pete stand kurz davor, vom Jagdfieber komplett aufgefressen zu werden.
»Die gibt es, Herr Beska. Am 31. Dezember 2018 ist in Rheinland-Pfalz ein Einfamilienhaus abgebrannt. Die Flammen haben das Haus völlig vernichtet. Drei Bewohner des Hauses konnte man nur noch tot aus den Trümmern bergen. Es handelte sich um zwei Erwachsene und ein Kind. Die Leichen wurden vor ihrem Tod gefoltert, man hat ihnen die Kiefer und Zähne entfernt. Alle Finger waren abgeschnitten, Blut und Haare sind vom Feuer vollständig zerstört worden. Somit gab es keinerlei Substanz für eine mögliche Identifizierung der Opfer. Nach einem Amtshilfegesuch der rheinland-pfälzischen Kriminalpolizei haben wir sogar einen forensischen Anthropologen hinzugezogen. Ein Gutachten zu dem Alter der Knochenüberreste nach einem solchen Brand, anhand morphologischer Kriterien, war nicht möglich.«
»Aber irgendjemand musste das Haus doch zuvor bewohnt haben? Diese Unterlagen sind in den jeweiligen Bürgerbüros einzusehen!«
»Das ist richtig, Eve. Die Familie, die hier wohnhaft und bekannt war, hatte drei Kinder.«
»Drei Kinder?« Eve Decker unterbrach Alexander Mier.
»Es wurde doch nur ein Kind gefunden?«
»Korrekt, es wurde nur ein Kind tot aufgefunden. Wir wissen leider noch immer nicht, was mit den anderen Kindern geschehen ist. Außerdem lebte auch der Bruder der Frau gemeinsam mit der Familie im Haus. Gefunden wurde aber nur eine männliche Leiche.«
»Könnte er der Täter gewesen sein?«
»Auch das wissen wir nicht. Die gefundenen Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Alle Möglichkeiten mussten in Betracht gezogen werden. War die männliche Leiche der Familienvater oder der Bruder der Frau? War es überhaupt diese zuvor dort lebende Familie? Abermals zum Verständnis. Den Opfern wurden alle Identifikationsmöglichkeiten zu ihrer Person genommen!« Pete musste sich anstrengen, um nicht den Faden zu verlieren. Die Geschehnisse, auf die Alexander Mier immer intensiver einging, prasselten wie ein Bombenhagel auf die drei ein.
»Wie, und vor allem wann haben Sie eine Verbindung zu HEAVEN feststellen können?«
»Wie ich Ihnen bereits mitteilte, haben wir HEAVEN am 13. Februar dieses Jahres entdeckt. HEAVEN sendete seinen ersten Stream bereits am 24. Dezember 2018.«
»Wow! Das klingt aber nicht nach einem Weihnachtsgeschenk!« Für diesen Kommentar erntete David einen bösen Blick seiner Chefin. Eve Decker hasste sarkastische Bemerkungen bei ernsten Themen.
Alexander Mier schenkte Davids Kommentar keinerlei Aufmerksamkeit und fuhr fort.
»Seitdem arbeitet die Taskforce an diesem Fall. Der Tor-Browser macht uns das Leben zwar schwer, mit Noah haben wir jedoch einen Teamleiter, der sein Handwerk versteht. Noah, das Team und die Bots halten sich täglich in den Chats von HEAVEN auf. Einiges konnten wir durch die Chatverläufe herausfinden. Querverbindungen zwischen den Usern, Chatprofile et cetera. … Einen möglichen Administrator, er geht offen mit seiner Stellung in den Chats um, haben wir entdecken können. Er animiert die übrigen User aktiv zu werden, aus ihrer Haut zu gehen. Er stachelt sie dermaßen an, dass augenblicklich alle Hüllen fallen und der jeweilige Chatverlauf eskaliert.«
»Alexander, ich möchte die Frage wiederholen. Wie haben Sie eine Verbindung nach Rheinland-Pfalz herausgefunden?«
»Nachdem wir die E-Mail mit der Einladung und dem Link erhalten hatten, haben wir uns erst einmal nur auf HEAVEN konzentriert. Die E-Mail ging dadurch etwas unter und geriet in Vergessenheit. Noah hat dann irgendwann die E-Mail wieder geöffnet und die IP-Adresse überprüft.«
»Ist es möglich, eine IP-Adresse aus dem Darknet herauszufinden?«
»Aus dem Darknet nicht. Die IP-Adressen, die dort verwendet werden, sind physischen Adressen nicht zuzuordnen. Aber überall dort, wo echte Menschen und nicht nur Bots aktiv sind, werden irgendwann Fehler gemacht. Die IP-Adresse der Einladungsmail kam von einer IP-Adresse mit dem Standort Alzey in Rheinland-Pfalz.«
»Das abgebrannte Haus!«
»Korrekt, Herr Beska. Das abgebrannte Haus! Bis zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nichts über diesen Fall in Alzey. Als wir die Adresse abfragten, meldete sich ein Kriminalhauptkommissar Gerd Lohmüller vom Landeskriminalamt in Mainz. Er erkundigte sich, warum das BKA, vor allem aber das Referat CC 23, Interesse an diesem Fall habe. Er stellte uns daraufhin die gesamte Akte zur Verfügung und unterstützte uns bei unseren Recherchen. Für die Mainzer Kripo war der Tathergang bis zu unserer Anfrage unklar. Nun konnte man jedoch eine Verbindung, respektive ein mögliches Motiv feststellen.«
Eve Decker, die meist nur zuhörte und sich Notizen machte, stand auf, ging zum Whiteboard und notierte in dicker roter Schrift HEAVEN in die Mitte des Boards.
»Danke, Alex. Zum jetzigen Zeitpunkt bearbeiten meine Ermittler zwei Fälle, die wir in direkter Verbindung zueinander sehen.«
»Zwei Fälle?« Alexander Mier riss die Augen auf und fixierte Eve Decker.
»Genau, Alex. Zwei Fälle! Wir vermuten, dass beide Fälle aufgrund der Tötungsart in direkter Verbindung zueinander stehen.« Alexander Mier lauschte interessiert den weiteren Ausführungen seiner langjährigen Freundin. Eve Decker fuhr fort. Sie stellte auf einem Zeitstrahl die gewonnenen Erkenntnisse der beiden Fälle von Berlin mit den Informationen Miers in chronologischer Reihenfolge dar. Beginnend mit dem Datum der ersten Ausstrahlung von HEAVEN vom 24. Dezember 2018, gefolgt vom Brand in Alzey am 31. Dezember 2018. Die Gründung der Taskforce war auf dem Zeitstrahl als Unterstory zu erkennen, ebenso die Miteinbeziehung ihres Dezernates zum heutigen Zeitpunkt. Zwei weitere wichtige Meilensteine bildeten die Berliner Morde, die sie auf dem Zeitstrahl im Monat Oktober aufführte.
»Wir können nicht davon ausgehen, dass die Alzeyer und Berliner Morde in direkter Verbindung mit HEAVEN stehen. Sicher ist nur, dass der Standort Alzey und eines der Berliner Opfer HEAVEN genutzt oder konsumiert haben. Im Suizid-Mord tappen wir außer der Tötungsart noch völlig im Dunklen.«
»Im Suizid-Mord? Eve, bitte, kläre mich auf!«
Eve erläuterte Alexander Mier den Suizid-Mord in allen Details. Dann gab sie ihm die Informationen des Inge-Korf-Mordes und warum sie auf diese vielleicht verfrühte Theorie gekommen seien. Alexander Mier bemerkte die Anspannung, in der sich sein Körper seit der ersten Begegnung mit HEAVEN befand.
»Ich bin kein Freund von vorschnellen Theorien und manchmal legt man sich eine Wunschtheorie auch zurecht, dass hier kann aber kein Zufall sein. Bevor ich meine Abteilung im Bundeskriminalamt übernommen habe, war ich wie Sie Ermittler im Raub- und Morddezernat in Hamburg. Ein Mord war ein Mord. Erschossen, erstochen, ertränkt, erwürgt und was sonst noch alles möglich ist. Ich habe jedoch nie ein Mordopfer vorgefunden, dass mehrere Tötungsmerkmale aufzeigte. Würden wir jetzt hier zusammensitzen und einen Drehbuchautor beraten, wie er einen neuen Thriller mit neuen und nicht abgedroschenen Klischees abdrehen könne, würde mir nicht einmal dann eine solche Tötungsart in den Sinn kommen. Eve, der Suizid-Mord-Tote? Habt ihr unsere Tools für eine mögliche Identifikation bereits genutzt?«
»Ja, Alex. Wir haben die Abdrücke durch das automatische Fingerabdruck- und Identifikationssystem gejagt. Wir haben die Gesichtserkennung und den Lichtbildvergleich probiert. Wir haben auch die DNS-Analyse-Datei durchforstet. Kein Ergebnis. Auch haben wir die Vermisstenkarteien durchforstet. Der Tote war erkennungsdienstlich noch nie auffällig. Vielleicht sollten wir diesen Mord erst einmal nicht priorisieren. Lasst uns lieber den potenziellen Mörder betrachten. Wenn wir davon ausgehen, dass er ein Einzelgänger ist, dann muss er ein Mann sein. Der Tatort des Suizid-Mordes ist nur von einer sehr kräftigen Person zu bewerkstelligen gewesen. Der Mord an Inge Korf, der Krafteinsatz der Strangulation, das gebrochene Genick und der brutale Schnitt durch die Kehle sind für Frauen eher untypisch und physisch bedingt nahezu unmöglich.«
»Oder mehrere Personen waren für die Morde verantwortlich. Denkt an den einen Stream vom 24.12.2018, als die Brünette von der Frau erschossen wurde«, warf David ein.
Eve Decker überlegte kurz und fuhr fort, ohne näher auf den Einwand von David einzugehen. Sie war noch immer sauer auf ihn und das ließ sie ihn offensichtlich auch spüren.
»Drei Tatorte könnten wir dem Fall HEAVEN zuordnen: Alzey, die S-Bahnstrecke und die Gaststätte in Köpenick. Wir verbinden zum jetzigen Zeitpunkt die Tatorte S-Bahnstrecke mit der Gaststätte in Köpenick. Bei Alzey handelt es sich um ein komplett anderes Vorgehen.«
»Da bin ich anderer Meinung!«, meldete sich Alexander Mier zu Wort. »Die Opfer wurden gefoltert und verbrannt. Vielleicht wurden sie während oder nach der Folter bereits ermordet und dann verbrannt! Könnte das nicht auch ein Indiz auf einen Mehrfachmord sein?«
»Bedingt bin ich bei dir. In Alzey diente das Verbrennen der Leichen aber einem anderen Zweck. Gegenfrage: Wie wurden die Opfer noch gleich gefoltert?« Es platzte aus David heraus.
»Ihnen wurden die Finger abgeschnitten. Die Kiefer und Zähne wurden ihnen herausgebrochen!« Pete blickte in Davids Gesicht, sichtlich froh darüber, dass sein Kollege sich endlich wieder im Griff hatte.
»Jackpot, David! Das Verbrennen der Alzeyer Leichen war bewusst gewählt, um die letzten Möglichkeiten einer Identifizierung zu vernichten. Bei den Berliner Morden geschah dies nicht. Inge Korf konnten wir durch ihren Personalausweis identifizieren. Wäre der Suizid-Mord-Tote erkennungsdienstlich aufgeführt, dann wüssten wir auch seinen Namen. Sollten wir alle Morde mit HEAVEN in Verbindung bringen, dann haben wir es mit zwei unterschiedlichen Tätern oder Tätergruppen zu tun.« Mittlerweile nahm die Diskussion Fahrt auf. Pete überlegte, was der nächste sinnvolle Schritt sein könnte.
»Ich glaube, dass wir jetzt alles daransetzen sollten, nein müssen, den Toten auf den Gleisen zu identifizieren.«
Alexander Mier benötigte keine Sekunde, um zu antworten. »Da stimme ich Ihnen zu einhundert Prozent zu. Ich verbinde Sie sofort mit Noah. Er wird mit Ihnen die Datenbanken durchforsten und Sie bei allen erkennungsdienstlichen Maßnahmen unterstützen.«
»Das haben wir bereits getan und schlampig sind wir bei der Suche nicht vorgegangen!« David fühlte sich wie ein Schuljunge, den sein Lehrer gerade zur Nachhilfe verdonnert hatte.
»Ich will auch nicht das Gegenteil behaupten, aber Noah ist ein Künstler auf diesem Gebiet. Er hat den einen oder anderen Trick, der verborgene Dinge schon mehr als nur einmal hervorgebracht hat.«
»Okay, dann lassen wir uns mal überraschen!« Petes leicht sarkastischer Unterton war nicht zu überhören. Diesmal erntete er den bösen Blick seiner Chefin.