Kapitel 23

Sonntag, der 17. März 2019, 10:00 Uhr

Wiesbaden

Bundeskriminalamt – Taskforce HEAVEN

 

Die Taskforce arbeitete ohne Pause. Aufgrund der verstörenden Inhalte von HEAVEN durfte keiner aus dem Team mehr allein die Streams bearbeiten. Zweierteams waren das untere Level. Da HEAVEN seinen Content nahezu wöchentlich erweiterte, musste die Taskforce personell aufgestockt werden. Jeder Stream und jeder Chatverlauf musste gesichtet, gelesen und ausgewertet werden. Auch die Teilnahme an den Chats verschlang Unmengen an menschlichen Ressourcen. Keiner im Team war in der Lage, sich länger als vier Stunden dieser Folter auszusetzen.

Als die Taskforce im Februar 2019 ins Leben gerufen wurde, bestand das Team aus vier Mitgliedern. Jeden Montag um halb acht und jeden Freitag um siebzehn Uhr waren die Besprechungen angesetzt. Montags wurde der Verlauf der anstehenden Woche definiert, freitags wurden die Erkenntnisse der Woche Alexander Mier berichtet. Dieser erkannte bereits nach wenigen Wochen, dass die Taskforce dringend zusätzliches Personal benötigte und dass jeden Morgen ein kurzes Briefing zwingend notwendig war. Die Psyche der Mitarbeiter litt zunehmend, bedingt durch den grausamen Content, den HEAVEN seinen Usern täglich zur Verfügung stellte. HEAVEN war ein profitgesteuertes Unternehmen und das stellte das Netzwerk täglich unter Beweis. Im März 2019 entschied Alexander Mier daraufhin, dass das Bundeskriminalamt einen Psychologen in die Taskforce holen musste. Den Mehrwert sah er nicht nur in der Betreuung der Taskforce, sondern auch in der Analyse der User von HEAVEN.

Alexander Mier musste nicht lange überlegen. Er erinnerte sich an einen Fall aus 2015. Er selbst hatte damals ein kleines Netzwerk pädophiler User im Internet gefunden. Das Besondere war, dass die Mitglieder sich in Chatrooms im World Wide Web offen ausgetauscht hatten. Mier und seine Kollegen – für eine Taskforce waren die Inhalte nicht brisant genug gewesen – hatten die Chats beobachtet, bis ihnen der User Flipp aufgefallen war. Flipp hatte in den Chats von angeblichen Situationen berichtet, die er sich mehr als nur vorstellen könne. Seine Fantasien hatte er offen in den Chats geteilt. Alexander Mier hatte gespürt, dass Flipp kurz davor stand, diese Fantasien in die Tat umzusetzen. Er war sich sicher gewesen, Flipp würde sich auf ein Gespräch einlassen, wenn es jemandem aus dem Team gelänge, sein Vertrauen zu gewinnen. Waffenbrüder erzählten sich stets alles und vertrauten sich blind.

Da im Laufe der Zeit mehrere forensische Psychologen und Kriminalpsychologen regelmäßig das Bundeskriminalamt unterstützten, hatte Alexander Mier in den vergangenen Jahren bereits mit dem einen oder anderen zu tun gehabt. Für ihn kam jedoch nur ein Name infrage: Dr. Klaus Steinacker.

Dr. Steinacker war nicht nur ein ausgezeichneter und einfühlsamer Psychologe, er war bekannt für seine Kenntnisse in der Kriminalpsychologie sowie im Profiling. Warum nicht das eine mit dem anderen verbinden , hatte sich Mier gedacht und Dr. Steinacker rekrutiert.

Flipp war durch das Mitwirken von Dr. Steinacker binnen einer Woche gefasst worden und das, bevor auch nur ein einziges Kind zu Schaden gekommen war. Dr. Steinacker war es in kürzester Zeit gelungen, ein besonderes, ein inniges Vertrauensverhältnis zu Flipp aufzubauen. In den Chats hatten sie sich gegenseitig angestachelt. Sie hatten sich verabredet, gemeinsam einen Jungen zu entführen, um ihre Fantasien endlich ausleben zu können. Kurz vor dem Treffen hatte Flipp Bilder und Adresse des Entführungsopfers mit einer eindeutigen Erläuterung geschickt, wie er sich die geplante Vergewaltigung und Entsorgung des Jungen vorgestellt hatte. Das hatte als Beweis genügt und Alexander Mier hatte den Zugriff angeordnet. Flipp hatte auf einem großen Anwesen im Siegerland gelebt. Der Zugriff hatte durch das Mobile Einsatzkommando des Bundeskriminalamtes penibel geplant werden müssen. Das MEK hatte das Anwesen bereits seit mehreren Tagen observiert und festgestellt, dass Flipp täglich gegen sechs Uhr in der Früh das Anwesen verließ, um golfen zu gehen. Der Zugriff war somit auf den kommenden Tag festgelegt worden und Flipp war zuverlässig pünktlich gewesen. Während des Zugriffs war Flipp, der mit bürgerlichem Namen Justus Wiedemann hieß, so verängstigt gewesen, dass er noch während der Festnahme alles gestanden hatte. Zu allem Übel und zur Belustigung der Kommandobeamten vom MEK hatte er sich während der Festnahme eingenässt.

Bei der Durchsuchung des Anwesens waren die mittlerweile üblichen Mengen an kinderpornografischem Material gefunden worden. Als die Ermittler die Nebengebäude durchsucht hatten, waren sie auf einen versteckten Raum gestoßen, der durch eine Tresortür verschlossen war. Justus Wiedemann war bereits gesprächig gewesen, somit hatte er den Ermittlern ohne den Einsatz spezieller Verhörmethoden den Code für die Tresortür mitgeteilt. Alexander Mier, der die Verhaftung des Täters initiiert hatte, war es zuteilgeworden, die Tür zu öffnen und zuerst den Raum zu betreten. Diesen Anblick konnte er bis heute nicht verdrängen oder gar vergessen.

Der Raum war circa sechzig Quadratmeter groß gewesen und hatte einem Aufnahmestudio mit integriertem Folterraum geglichen. Hightech-Kameras, Profibeleuchtung, Foltergeräte und Sexutensilien aller Art hatten sich in diesem Raum befunden. Mehrere Filmsets waren aufgebaut, ein Schlafzimmer, ein Wohn- und ein Kinderzimmer. Alexander Mier war übel geworden. Welchem Monster hatten sie hier das Handwerk legen können, noch bevor dieses miese Individuum seine Fantasien in die Tat hatte umsetzen können? Die Anzahl der möglichen Opfer hatte Alexander Mier jedoch sofort aus seinem Kopf verdrängt. Er hatte den Raum verlassen, war zu Flipp gegangen, der zwischen den vermummten Beamten vom MEK stand, und hatte ihm mit geballter Faust mitten ins Gesicht geschlagen. Flipps Nase war gebrochen, begleitet von einem lauten Krachen. Ein Schwall frischen Blutes war ihm in den geöffneten Mund gelaufen und er war winselnd zu Boden gegangen.

»Verdammt!«, hatte Mike gesagt, der Truppführer vom MEK. »Da hat er sich wohl leider bei der Festnahme verletzt.«

Die übrigen Jungs vom Kommando hatten gelacht und Flipp wieder hochgezerrt.

Mier kehrte aus seinen Gedanken zurück, als das Klingeln des Telefons verstummte und Dr. Steinackers Sekretärin den Hörer abnahm.

»Praxis Dr. Steinacker?«

»Hier ist Alexander Mier vom Bundeskriminalamt. Können Sie mich bitte mit Herrn Dr. Steinacker verbinden?«

»Hallo, Herr Mier. Ist es wie immer dringend?«

Alexander verstand den Seitenhieb und bestätigte die Dringlichkeit mit einem knappen: »Das ist es!«

»Ich stelle Sie durch. Einen Moment bitte.«

Dr. Steinacker nahm den Anruf sofort entgegen. »Guten Tag, Alexander, wie geht es Ihnen?«

»Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Und Ihnen, Herr Dr. Steinacker?«

»Das ist gut zu hören. Bis jetzt ging es mir gut, aber da Sie anrufen, wird meine Mitarbeit wohl erneut benötigt. Die Fälle, für die Sie mich bis jetzt eingesetzt haben, waren alles andere als gesundheitsfördernd für mich.«

»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich benötige Ihre Hilfe, und diesmal, Herr Dr. Steinacker, übersteigt der Fall alles bisher Dagewesene. Ich gehe von einem Jahrhundertfall aus.«

»Sie machen mich neugierig. Lassen Sie mich meine Arbeit noch beenden. Ich könnte heute Abend gegen neunzehn Uhr bei Ihnen in Wiesbaden sein.«

»Das passt perfekt, Herr Dr. Steinacker. Ich lasse Ihnen noch die Dokumente für die Zutrittserklärung zukommen. Ich hole Sie dann später an der Kontrollstelle des Haussicherungsdienstes ab.«

Sie verabschiedeten sich und Alexander Mier atmete auf. Dr. Steinacker war zum jetzigen Zeitpunkt für eine erfolgreiche Arbeit in und mit der Taskforce zwingend erforderlich.

Alexander Mier zitierte Noah in sein Büro. Kurze Zeit später informierte er ihn über seine Entscheidung. Noah begrüßte diese und forderte weitere Mitarbeiter für die Taskforce an. Er gab das Budget für weitere vier Ermittler frei. Noah machte sich sofort ans Werk, die richtigen Kollegen zu finden.

Alexander Miers Telefon klingelte. »Mier?«

»Hier ist Kurt vom Haussicherungsdienst. Ein Dr. Steinacker wartet darauf, von Ihnen abgeholt zu werden.«

Mier legte auf und ging umgehend zur Kontrollstelle. Dr. Klaus Steinacker war wie immer pünktlich und Alexander Mier fragte sich, wo der Tag schon wieder geblieben war. Auch heute würde er nicht vor dreiundzwanzig Uhr das Büro verlassen. Sie betraten das Großraumbüro und gingen direkt in den Besprechungsraum, wo Noah bereits auf sie wartete.

»Darf ich vorstellen, das ist Noah Schmidt. Er leitet die Taskforce HEAVEN.«

Noah ging auf Dr. Steinacker zu und reichte ihm die Hand.

Alexander Mier fuhr fort: »Danke, dass Sie so schnell kommen konnten. Wir ermitteln in einem neuen Fall, der bis zum heutigen Tag ein ungeahntes Ausmaß angenommen hat. Meine Mitarbeiter, inklusive Noah und mir, kommen an die Grenzen des Machbaren und vor allem des Erträglichen.«

Dr. Klaus Steinacker hörte interessiert und konzentriert zu.

»Herr Schmidt hat am 13. Februar eine Website im Darknet entdeckt, auf der vor laufender Kamera junge Menschen, vor allem jedoch Kinder, gefoltert und sexuell missbraucht werden. In vielen Fällen werden die misshandelten Opfer sogar vor der laufenden Kamera getötet. Die Website arbeitet mit Livestreams und diversen Chatrooms, die alle Perversionen, auch solche, die man sich nie vorstellen möchte, abdeckt. An die User werden fortlaufende Nummern als Alias vergeben. In einem der Chatrooms haben wir User 578.112 gesichtet. Wir haben es hier womöglich mit einem Netzwerk mit weit mehr als 600.000 aktiven Usern zu tun, die sexuellen Missbrauch von Kindern sowie Mord vor laufender Kamera feiern.«

Dr. Steinacker hörte Alexander Miers Ausführung aufmerksam zu und machte sich einige Notizen. »Wie geht es Ihnen und Ihren Mitarbeitern? Wie kommen Sie mit den Geschehnissen zurecht? Konnten Sie bereits einen Ermittlungserfolg erzielen?«

»Das ist unter anderem der Grund, warum ich Sie angerufen habe. So wie jetzt können wir nicht mehr weitermachen. Meine Mitarbeiter stehen kurz vor einem Nervenzusammenbruch, Dr. Steinacker! Das, was wir gefunden haben und diese Inhalte, mit denen sich meine Ermittler tagtäglich beschäftigen müssen, ist mit allem bisher Dagewesenen nicht einmal im Ansatz zu vergleichen. Die Seite hat jetzt nach gerade einmal drei Monaten eine beachtliche Anzahl Streams gespeichert, jederzeit abrufbar, und wöchentlich kommt neuer Content hinzu. Das bedeutet, dass wöchentlich Kinder und Jugendliche entführt, verschleppt und missbraucht werden. Viele überleben das nicht, werden vor laufender Kamera ermordet und wir können nur zusehen. Mein Team besteht zum Teil aus sehr erfahrenen Ermittlern, die bereits vieles gesehen haben. Das hier ist aber ein neues und nie da gewesenes Level der Perversion.«

»Beschäftigen sich die Ermittler mit den Streams und den Chatrooms allein oder in Gruppen?«

»Anfangs dachten wir, dass jeder für sich allein bessere Ergebnisse erzielen könnte. Das haben wir jedoch noch am ersten Tag auf Anraten eines Teammitglieds geändert.«

»Wer aus dem Team war das?«

»Sandy Nöller. Sie ist seit sieben Jahren in meiner Abteilung. Sie müssten sich an Sandy noch erinnern?«

»Natürlich. Sandy Nöller! Bei den Ermittlungen gegen Flipp leistete sie damals schon erstklassige Arbeit. Wer ist sonst noch im Team?«

»Marc Habermehl und Frank Ahrens. Die beiden kennen Sie noch nicht. Marc ist unser jüngster Kollege, aber ein absoluter Crack. Wir haben vor ein paar Jahren gegen ihn ermittelt, konnten ihn aber zur guten Seite der Macht bewegen. Er fühlt sich bei uns sehr wohl. Er erzielt hervorragende Ermittlungsergebnisse. In der Taskforce ist er mittlerweile unverzichtbar. Frank Ahrens ist ein älterer und erfahrener Kollege vom rheinland-pfälzischen SEK. Er wechselte aus Berufung zu uns. Einer seiner letzten Einsätze hatte mit Kinderpornografie zu tun. Danach hat er als Zugriffsbeamter die Reißleine gezogen und sich dem Ermitteln von potenziellen Strippenziehern aus diesem Milieu verschrieben. Frank ist aktuell der Fels in der Brandung. Marc, Sandy und auch Noah lassen sich täglich von ihm beruhigen. Dr. Steinacker, glauben Sie mir, das hier hat eine andere Dimension als alles, was Sie bisher erlebt haben.«

»Für welche Art der Mitarbeit benötigen Sie meine Hilfe, Alexander?«

»Ich benötige Ihre volle Bandbreite. Die Beurteilung der User in den Chats, Profile der auffallenden, besonders aggressiven User und psychologische Unterstützung der Ermittler.«

»Über welchen Zeitaufwand reden wir?«

»So lange, bis wir HEAVEN gesprengt haben!«

Dr. Steinacker griff in seine Ledertasche und holte einen großen Kalender im DIN-A4-Format heraus. Er war in dieser Angelegenheit oldschool. Er arbeitete natürlich mit Computern und hatte neben seinem Smartphone auch ein Tablet. Notizen und Termine trug er jedoch stets in seinen Leuchtturm-Organizer ein. »Zunächst möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir erneut das Vertrauen schenken, um an so einem Fall mitarbeiten zu dürfen. Zeitlich habe ich jedoch ein Problem und ich werde Ihnen noch nicht sofort zusagen können. Wie viel Tage pro Woche werden Sie mich benötigen?«

»Eigentlich die gesamte Woche. Ich nehme aber jeden Tag, der für Sie einzurichten ist.« Alexander Mier konnte seine aufkommende Enttäuschung nicht verbergen.

»Alexander, ich rufe Sie morgen gegen zwölf Uhr an und bespreche mit Ihnen die möglichen Zeiten und die Konditionen.«

Sie verabschiedeten sich, Alexander Mier schaute auf seine Uhr. Na, dann bin ich ja doch noch vor dreiundzwanzig Uhr zu Hause!