Kapitel 24

 

Der Mann parkt seinen Mietwagen und läuft zum Gebäude. Im Gegensatz zu Deutschland stehen auf diesem Gelände unzählige Pick-ups der großen amerikanischen Autohersteller. Dementsprechend groß sind die eingezeichneten Parkeinheiten. Die stark gesicherte Einfahrt zum Gelände konnte er ohne Komplikationen passieren. Seine ID-Kennung wurde von seiner Kontaktperson im Sicherheitsprotokoll der Einrichtung bereits eingestellt. Er geht durch die Eingangstür, sieht seine Kontaktperson und steuert direkt auf sie zu.

»Hey, Kathrin«, sagt er mit einem Lächeln.

»Hey, hey«, antwortet sie ebenso lächelnd.

Sie nehmen sich in den Arm, er gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

»Wie war dein Flug?«

»Ruhig wie immer. Ich habe die Zeit genutzt und konnte sechs Stunden herrlich schlafen. Ich gönne mir nicht viel, aber Businessclass sollte bei einem Atlantikflug schon drin sein.«

»Definitiv!«

»Hat er jetzt Zeit?«

»Noch nicht direkt. Wir sollen schon mal zum Lunch gehen. Er wird sich in wenigen Stunden melden. Hauptsache, wir bleiben in der Nähe.«

Sie setzen sich in die Cafeteria im Gebäude.

»Warum bist du gekommen? Hattest du Heimweh nach deiner alten Wirkungsstätte?«

»Heimweh habe ich immer, Kathrin. Das hier fehlt mir und ihr fehlt mir. Ist das Team noch vollständig?«

»Zum Großteil schon. Nur Homer ist nicht mehr bei uns. Er wurde von einem anderen Dienst abgeworben und befindet sich aktuell in einer sehr heißen und sandigen Region.«

»Homer ist weg? Wahnsinn. Das hätte ich nie gedacht. Erst hier ist er so richtig aufgeblüht. Seine Erfolge waren überdurchschnittlich! War etwa eine Frau im Spiel?«

»Du meinst, so wie bei dir?«

»Ha, ha! Du weißt, dass Jenny meine große Liebe ist. Auch jetzt noch würde ich für sie alles stehen und liegen lassen.«

»Wie geht es ihr und wie geht es Luke?«

»Jenny geht es super und sie sieht nach wie vor atemberaubend aus!«

»Du hörst dich noch genau so an wie vor acht Jahren, als du sie kennengelernt hast. Und Luke?«

»Luke wächst und gedeiht. Er ist ein quirliger Junge, der jeden Tag die komplette Welt erkunden will. Er macht mir Freude und ist mein Ausgleich. Jenny und er – das waren die besten Entscheidungen meines Lebens.«

»Das freut mich so sehr für dich. Ich bin auch nur in einem Punkt egoistisch. Du fehlst mir hier sehr. Deine Position konnten wir bis jetzt auch noch nicht ersetzen. Warum packst du nicht deine Familie ein und kommst zurück? Das ist auch seine Meinung!«

Der Mann lehnt sich zurück und überlegt kurz. »Kathrin, wie eben bereits gesagt, vermisse ich das hier und euch sehr. Jenny ist aber Deutsche und ihre gesamte Familie lebt in Deutschland. Ich habe keine Angehörigen mehr, außerdem ist unsere Außenstelle auch kein so schlechter Platz zum Leben und Arbeiten.«

»Wenigstens bist du noch aktiv und so, wie ich es durch ihn mitbekomme, noch immer hocheffizient! Alles Weitere wird sich in den nächsten Jahren ohnehin ergeben. So war das schon immer.« Just in dem Moment klingelt Kathrins Handy. »Alles klar«, antwortet sie trocken. »Er hat jetzt Zeit!«

Sie verlassen die Cafeteria und gehen zu den Aufzügen. Kathrin drückt auf den 6. Stock und der Aufzug setzt sich geräuschlos in Bewegung. Oben angekommen, verlassen sie den Aufzug. Sie steuern auf das Eckbüro zu. Kathrin klopft dreimal und eine weibliche Stimme bittet sie hereinzukommen.

»Hallo, Margret.«

»Hallo, Kathrin, bitte geht direkt zu ihm. Er erwartet euch.« Margret begrüßt den Mann mit einem Kopfnicken. Trotz Ehrfurcht kann sie eine gewisse Skepsis nicht völlig unterdrücken.

»Hallo, Sir.«

»Hallo, Kathrin.«

»Sir.« Der Mann hält seine Begrüßung bewusst kurz.

Er erwidert den Gruß des Mannes genauso so kurz und kühl, jedoch nur mit einem Nicken. Der Wunsch des Mannes, die Außenstelle in Deutschland zu leiten, missfällt ihm noch immer. Hier in den Vereinigten Staaten war er sein bester und zuverlässigster Mann. Warum musste er unbedingt diese Deutsche kennenlernen und dann auch noch das Land verlassen? Er versteht diese Entscheidung bis zum heutigen Tage nicht. »Was kann ich für dich tun?«

»Sir, können wir das bitte unter vier Augen besprechen?«

Für diesen Satz erntet der Mann den bösesten Blick, den Kathrin jeher zutage bringen konnte.

»Natürlich. Kathrin, bitte warten Sie bei Margret.«

Kathrin verlässt widerwillig und laut fluchend das Büro.

»Um was geht es?«

»Sir, ich bin in Deutschland auf etwas gestoßen, das mit meiner regulären Arbeit nichts zu tun hat, aber es lässt mich nicht mehr los und ich bin bereits aktiv geworden.«

»Ich weiß, was in deinem Jargon ›aktiv werden‹ bedeutet! Kläre mich bitte auf.«

»Laut meinem Protokoll scanne ich in regelmäßigen Abständen die Unternehmungen der deutschen Polizei, des Bundeskriminalamtes, des Bundesnachrichtendienstes und des militärischen Abschirmdienstes.«

»Das gehört zu deinen Aufgaben! Fahr fort.«

»Ein Direktor der Abteilung Cybercrime im Bundeskriminalamt hat im Februar das FBI kontaktiert und Assistent Director Warren Baugh in eine laufende Ermittlung mit einbezogen.«

»Das FBI? Wieso?«

»Dieser Mitarbeiter leitet die Abteilung für Cybercrime im BKA. Sie haben einen Pädophilen-Ring im Darknet ausfindig gemacht. Ein weltweit agierendes Netzwerk, das auch hier in den USA sehr aktiv zu sein scheint.«

»So wie ich es zum jetzigen Zeitpunkt beurteilen kann, haben sich alle Beteiligten an die geltenden Dienstvorschriften gehalten. Weshalb bist du also wirklich hier und warum bist du bereits aktiv geworden, ohne meine Befehle abzuwarten?«

»Sir, bitte haben Sie noch Geduld! Dieses Netzwerk ist neu. So etwas hat es noch nicht gegeben. Ursprung ist eine Website, die Livestreams zeigt und diverse Chatrooms zur Verfügung stellt. In den Livestreams werden Jugendliche, vor allem aber Kinder sexuell missbraucht. Einige der Jugendlichen und Kinder werden außerdem vor laufender Kamera ermordet.«

»Wie bitte?« Er legt seine Stirn in Falten und seine Stimme wechselt in eine bedrohliche Tonlage. »Hast du etwa dem BKA unsere Hilfe angeboten?«

»Sir, nein, Sir!« Da war es wieder. Ihm gegenüber verfiel der Mann stets in alte Gepflogenheiten.

»Die Ausbildung ist lange vorbei! Rühren, Soldat.« Trotz der ernsten Situation muss er schmunzeln.

»Entschuldigen Sie, Sir.«

»Junge, du brauchst dich nicht zu entschuldigen! Fahre fort.«

»Sir, ich bin mir dessen bewusst, dass das nicht zu meinen Aufgaben gehört. Ich musste mir jedoch diese Website anschauen, was ich auch getan habe. Ich habe nach fünf Minuten eine Entscheidung getroffen und bin, wie bereits erwähnt, aktiv geworden.«

»Junge, ich habe dich ausgebildet. Ich habe dich in die exotischsten Länder entsandt, habe dir die heikelsten Aufgaben und Missionen übertragen. Ich weiß, was es bedeutet, wenn du sagst, du seist aktiv geworden! Wie viele?«

»Sir, bis jetzt zwei. Ein Mann und eine Frau.«

»Und wie? Nein, ich will es nicht wissen. Wieso hast du diese Entscheidung getroffen?«

»Sir, ich musste es tun! Diese Website foltert und ermordet Kinder. Kinder werden sexuell missbraucht und das alles vor laufender Kamera! Was hätten Sie getan?«

»Was ich getan hätte, steht hier nicht zur Debatte! Wie bist du vorgegangen? Hast du Spuren hinterlassen?«

»Nein, Sir, das habe ich natürlich nicht! Ich habe mich strikt an das gehalten, was Sie mir beigebracht haben. Es existieren keine Spuren. Aber es existiert ein Schema. Und das ist wichtig, da es den deutschen Ermittlern eine Spur zu den Betreibern des Netzwerkes aufzeigen wird.«

»Und deswegen bist du hier?«

»Ja, Sir!«

Er erkennt das lodernde Feuer in den Augen des Mannes. »In meiner Laufbahn habe ich viele Männer ausgebildet. Viele gute Männer, die meinen Ansprüchen zu diesem Zeitpunkt meist nicht gerecht wurden. Dann bist du vor mir gestanden. Ein junger, großer und intelligenter Mann. Ich wollte dich brechen, denn deine Person, deine Erscheinung verlangte das einfach. Das, was mir am meisten an dir imponiert hatte, war dein Feuer. Du branntest immer für das, was ich dir beibringen wollte und konnte. Egal, wie oft ich dich verletzen musste und auch wollte, du warst sofort wieder auf den Beinen, denn du hast es nicht zugelassen, verletzt zu werden. Ich wollte dich brechen. Fehlanzeige! Ich wollte dich rausschmeißen. Fehlanzeige! Ich wollte dich vernichten. Fehlanzeige! Irgendwann musste ich feststellen, dass du einer besonderen Spezies angehören musstest. Ich hasste dich dafür, dass du unzerstörbar warst. Irgendwann begriff ich es jedoch. Ich hatte meinen Jahrhundertsoldaten gefunden. Leider eine Sekunde zu spät, denn du hattest mir während dieses Gedankens meine Nase und mein Jochbein gebrochen. Von dem Schnitt quer über meinen Nasenrücken möchte ich erst gar nicht anfangen!« Eine große gezackte Narbe verläuft quer über seinen Nasenrücken und endet am rechten Jochbein.

»Sir, ich erinnere mich. Sie waren abgelenkt und ich habe die Chance ergriffen und die Situation genutzt. Gern geschehen.« Der Mann muss lachen.

»Was benötigst du?«

Der Mann gibt ihm die URL der Website und die Ghost-IP-Adresse von User 0001. Außerdem übergibt er ihm sein gesamtes Dossier der User, die sich proaktiv, auffällig und besonders gewaltorientiert in den Chats zeigten. »Ich brauche das komplette Programm. Ich muss wissen, wer die Personen sind, welche Namen hinter den Profilen stecken und vor allem, wo die Aktionen stattfinden. Beteiligte, Adressen, Konten. Das Bundeskriminalamt wird auch ohne meine Hilfe das Netzwerk sprengen, dennoch werden die Verantwortlichen laut deutschem Recht lediglich in einer Einzelzelle lächerliche zehn bis fünfzehn Jahre absitzen. Eventuell werden noch ein paar Jahre Sicherungsverwahrung angehängt, aber das war es dann. Sir, wie geht es Ihren Enkelkindern?« Der Mann stellt ihm diese Frage bewusst, denn darum geht es ihm und nur darum. Die Kinder!

Er fasst sich an seine Stirn und ein leichter Anflug von Hass kommt in ihm auf. »Ich habe dich verstanden. Wir treffen uns morgen wieder hier. Verstanden, Soldat?«

»Sir, ja, Sir!«

Der Mann verabschiedet sich und verlässt das Büro.

Kathrin empfängt ihn mit einem eisigen Blick. »Alles geklärt?«

»Alles geklärt!«

»Was sollte das eben?«

»Es musste sein.«

»Gehst du mit mir später essen?«

»Natürlich!«

»Okay, dann verzeihe ich dir.«

Der Mann verlässt sein Hotel und steigt in den Mietwagen. Der letzte Abend mit Kathrin war wunderbar und er sehnt sich nach der alten Zeit. Gestern Abend waren sie in einem klassischen American Diner zum Dinner verabredet und natürlich musste er seinen Lieblingsburger essen. In Deutschland bekam man mittlerweile auch ganz passable Burger, aber mit einem Smash Burger aus US-Beef und diesen Buns, die es nur in den Staaten gibt, war nichts zu vergleichen. Diese dünnen, platt gedrückten Beefpatties, die kross gebraten, aber dennoch ultrasaftig sind, waren unschlagbar. Doppelt Käse und doppelt Bacon und fertig ist der Burger. Salat und Tomate passten für ihn nicht auf diesen Burger. Außerdem hielt er diese Zutaten für überbewertet. Als Side hatte er Chili Cheese Fries und einen Pitcher eiskaltes Sam Adams. Warum wurden in deutschen Bars und Restaurants die Gläser nicht auch geeist? Mit jedem Biss und jedem Schluck vermisste er sein Heimatland mehr . Warum bin ich nur nach Deutschland gezogen , dachte er sich und in seinen Gedanken stand auf einmal Jenny vor ihm. Genau deswegen hast du das getan. Er lächelt und Kathrin prostet ihm zu.

»Dir schmeckt es!«

»Und das ist noch stark untertrieben!«, antwortet er und beißt erneut herzhaft in den Burger.

»Wie ist es in Deutschland? Findest du dich gut zurecht?«

»Die ersten Jahre waren schwer für mich, aber mittlerweile habe ich mich eingelebt. Ohne Jenny und Luke müsste ich aber keine Sekunde überlegen, um wieder nach Hause zu kommen.«

»Du weißt, dass du immer zurückkommen kannst. Das wird er dir auch gesagt haben. Hat er?«

»Er hat!«

»Was wolltest du von ihm?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Nur so viel, dass es mit meiner Arbeit in Deutschland zu tun hat und es nur in einem persönlichen Gespräch zu klären war.«

»Manchmal hasse ich unseren Job, weil er immer mit diesen fucking Geheimnissen zu tun hat.« Sie lacht und dreht ihren Kopf leicht zur Seite, sodass er ihren Hals und ihre Kontur sehen kann. Sie ist noch immer in ihn verliebt und hat nicht verstanden, dass er Jenny ihr vorgezogen hat.

Dem Mann fällt die Geste auf, aber er reagiert nicht. Er mag seine ehemalige Kollegin aufrichtig, aber er liebt Jenny noch so wie am ersten Tag. Er schenkt Kathrin ein Lächeln und widmet sich wieder seinem Burger.

Im Gebäude angekommen, nimmt er den Fahrstuhl und drückt die 6. Etage. Als Margret ihn erblickt, winkt sie ihn direkt durch. Der Mann klopft an der Bürotür.

»Herein.«

»Guten Morgen, Sir.«

»Guten Morgen, was hast du mir da gegeben?«

»Ich weiß, Sir, das ist das Schlimmste, das ich je sehen musste.«

»Du weißt, dass das nicht unser Verantwortungsbereich ist. Hierzu fehlt uns jegliche Genehmigung.«

»Wann haben wir uns je an Genehmigungen oder Verantwortungsbereiche gehalten? Hier geht es außerdem nicht um ein Politikum oder darum, ein bilaterales Abkommen zu gefährden.«

»Und genau aus diesen Gründen ist das nichts, was uns anzugehen hat. Hast du vergessen, was unsere Kerninhalte sind? Wir sind dieses Politikum und wir lenken und leiten die bilateralen Abkommen. Wir halten die Welt im Gleichgewicht!«

»Genau, Sir. Wir halten die Welt im Gleichgewicht und das tun wir seit Jahrzehnten sehr erfolgreich. Wer aber hält das Leben unserer Kinder im Gleichgewicht? Ein Leben, das sich nie um Furcht drehen sollte? Sich unbekümmert mit Freunden treffen können, mal in den Wald zum Spielen gehen. Nicht jeden Fremden gleich als böse ansehen zu müssen. Unbekümmert im Internet zu surfen, ohne auf diese pädophilen Schweine zu treffen, die sich als Gleichaltrige ausgeben, um so das Vertrauen unserer Kinder zu gewinnen.«

»Das ist etwas anderes, denn …«

Der Mann unterbricht ihn abrupt.

»Sir, bei allem Respekt. Das ist nichts anderes. Die Großmächte sind seit Langem ausgeglichen. Zumindest sind unsere aktiven Einsätze auf eine homöopathische Zahl zurückgegangen. Wie verhalten wir uns weiterhin in den Krisenregionen? Kleine Länder, die von größeren Mächten infiltriert werden? Wir beraten und unterstützen sie. Wir stärken sie, um ein vielleicht ausgeglichenes Machtverhältnis wiederherstellen zu können. Und wenn solche Maßnahmen nicht erfolgreich sind, dann werden wir selbst aktiv. Mein Team und ich, wir sind aktiv geworden, um Dinge zu beschleunigen, um für wichtige Gespräche zwischen den Parteien entscheidende Triggerpunkte zu finden, sodass diese eingesetzt werden konnten. Wir sind diejenigen, die die Dinge im Gleichgewicht halten, und das sind wir auch unseren Kindern schuldig!«

»Das ist aber die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden und nicht die unsere.«

»In der Theorie ist das vielleicht so, nicht jedoch in der Praxis. Wann kommen die Strafverfolgungsbehörden zum Einsatz? Meist erst dann, wenn mal wieder etwas passiert ist.«

»Du weißt, dass das so nicht korrekt ist. Das FBI hat mit seiner Cybercrime-Abteilung und den Spezialisten bereits große Erfolge in der Prävention erzielen können. Viele Gefährder wurden aus dem Verkehr gezogen, noch bevor schlimme Dinge passieren konnten. Das Bundeskriminalamt in Deutschland und auch Europol arbeiten eng mit dem FBI zusammen und leisten hervorragende Arbeit auf diesem Gebiet. Ich erhalte regelmäßig Berichte und Informationen über die US-europäische Zusammenarbeit in diesem Sektor.«

»Sir, ich weiß das und ich kenne die Arbeit, speziell die vom BKA. Und diese Berichte, über die Sie hier sprechen, verfasse meist ich selbst. Haben Sie vergessen, was meine Tätigkeit in Deutschland ist?«

»Natürlich nicht!« Er wirkt sichtlich erbost.

»Sir, das BKA leistet in der Tat exzellente Arbeit und 2015 ist ihnen ein vielleicht wirklich dicker Fisch ins Netz gegangen. Opfer gab es zum Zeitpunkt der Festnahme nicht. Erinnern Sie sich noch?«

»Das tue ich.« Er senkt leicht seinen Kopf.

»Das gesamte Anwesen des Verdächtigen war dazu vorbereitet, eine Werkstatt des Grauens zu werden. Man hat komplett vorbereitete Filmsets gefunden, einen Wohntrakt mit kerkerähnlichen Zimmern und wissen Sie, was aus dem Hauptverdächtigen geworden ist? Welche Strafe er von der Deutschen Justiz erhalten hat? Sieben Jahre Gefängnis. Drei Jahre von der Strafe wurden zur Bewährung ausgesetzt. Er besaß keine Vorstrafen und er war ein exzellenter Gefangener, der an vielen psychologischen Studien freiwillig teilgenommen hat. Er konnte das Gefängnis vorzeitig als geläuterter Straftäter verlassen. Die Expertenkommission, bestehend aus Psychologen und Sozialhelfern, attestierten ihm, dass er vollständig resozialisiert sei und die verbleibenden fünf Jahre der Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden sollten. Die Bewährungskommission griff diesen Vorschlag wohlwollend auf und beendete seine Haftstrafe.«

»Also haben die Maßnahmen gegriffen und ein potenzieller Täter konnte geheilt werden.«

»Sir! Justus Wiedemann ist nach seiner Freilassung untergetaucht. Bis heute hat man nichts mehr von ihm gehört.«

»Das hat nichts zu heißen.«

»Sir, mir geht es darum, dass das, was ich Ihnen gestern gezeigt habe, ein neues Ausmaß expliziter Gewaltdarstellung und ausgeübter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen darstellt. Die Strafverfolgungsbehörden sind maßlos überfordert. Der Gegner HEAVEN ist den Cybercrime-Abteilungen weit überlegen. Seine IT-Profis sind professionelle Hacker, die sonst unser Militär und die Regierung täglich angreifen und unsere Systeme infiltrieren. Die Cybercrime-Abteilungen, auch die des FBI, kämpfen auf einem anderen Level. HEAVEN ist im Darknet eine Großmacht. Das ist keine normale Website, auf der kinderpornografische Bildchen geteilt und Amateurfilme aus dem elterlichen Schlafzimmer gezeigt werden. In HEAVEN steckt sehr viel Geld und es arbeitet wie ein Konzern. Es verschluckt kleinere Seiten oder macht sie obsolet. Die Zuwächse aktiver User auf HEAVEN sind überproportional und die aktuellen Umsätze haben bereits nach wenigen Monaten die zwanzig Millionen Euro Marke geknackt. HEAVEN arbeitet wie eines der großen Filmstudios oder wie die kommerziellen Streaming-Plattformen, mit dem Unterschied, dass die Zielgruppe der Konsumenten klar definiert ist. Es existieren ein Hauptgenre und diverse Ableger. Die interaktiven Chats, die sich an den Kategorien der Livestreams orientieren, machen das Ganze interaktiv. Um es auf den Punkt zu bringen: HEAVEN ist eine interaktive Spielwiese für Ausgeburten der Hölle, denen der übliche Austausch und Konsum von kinderpornografischem Material schon seit Langem nicht mehr ausreicht. Dieser Markt will es und HEAVEN liefert es.«

»Nachdem du gestern gegangen bist, haben Jim und ich uns die Website von HEAVEN angeschaut. Ich kann es nicht in Worte fassen, welch Ekel und Verachtung wir in diesem Moment gefühlt haben. Die Livestreams haben wir bewusst ausgelassen, wir haben versucht, uns ältere Streams mit den höchsten Views und Bewertungen anzuschauen. Vergeblich! Das kann sich ein normaler Mensch nicht ansehen. Die angelesenen Chats waren nicht minder grausam und niederträchtig. Schon die unterschiedlichen Kategorien bestätigten das, was du mir gestern berichtet hast. Als ich dir vorhin sagte, dass das hier nicht zu unserem Verantwortungsbereich gehört, habe ich als dein Vorgesetzter gesprochen. Nach Dienstschluss bin ich zu meiner Tochter gefahren, um mit meinem Enkelchen zu spielen. Ich nahm den kleinen Engel in meine Arme und mir liefen die Tränen wie Sturzbäche aus den Augen. Meine Tochter schaute mich daraufhin groß an. Sie fragte mich, ob mir mein Arzt eine schwere Krankheit diagnostiziert hätte. Ich habe noch nie zuvor geweint. Nicht einmal, als meine Tochter geboren wurde oder als ich Großvater geworden bin. Als dein langjähriger Freund, Kampfgefährte und Chief sage ich dir, nein ich befehle dir: Finde sie und führe ihnen ihre gerechte Strafe zu. Lass die Strafe hart ausfallen. Setze das ein, was ich dir beigebracht habe, und verstecke es nicht mehr.«

Der Mann hat mit vielem gerechnet, aber mit solch einer Entscheidung nicht. »Sir, wie meinen Sie das?«

»Junge, bist du etwa auf den Kopf gefallen? Verstecke das Motiv nicht mehr, lass die Tötungen dieser widerlichen Bastarde der Presse zukommen. Lass Angst und Schrecken über sie hereinbrechen. Keiner dieser pädophilen Bastarde soll sich mehr sicher fühlen oder denken, dass ein paar Jahre Knast ausreichen könnten.«

»Sir, das geht weit über das hinaus, was ich in der Lage bin, allein durchführen zu können!«

»Dann hättest du nicht zu mir kommen dürfen. Du hattest unsere Vorgehensweisen angesprochen, wie wir üblicherweise mit Situationen umgehen, um politische Konflikte paramilitärisch zu regeln. Unser Motto war und ist auch heute noch, dass wir unsere Gegner aufspüren und exekutieren. Keine Gefangenen, auch wenn das heutige politische Geschehen eine derartige Vorgehensweise ablehnt. Hat uns das je interessiert? Hat das unsere politische Führung interessiert, solange sie aus der Verantwortlichkeit raus war und man Anschläge durch Contras nicht auf uns zurückführen konnte?«

»Nein, Sir. Wir konnten unsere Operationen immer ergebnisorientiert und unabhängig durchführen.«

»Und das Ziel? Wie lautete stets dein Ziel?«

»Die Exekution der Zielperson!«

»Ich bin gestern mit diesem Bild in meinem Kopf eingeschlafen und ich hatte einen ungewöhnlichen Traum. Als ich heute Morgen wieder aufwachte, waren meine Gedanken glasklar und fokussiert.«

Er erhebt sich aus seinem schweren Ledersessel. Er nimmt die eindeutige militärische Haltungsform an, die weltweit jeder Kommandosoldat kennt.

»Major: Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, die Betreiber von HEAVEN zu finden und zu exekutieren. Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, die entführten Kinder zu finden, sie zu befreien und den deutschen Behörden zu übergeben. Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, User 0001 zu finden, zu foltern und ihn als Warnung den Behörden lebend zu übergeben. Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, die im Dossier genannten User ausfindig zu machen und sie zu exekutieren. Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, die Exekutionen zu dokumentieren, sie zu filmen und Fotos zu machen und sie unter den übrigen Usern zu veröffentlichen. Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, die Presse über jede Exekution zu informieren und ihr die Aufnahmen und Bilder zukommen zu lassen, auch der bereits erfolgten Exekutionen. Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, bei Ihrer eventuellen Festnahme, sich sofort und ohne Widerstand den Ermittlungsbehörden zu ergeben. In diesem Fall werden wir Sie rausholen. Wir werden die Ermittlungen von BKA, Europol und FBI ab sofort und intensiv überwachen und Sie regelmäßig informieren. Wir richten Ihnen ein anonymes Konto ein und versorgen Sie mit ausreichend Liquidität. Von Ihren derzeitigen Aufgaben, mit denen Sie aktuell in Deutschland beauftragt sind, werden Sie mit sofortiger Wirkung entbunden. Sie werden den Umzug Ihrer gesamten Familie in die Staaten vorbereiten. Wir werden Ihnen und Ihrer Familie ein Anwesen in einem Bundesstaat Ihrer Wahl suchen und für Ihre Familie alles Notwendige vorbereiten.«

Der Mann schaut ihn an und legt seine Stirn in Falten.

»Haben Sie das verstanden, Major?«

»Ich denke schon, Sir.«

»Major, haben Sie meine Befehle verstanden?«

Die wenigen Sekunden, die ihm für die Beantwortung der Frage bleiben, kommen ihm unwirklich lange vor. Er überlegt, was er angerichtet hat, als er seinem Chief die Informationen übergeben hat. Ob es die richtige Entscheidung war. Er schließt die Augen, ein Zucken durchfährt seinen Körper, als die Bilder von HEAVEN in ihm aufkommen. Die misshandelten kleinen Körper, die Augen der Kinder, als sie in die Kamera flehten. Die nackten massigen Männer in ihren Latexmasken. Und er denkt an Jenny und Luke.

»Sir, ja, Sir! Ich habe Ihre Befehle verstanden und ich werde sie ausführen. Stellen Sie sich aber darauf ein, dass die Ausführung Ihrer Befehle ein anderes Ausmaß haben wird, als Sie es zum jetzigen Zeitpunkt erwarten.«

»Dessen bin ich mir bewusst. In diesem Fall werden wir nicht online kommunizieren. Jim entwickelt derzeit ein investigatives und verschlüsseltes Kommunikationstool. Wir werden uns in den kommenden Tagen über Mittelsmänner direkt mit dir in Verbindung setzen. Die Personen sind dir bereits bekannt.« Er übergibt dem Mann ein Kuvert. »Hier findest du alles, was du zum jetzigen Zeitpunkt benötigst, um die Operation durchführen zu können. HEAVEN, heißt unser Feind. Somit sind wir HELL und du wirst der Sensenmann für diese Bastarde sein.«