Kapitel 29

Freitag, der 25. Oktober 2019, 12:00 Uhr

Berlin, Tiergarten

LKA 1 – Delikte am Menschen

 

»Sie sind mit dem LKA 1 in Berlin verbunden. Was kann ich für Sie tun?« Die Stimme der Dame am Telefon klang freundlich und vor allem zuvorkommend. Das überraschte Peter Becker. Die Zusammenkünfte mit der Berliner Polizei liefen bei Berichterstattungen normalerweise in einem anderen Ton ab.

»Mein Name ist Peter Becker. Können Sie mich bitte mit Herrn Beska oder Herrn Richter verbinden?«

»Einen Moment bitte.« Er wurde in die Warteschleife gestellt. Nach einige Sekunden meldete sich eine Stimme. »Beska?«

»Guten Tag, Herr Beska, mein Name ist Peter Becker von der BAZ. Ich …«

Pete unterbrach ihn direkt.

»Herr Becker, wir haben aktuell nichts, was die Presse interessieren könnte. Außerdem sollten Sie sich mit unserer Presseabteilung in Verbindung setzen, wenn Sie irgendwelche Informationen wollen.«

Und da war es wieder! Diese außerordentliche Nettigkeit gestresster arroganter Beamter, die stets dachten, dass die Presse ihnen nur Unannehmlichkeiten bereiten wollte.

»Das mag sein«, erwiderte Peter Becker, »aber vielleicht habe ich etwas für Sie.«

»Okay, dann schießen Sie mal los.«

Pete wirkte nicht nur so, er war gelangweilt. Er hatte diese Anrufe der Presse so satt. Es gab eine bestimmte Vorgehensweise, die die Presse einzuhalten hatte, und war es denn so schwer, die Presseabteilung anzurufen?

»Verzeihen Sie, Herr Beska, aber das möchte ich nicht am Telefon besprechen. Kommen Sie bitte zu uns in die Redaktion. Und bevor Sie nachfragen: ja, es lohnt sich. Können Sie bitte direkt losfahren?«

Pete hielt das Mikro seines Handys zu und schaute zu David. »Müssen wir irgendwo hin? Jetzt?«

»Es ist nichts geplant. Die Jungs vom BKA kommen erst morgen.«

»Okay, Herr Becker, wir machen uns gleich auf den Weg. Wie lautet die Adresse? Herr Becker!« Petes Stimme wurde schärfer. »Es sollte sich lohnen!« Peter Becker diktierte Pete die Adresse und legte auf.

»Was war das denn?« Davids Neugier war geweckt.

»Keine Ahnung. Wir sollen in die Redaktion der Berliner Allgemeinen Zeitung kommen, um uns irgendetwas anzuschauen.«

»Warum kommen die dann nicht zu uns?«

»Vielleicht um die Spannung zu erhöhen.« Pete musste schmunzeln. »Na, dann mal los.«

Peter Becker verließ seinen Arbeitsplatz und steuerte das Büro von Christoph Weigl an, seinem Chefredakteur. Christoph Weigl hatte in der Mitte der Redaktion ein verglastes Büro, somit konnte er stets seine Mitarbeiter sehen und besondere Situationen und Gefühlsausbrüche, hervorgerufen von außergewöhnlichen News, direkt erfassen. Eine Ausnahme bildete Peter Becker. Er hatte bei seiner Anstellung ein eigenes Büro verlangt. Großraumbüros hasste er zutiefst und aufgrund seiner besonderen Leistungen gestand ihm Christoph Weigl dies auch zu.

Peter Becker betrat Weigls Büro ohne zu klopfen.

»Chris, in circa dreißig Minuten wird die Polizei kommen.«

Christoph Weigl schaute ihn verdutzt an. »Wer kommt?«

»Die Kriminalpolizei. Ich habe Sie angerufen und her zitiert.«

»Wieso? Haben wir ein Problem, das du nicht mit mir vorab besprechen konntest oder wolltest?« Christoph Weigl klang leicht verärgert.

»Das ging nicht. Ich habe eine E-Mail erhalten. Der Inhalt dieser Mail ist sehr verstörend und verlangt ein ganz klares Einbeziehen der Kriminalpolizei.«

»Zeig mir die E-Mail«, forderte ihn sein Chefredakteur auf.

»Ich werde dir die Mail zusammen mit der Polizei zeigen und bitte vertraue mir. Das ist besser so!«

Einige Sekunden lang herrschte Totenstille. Christoph Weigl fixierte Peter Becker wie ein Puma seine nichts ahnende Beute. Plötzlich entspannte er sich, schüttelte seinen Kopf, um ihn von den aufkommenden Gedanken zu befreien. »Okay, ich vertraue dir. Dann lass bitte den Konferenzraum vorbereiten und rufe mich, wenn die Polizei hier ist.« Christoph Weigl war verärgert, aber er vertraute Peter wirklich. Noch nie hatte Peter Becker seinen Chefredakteur enttäuscht. Warum also gerade jetzt?

Als Pete und David die Redaktion betraten, eine hübsche junge Dame am Empfang geleitete sie in die 4. Etage, wurden sie direkt von Peter Becker begrüßt. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Bitte folgen Sie mir. Im Konferenzraum wartet bereits mein Chefredakteur Christoph Weigl.«

Nach der obligatorischen Begrüßung bat Peter Becker die Ermittler, Platz zu nehmen und ergriff das Wort. »Ich habe heute Morgen eine E-Mail erhalten. Ich habe Sie direkt angerufen, nachdem ich diese Mail gelesen hatte. Auch habe ich Herrn Weigl, meinen Chefredakteur, noch nicht über den Inhalt dieser E-Mail informiert. Der Verfasser hat bewusst mich angeschrieben und er will mich auch weiterhin mit Informationen versorgen. Hierzu aber später mehr. Herr Beska, Herr Richter, ich erwarte, dass Sie und wir zusammenarbeiten! Ich bin an einer seriösen Berichterstattung interessiert, denn das ist unser Motto bei der Berliner Allgemeinen Zeitung.« Peter Becker schaute in zwei zum Teil gelangweilte Augenpaare.

»Lassen Sie uns erst einmal diese E-Mail lesen.« Pete konnte es partout nicht leiden, wenn man sie zu einer Kooperation nicht nur aufforderte, sondern diese sogar einforderte.

Peter Becker öffnete die E-Mail. Pete, David und Christoph Weigl lasen den Inhalt konzentriert.

»Ach du meine Fresse!« David war der Erste, der eine Gefühlsregung zeigte. Er sah zu Pete. Pete war regungslos.

»Herr Becker, bitte öffnen Sie die Anhänge«, forderte Pete ihn auf. Peter Becker tat dies sofort.

»Das … das sind die Obduktionsberichte unserer Opfer!« Pete stammelte, versuchte aber professionell zu wirken. »Woher hat er diese Unterlagen? Herr Becker, Sie dürfen das hier nicht behalten oder benutzen. Hierbei handelt es sich um ein laufendes Ermittlungsverfahren. Zwei Menschen sind auf brutalste Weise ermordet worden und allem Anschein nach hat der Täter Sie angeschrieben. Wieso?«

»Das ist korrekt, Herr Beska. Der Täter hat MICH angeschrieben!« Peter Becker betonte das ›mich‹ extra stark. »Der Täter möchte …«

»Was der vermutliche Täter möchte, interessiert mich einen Scheiß und Sie, Herr Becker, werden nicht sein Sprachrohr werden.«

Peter Becker blieb ruhig und antwortete in einer fast arroganten, gelassenen Weise: »Herr Beska, wir befinden uns noch immer in der Bundesrepublik Deutschland. Hier besteht Pressefreiheit. Ich wurde vonseiten des Täters in diesen Fall mit einbezogen und ich werde diese Quelle auch nutzen. Mit oder ohne Sie.«

Christoph Weigl hörte dem verbalen Schlagabtausch zu. Das war sein tägliches Brot, denn Konferenzen unter Redakteuren endeten meist in hitzigen Diskussionen. Seine Aufgabe als Chefredakteur der BAZ war es, erhitzte Gemüter zu beruhigen und stets einen Kompromiss zu finden. Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, um in die Diskussion einzugreifen. »Meine Herren. Bitte lassen Sie uns sachlich bleiben. Herr Becker hat Sie noch vor mir informiert. Sie sehen doch unsere Bereitschaft, eng mit Ihnen zusammenzuarbeiten und vor allem zu kooperieren. Laut der E-Mail des vermeintlichen Täters wird dieser Herrn Becker mit Material seiner Aktivitäten versorgen. Eine Berichterstattung wird somit unverzichtbar sein. Arbeiten wir zusammen, dann werden wir die Berichte mit Ihnen koordinieren und nur das zeigen und berichten, was die Ermittlungen nicht negativ beeinträchtigen könnte. Lehnen Sie eine Zusammenarbeit jedoch ab, werden wir dennoch berichten, und zwar so, wie wir es dann für richtig halten.«

Peter Becker schaute seinen Chefredakteur mit großen Augen an. Was ein geiler Chef , dachte er sich und nickte Christoph Weigl zustimmend zu.

»Nun gut, Herr Weigl. Das war eine klare Ansage. Wir werden das mit unserer Führung besprechen und uns zeitnah wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Bitte leiten Sie die E-Mail an uns weiter.« Pete stand auf und legte seine Visitenkarte auf den Konferenztisch. David tat es ihm gleich. Sie verließen schweigend die Redaktion der Berliner Allgemeinen Zeitung.

»Was passiert hier gerade?« David durchbrach zuerst die Stille.

»Ich kann es noch nicht einordnen. Woher hat der Verfasser dieser Mail die Unterlagen und was meint er mit Spezies? Das sind die Unterlagen, die nur wir haben. An die kann keiner extern gelangen.«

»Anscheinend doch! Sonst hätte er die Unterlagen ja nicht.«

»Haben wir eine undichte Stelle im Dezernat?«

»Keine Ahnung! Möglich wäre es. Zumindest halte ich die E-Mail für echt. Der Verfasser hatte die Obduktionsberichte und die Ausweise beider Opfer und – erinnere dich! – den Ausweis von Niklas Galanis hatten wir in seinem Haus nicht finden können.«

»Dann lagen wir mit unserer Theorie einer beginnenden Serie richtig.« David wirkte sichtlich stolz.

Den Rest der Fahrt zum Dezernat herrschte wieder Totenstille. Petes Hirn arbeitete auf Hochtouren, aber er konnte keinen analytischen Gedanken fassen. Zu seltsam war die vorangegangene Situation. Ein vermutlicher Killer, der Kontakt zur Presse sucht, war nichts Außergewöhnliches. Dieser Killer aber war anders! Er gab sich keinen Namen, wollte keine Aufmerksamkeit und er sprach von einer Spezies, die er stark dezimieren wolle. Eine Spezies, die in Angst leben sollte. Von was für einer Spezies war hier die Rede?

Eve Decker wartete bereits ungeduldig im Dezernat. »Was ist das jetzt für eine bodenlose Scheiße?«, fluchte sie lautstark.

»Aus irgendeinem Grund hat sich der vermeintliche Täter über die Presse mit uns in Verbindung gesetzt. Er hat in der E-Mail auch speziell auf David und mich verwiesen.«

»Stopp, Pete. Zeig mir diese E-Mail!«

Pete startete seinen Rechner und öffnete sein Mailprogramm. Peter Becker hatte Wort gehalten und die E-Mail bereits an Pete und David weitergeleitet. Pete öffnete die Mail und Eve Decker begann zu lesen, bis sie verachtend ihren Kopf schüttelte. »Ich habe echt schon viel erlebt, aber das hier ist wie aus einem schlechten Hollywoodfilm. Er legt seine Taten offen, bekennt sich zu den beiden Morden und kündigt zu alledem auch noch weitere Morde an. Und als wäre das nicht schon genug, will er die Presse mit Infomaterial über die erfolgten Morde versorgen. Er fordert die Presse auf, mit uns zusammenzuarbeiten. Wer ist er? Der Nikolaus? Was habt ihr bei Niklas Galanis gefunden? Hatte er etwa dieselben perversen Interessen wie Inge Korf?«

Pete überlegte kurz und ordnete seine Gedanken. »Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir dich leider enttäuschen. Außer, dass das Haus von Niklas Galanis einem Schweinestall gleicht, konnten wir keine Anzeichen für Gemeinsamkeiten oder ähnliche Interessen finden. Der Computer ist, wie zu erwarten gewesen, passwortgeschützt. Wir haben uns bereits mit Noah Schmidt in Verbindung gesetzt. Er und ein weiteres Teammitglied der Taskforce kommen heute Abend in Berlin an.«

»Gut. Wo werden sie arbeiten? Habt ihr ihnen einen Raum im Dezernat vorbereitet?«

»Noah wollte, dass der Rechner an Ort und Stelle bleibt. Er vermutet, dass eventuelle Merkmale zum Entschlüsseln des Passwortes im Haus zu finden sind. Er und Marc Habermehl werden somit vor Ort bleiben und keine Sorge, zwei Uniformierte sind bereits abgestellt.«

»Sehr gut. Wie gehen wir nun weiter vor? Wie sehen eure nächsten Schritte aus?« Eve Decker hasste es, wenn Institutionen von außen in der Lage waren, ihre Ermittlungen eventuell beeinflussen zu können.

»Zwingend notwendig ist der Inhalt auf Niklas Galanis’ Rechner. Finden wir hier eine mögliche Verbindung, dann wissen wir zu hundert Prozent, dass die Taten in Verbindung zu HEAVEN stehen. Wir sollten auch weiter sehr strukturiert beide Fälle bearbeiten, denn sonst verrennen wir uns nur. David und ich werden morgen im Fall Galanis weiter ermitteln. Wir haben im Haus seine Gehaltsabrechnungen gefunden und werden seinen Arbeitgeber aufsuchen. Das hatten wir eigentlich für heute geplant, aber wie du ja mitbekommen hast, ist etwas dazwischengekommen. Nachdem wir die Jungs vom BKA gegen achtzehn Uhr am Tegel abgeholt haben, fahren wir sie direkt zum Galanis-Haus.«

»Okay, das klingt nach einem Plan. So machen wir es. Informiert mich bitte zweimal pro Tag. Ich werde gleich die Führung anrufen und unseren jetzigen Wissensstand kundtun. Ich bin sehr gespannt, wie sie die Kontaktaufnahme durch das Bundeskriminalamt bewerten werden.«