Sonntag, der 27. Oktober 2019, 08:00 Uhr
Berlin, Tiergarten
LKA 1 – Delikte am Menschen
Pete und David betraten den Konferenzraum. Eve Decker saß bereits am Kopfende des großen Konferenztisches und las in der Akte.
»Setzt euch«, raunzte Decker beide an.
»Okay?« Pete und David hatten mit so einer Begrüßung nicht gerechnet.
»Wie kann es sein, dass das BKA seit fast einem Jahr in dieser Sache ermittelt und keinerlei Informationen an die Landespolizeien weitergibt? Wir zählen in Berlin mittlerweile vier ermordete Personen und sind von der Gnade des Täters abhängig, ob er gewillt ist, uns mit weiteren Informationen zu versorgen.«
»Und wir haben sechs ermordete Kinder!« David unterbrach Eve Decker und erntete dafür erneut einen bösen Blick.
»Okay, okay. Ich bin wieder ruhig.«
»Die sechs ermordeten Kinder gehen allem Anschein nach auf das Konto von Jürgen Leipold und Pino Fiore. Die Obduktion der Leichen wird uns hoffentlich die Gewissheit liefern können. Sollte er auch dafür verantwortlich sein, na dann gute Nacht.«
Pete konnte nicht glauben, was er eben hören musste. »Er ist nicht für den Tod dieser Kinder oder anderer Kinder verantwortlich.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Die Gartenanlage gehörte Jürgen Leipold. Pino Fiore ging dort ein und aus. Glaubst du allen Ernstes, er würde mit uns offen in einen Diskurs treten, wenn er für Morde an Kindern verantwortlich wäre? Wie viele Triebtäter, pädophile Triebtäter sind uns aus der Historie bekannt, die einen Zugang zur Öffentlichkeit gesucht haben? Ich kenne keinen einzigen Fall.«
»Das hat nichts zu heißen. Irgendwann ist immer das erste Mal!«
»Sorry, Eve! Klar, du bist unsere Chefin, aber bitte bleib sachlich. Ich kann mir nicht vorstellen, welchem Druck du ausgesetzt bist, aber dein letzter Kommentar, und das sage ich mit dem größten Respekt, war absoluter Schwachsinn!« David schaute zu Pete, ungläubig dessen, was Pete soeben zu ihrer Chefin gesagt hatte.
»Vielleicht ist es wirklich der Druck!«, antwortete Eve Decker. »Vorhin hat mich die Polizeipräsidentin angerufen und nach einem aktuellen Sachstand gefragt. Könnt ihr euch vorstellen, welche Auswahl an möglichen Ausreden ich hatte? Richtig. KEINE! Also war ich wider meinen Willen verdammt ehrlich.«
»Und?«
»Nichts und! Sie hat mir acht Wochen Zeit gegeben, den Fall zu lösen.«
»Wie soll das denn funktionieren?«
»Du weißt das, David weiß das, ich weiß das und sie weiß das auch! Darum geht es aber nicht. Herzlich willkommen in der Politik. Jetzt geht es nicht nur um einen Fall. Es geht um DIESEN FALL! Der Fall, der Aufsehen erregen wird, und zwar sofort dann, wenn Herr Becker seinen ersten Bericht veröffentlicht.«
»Peter Becker ist mehr als nur kooperativ. Er wird in Absprache mit David und mir diesen Bericht verfassen.«
»Herr Becker ist von der Presse. Wie soll das denn funktionieren?«
»Wie eben bereits gesagt, ist Peter Becker äußerst kooperativ. Er hat uns nach beiden E-Mails des Killers sofort kontaktiert und nichts ohne uns unternommen. Anscheinend hat er einen Kodex und daran hält er sich.«
»Einen Kodex? Ein Mann der Presse hat keinen anderen Kodex als schnellstmöglich eine Exklusivstory zu veröffentlichen. Kodex! Das klingt fürchterlich geschwollen!«
»Mag sein, aber ich muss mich auf meine Intuition verlassen und Peter Becker hat sich von Anfang an absolut korrekt verhalten.«
»Also vertraust du ihm?« Eve Decker fixierte Pete.
»Ein klares Ja.«
»Gut. Ihr werdet gemeinsam mit Herrn Becker den Bericht verfassen, und bevor dieser Bericht in den Druck geht und als DIE SCHLAGZEILE veröffentlicht wird, muss ich ihn gegenlesen und freigeben.« Eve unterstützte ihren letzten Satz mit übertriebener Gestik, dann schaltete sie den Beamer ein, öffnete eine Datei und die polizeilichen Führungszeugnisse von Jürgen Leipold und Pino Fiore poppten auf.
Pete warf einen kurzen Blick darauf, wandte sich zu Eve und sagte mit einem leicht sarkastischen Unterton: »Glaubst du jetzt immer noch, dass die beiden Unschuldslämmer waren und unserem Killer rein zufällig zum Opfer gefallen sind?«
Eve Decker ignorierte Petes Bemerkung.
Jürgen Leipolds Führungszeugnis wies fünfzehn Einträge auf. Die üblichen Vermerke aufgrund von Falschaussagen und kleinerer Delikte wie Diebstahl und leichter Körperverletzung füllten die ersten drei Seiten. Interessant wurde es ab Eintrag Nummer 10.
- Schwere Körperverletzung
- Nötigung
- Versuchte Vergewaltigung
- Sexuelle Belästigung eines Minderjährigen
- Vergewaltigung mit schwerer Körperverletzung
Von seinen vierunddreißig Lebensjahren hatte Jürgen Leipold insgesamt drei Jahre in verschiedenen Jugendvollzugsanstalten sowie acht Jahre in der Justizvollzugsanstalt in Moabit gesessen.
Pino Fiore dagegen war ein komplett anderer Krimineller. Im Gegensatz zu Jürgen Leipold, der bereits in jungen Jahren seine Karriere als Kleinkrimineller begonnen hatte, war Pino Fiore erst im Alter von fünfundzwanzig Jahren erstmals auffällig geworden. Sein erster und einziger Eintrag war die Vergewaltigung und schwere Körperverletzung eines minderjährigen Jungen mit versuchter Tötung. Er war zu zwölf Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden.
»In welchem Gefängnis saß er ein?« Eve Decker öffnete eine weitere Akte.
»In der JVA Moabit!«
Petes Pupillen weiteten sich. »Jürgen Leipold ist in Rostock geboren und aufgewachsen. Pino Fiore in Bremen. Sie saßen zur gleichen Zeit in Moabit. Schließen wir mal aus, dass sie sich seit frühester Kindheit kannten, so liegt die Vermutung nahe, dass sie sich in Moabit kennengelernt haben.«
»Per Zufall?«
»Selbst in Justizvollzugsanstalten gibt es laut Definition der Insassen einen Ehrenkodex. Kinderschänder sind für gewöhnliche Kriminelle, auch für Schwerverbrecher, die wegen Mordes einsitzen, purer Abschaum! Jeder Insasse kennt die Inhaftierungsgründe der anderen Insassen, somit sind natürlich auch die pädophilen Straftäter bestens bekannt. Es könnte gut sein, dass sich Leipold und Fiore so kennengelernt haben. Zu zweit lässt es sich außerdem leichter überleben als allein. Es wäre nicht das erste Duo, das sich im Gefängnis kennengelernt hat, um dann in Freiheit gemeinsam auf die Jagd gehen zu können.«
»Jürgen Leipold wurde aber doch schon 2014 entlassen. Pino Fiore dagegen erst 2016!«
»Eve, bitte blättre mal zurück zu den Eigentumsverhältnissen von Jürgen Leipold. Ich glaube mich zu erinnern, dass der Pachtvertrag der Gartenlaube auf seinen Namen läuft.«
Eve blätterte in den Unterlagen, bis sie zu den Eigentumsverhältnissen in den Akten gelangte. »Du hast recht, Pete. Pächter der Parzelle 169/3c ist Jürgen Leipold. Der Pachtvertrag wurde im Dezember 2014 unterschrieben. Es steht mir nicht zu, unsere Gesetze infrage zu stellen, aber warum wird es Straftätern, die wegen Sexualdelikten an Kindern im Gefängnis saßen, so leicht gemacht, wieder in die Gesellschaft integriert zu werden?«
Pete und David schauten einander an. Beide waren irritiert und konnten Eve Deckers augenblicklichen Sinneswandel nicht begreifen. »Eve, wie meinst du das?«
»Die eingetragenen Pächter sind Jürgen Leipold und ein gewisser Hartmut Wilhelm.«
»Und weiter?« David hielt die Spannung kaum noch aus.
»Hartmut Wilhelm war der vom Gericht beauftragte Bewährungshelfer. Aber es hat noch jemand unterschrieben. Sabine Bachmann, Resozialisierungsbeauftragte der Berliner Justiz!«
»Das ist doch klasse!« David konnte sich den Spott nicht verkneifen. »Dann verhelfen wir mal einem Sexualstraftäter zu seinem eigenen Schrebergarten, ebenso wie seinem gleichgesinnten Kumpel, der bald aus dem Gefängnis freikommt. Ermöglichen wir ihnen doch eine Umgebung, in der sie ihre gewonnene Zweisamkeit gepaart mit ihren besonderen Interessen ausleben können. Finanziert vom Steuerzahler!«
Pete war in Gedanken versunken. Er erinnerte sich an einen bekannten Fall aus den USA, der in seiner Entstehung diesem hier sehr ähnlich war. Roy Norris und Lawrence Bittaker lernten sich Ende der Siebzigerjahre im California State Prison kennen. Dort tauschten sie ihre Fantasien aus und beschlossen nach ihrer Freilassung, gemeinsam auf die Jagd zu gehen …
»Pete? Alles okay?« Eve Decker riss Pete aus seinen Gedanken.
»Alles okay. Mir ist nur ein Fall aus den USA wieder eingefallen. Angefangen hatte es damals genau wie jetzt bei uns.«
»Ich kann mir denken, welchen Fall du meinst! Konzentrieren wir uns aber bitte auf das Hier und Jetzt.«
»Klar.« Pete trank einen Schluck Kaffee und konzentrierte sich wieder auf den aktuellen Fall. »Wann werden wir die Berichte aus der Rechtsmedizin erhalten?«
»Das kann noch einige Zeit dauern. Dr. von Alvensleben arbeitet seit gestern mit vier Teams. Leipold und Fiore sind erst einmal in der Kühlung geparkt worden. Die Kinder haben Vorrang.«
»Liegt uns schon der Bericht der Kriminaltechnik vor? Es muss doch noch mehr gefunden worden sein als nur die Opfer. Allem Anschein nach war dieser Schrebergarten der Tatort von allen Morden an den Kindern.«
»Ich habe direkt heute Morgen mit Jörg telefoniert. Sie graben noch immer den Garten um, in der Hoffnung, weitere Hinweise zu finden. Die eingesetzten Leichenspürhunde haben zum Glück keine weiteren Leichen aufgespürt. Dennoch müssen die Kriminaltechniker das Erdreich vorsichtig abtragen. Stimmt euch jetzt bitte mit Herrn Becker ab und bereitet gemeinsam diesen Bericht vor. Wir sprechen uns dann gegen fünfzehn Uhr.«
Pete und David verließen den Konferenzraum und gingen zurück zu ihren Arbeitsplätzen im Großraumbüro des Dezernats.
»Seit nicht einmal zwei Wochen bin ich wieder im Dienst und wir werden mit dem heftigsten Fall unserer Karriere konfrontiert. Kannst du dich an etwas Vergleichbares erinnern?«
»Nicht mal im Ansatz. Das hier hat ein anderes Ausmaß angenommen als alles bisher Dagewesene. Mir macht diese Kombination der unterschiedlichen Täter große Sorgen. Einerseits haben wir Geschäftsleute, die organisiert vorgehen, Webseiten mit Livestreams und Chatrooms einrichten, um weltweite Netzwerke bedienen zu können. Ihr Fokus ist einzig und allein das Geld! Auf der anderen Seite haben wir die User dieser Netzwerke, unorganisierte Pädophile, die in ihrem näheren sozialen Umfeld agieren und sich Kinder von der Straße schnappen, um ihre Fantasien endlich in die Tat umsetzen zu können, nachdem sie sich auf HEAVEN Appetit holen konnten. Wir werden mitten in Berlin zu einem Tatort bestellt und finden ein Massengrab misshandelter und ermordeter Kinder. Und warum finden wir die Opfer und die Tatorte überhaupt?« Pete musste keine Sekunde überlegen.
»Weil es unser Killer so will!«
»Korrekt! Warum aber betreibt er diesen Aufwand? Warum erst jetzt? Er hat vor diesem Doppelmord bereits zwei Mal gemordet und wir mussten konservativ ermitteln, bis er uns die erste Nachricht hat zukommen lassen. Hat er uns etwa beobachtet und mussten wir uns zuerst als würdig erweisen?«
Pete musste kurz nachdenken. »David, wiederhol das bitte!«
»Was meinst du? Etwa, dass wir uns zuerst als würdig erweisen mussten?«
»Nein! Entweder hat er uns bei den ersten beiden Morden am Tatort beobachtet oder er hat uns im Fokus, seit wir uns mit dem BKA in Verbindung gesetzt haben.«
»Hat er sich in die Systeme des Bundeskriminalamtes gehackt? Er zeigt uns, dass er alles weiß, dass er alles bekommen kann. Er hatte unsere Obduktionsberichte, unsere Tatortfotos, unsere Namen. Und dann auch noch dieser Fick in der Redaktion. Wie auf Knopfdruck hat er nach dem Ende des Videos die nächste E-Mail geschickt! Wie konnte er an all diese Unterlagen und Fakten kommen, wenn nicht über unsere Systeme? Beschattet er uns auch noch elektronisch?« David redete sich in Rage.
»Und er weiß von HEAVEN! Lass uns rekapitulieren: Er foltert und tötet Niklas Galanis, der ein aktiver User und Scout von HEAVEN und außerdem noch pädophil war. Dann tötet er Inge Korf, die auch Zugang zu HEAVEN hatte. Jürgen Leipold und Pino Fiore waren Sexualstraftäter, die sechs Jungs ermordet haben und sie allem Anschein nach vorher sexuell missbraucht haben. Eine Verbindung zu HEAVEN hat er uns jedoch nicht mitgeteilt!«
Pete war selten so unschlüssig darüber, in welche Richtung sie ihre Ermittlungen nun steuern sollten. David beobachtete seinen Partner intensiv. Was ging in Pete vor? Er hatte doch sonst auch immer eine passende Lösung parat, jetzt aber war er sprachlos und musste überlegen, wie es weitergehen könnte. »Sorry, Pete, aber das ist nicht ganz richtig. HEAVEN taucht bei jedem Mord auf. Mal aktiv, mal passiv und eines ist klar. Die Opfer stehen alle in Verbindung mit HEAVEN.«
»Da magst du recht haben. Ist dir aber bewusst, dass wir nur so viel wissen, wie er uns zugesteht? Kannst du dich an einen unserer vergangenen Fälle erinnern, bei dem wir so passiv waren wie jetzt? HEAVEN hin oder her. Ich will, dass wir diesen Fall lösen und das nicht, weil er uns mit Informationen versorgt.«