Dienstag, der 26. März 2019, 10:00 Uhr
Wiesbaden
Bundeskriminalamt – Taskforce HEAVEN
Frank klickte auf das X, um den Stream zu schließen. Sandy war kreidebleich und Frank musste sie in den Arm nehmen. Der Inhalt dieses Streams ließ auch ihn nicht kalt. Jeden Morgen, an dem sie das BKA betraten, um weiter gegen die Betreiber von HEAVEN zu ermitteln, dachten sie, es könne nicht noch schlimmer werden als die Tage zuvor. Und jeden Tag wurden sie aufs Neue getäuscht. HEAVEN hatte mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das alles bisher Dagewesene nicht einfach nur in den Schatten stellte. HEAVEN hatte Platz eins in der Abartigkeit sexueller Perversionen an Kindern und Jugendlichen eingenommen. Die Anzahl der User, die sich über den ganzen Globus ausbreitete, nahm täglich zu. Das Bundeskriminalamt schätzte die Einnahmen, die HEAVEN Monat für Monat verbuchte, auf mindestens zehn bis fünfzehn Millionen Euro. Weltweite Ermittlungsversuche konnten bis jetzt keine Erkenntnisse über Krypto-Konten, auffällige Bewegungen oder Verschiebungen höherer Krypto-Werte nachweisen. Auch die Ermittlungen in Richtung der Ghost-IP-Adressen der potenziellen User waren bis jetzt eine Sackgasse. Das Team rund um Noah Schmidt hatte vor dem Fall HEAVEN nahezu alle Ermittlungen erfolgreich abschließen können. Die IP-Adressen, die üblicherweise im Darknet verwendet wurden, konnten meist ohne Weiteres durch Sicherheitslücken im Tor-Netzwerk sowie durch Einsatz von Ransomware ermittelt werden. Im Fall von HEAVEN war dies anders. User wurden durch einen Einladungslink in das HEAVEN-Netzwerk fest eingebunden. Mit den monatlichen Zahlungen erkaufte sich der User einen zusätzlichen Schutz, der es unmöglich machte, Rückschlüsse auf die jeweilige IP-Adresse zu ziehen. HEAVEN-User waren ein Teil vom Netzwerk und standen somit unter dessen elektronischen Schutz.
Marc hatte sich mit den Verschlüsselungen intensiv beschäftigt. Auch musste er feststellen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Einnahmen in zusätzliche Verschlüsselungen und Absicherungen des Netzwerks investiert wurde. HEAVEN war ihnen weit mehr als nur einen Schritt voraus.
»Noah?« Marc rief mit verzweifelter Stimme nach Noah.
»Was gibt’s?«
»Fuuuck!« Marc brüllte und schlug so hart auf seinen Schreibtisch, dass die gesamte Abteilung erschrak. »Ich komme nicht weiter. Alles, was ich anwende, egal welches Phishing Tool, diese verfickte Seite lässt nichts zu.«
»Mir geht es nicht anders. Die werden von Monat zu Monat besser.«
»Was machen wir jetzt? Ohne einen möglichen Ansatz werden wir nicht weiterkommen. Weißt du noch, wie knapp wir im April dran waren, den Quellcode zu entschlüsseln?«
»Ja, Mann, ich erinnere mich!«
»Und dann hauen die Wichser schon wieder eine neue Firewall raus. Deren Verschlüsselungen könnten es mit der NSA aufnehmen.«
Alexander Mier betrat das Großraumbüro, sein Blick suchte Noah.
Noah bemerkte Alexander Mier zuerst und begrüßte ihn mit einem knappen »Hey, Boss, was geht?«.
Die kleinen Späße waren in der jetzigen Phase der Ermittlung lebensnotwendig und das sah Alexander Mier auch so. »Alles, was Füße hat!« Lautes Gelächter. »Schwingt eure Ärsche von euren stinkenden Plätzen und ab in den Konferenzraum!«
Alexander Mier musste das nicht zweimal sagen. Keine zwanzig Sekunden später schloss er die Tür zum Konferenzraum. Noah zündete sich eine Zigarette an und erntete einen bösen Blick von Sandy. »Sag mal, geht’s dir noch gut?« Sandy giftete Noah an.
»Hey, Süße, weißt du was? Fick dich.«
»Fick du dich!«
Alexander Mier trat einen Schritt nach vorn und gerade als er sein Team zurechtweisen wollte, wurde er von Dr. Steinacker gestoppt.
»Das, was Sie in den letzten Monaten ertragen mussten, ist nicht in Worte zu fassen. Die Entladung Ihrer Gefühle ist die normale Reaktion dessen. Bitte nutzen Sie die nächsten Minuten und lassen Sie Ihren Gefühlen freien Lauf.«
Marc war der Erste, der die Initiative ergriff. Er ging auf Frank zu, blieb direkt vor ihm stehen und fixierte ihn. »Du beschissener Spezialkommando-Fuck-Klugscheißer! Ich habe mir jetzt deine super Erfahrung fast jeden Tag anhören müssen. Warum bist du schießwütiges Arschloch nicht bei deiner › ach so geilen ‹ Truppe in Mainz geblieben? Wieso hat dich das BKA überhaupt eingestellt?«
»Weil ich erfahrener und weitaus kompetenter bin als du, du kleiner unnützer Möchtegern-Hacker. Was willst du von mir? Ohne mich wärst du in den letzten Monaten bereits kläglich an deiner Psyche verreckt! Bis jetzt hast du hier nichts gerissen! Oder hat eines deiner ›ach so genialen‹ Programme uns bis jetzt auch nur irgendeinen Vorteil gebracht?«
Sandys Wut entlud sich genau in diesem Moment mit einem lauten Brüller, der alle Anwesenden zusammenzucken ließ. »Haltet jetzt alle eure Fresse! Was stimmt nicht mit euch? Wir sind ein Team und wir zerbrechen gerade! Ich zerbreche und ich halte das nicht mehr aus. Jeden Tag diese Videos, die Kinder, die Jungs und die Mädchen. Die Vergewaltigungen, die Folter und die Morde! Ich kann nicht mehr, aber ich will auch nicht aufgeben. Wir haben die Verantwortung, diese miesen Dreckschweine aufzuspüren und wegzusperren! Frank? Was ist mit dir und deiner ehemaligen Truppe? Könnt ihr beim Zugriff nicht einfach alle erschießen?«
Dr. Steinacker, der genau diese Situation erwartet hatte, beobachtete die Teammitglieder und überließ sie einen weiteren Moment ihren Gefühlen.
»Sag mal, bist du irre? Wir müssen jeden abgegebenen Schuss erklären. Eine Reaktion erfolgt erst nach einer Aktion und das weißt du ganz genau. Ich würde diese Wichser am liebsten bei lebendigem Leib häuten und verbrennen, aber das spielt hier und jetzt keine Rolle, denn das erlauben unsere Gesetze nicht.«
Dr. Steinacker wie auch Alexander Mier beobachteten Noah unterdessen ganz genau.
Noah, der sich mittlerweile wieder gefangen hatte, verfolgte den Schlagabtausch der übrigen Teammitglieder. »Ich sage es jetzt genau einmal! Seid endlich still!« Das war das erste Mal, dass Noah seine Stimme erheben musste, und das tat er. Augenblicklich herrschte Totenstille. Alexander Mier wollte einschreiten, Dr. Steinacker hielt ihn mit einem Ruck an seinem Arm zurück. »Vor verschissenen zehn Monaten habe ich HEAVEN entdeckt. Nachdem Alexander mich mit der Bildung der Taskforce beauftragt hatte, habe ich mich für euch entschieden. Jeder Einzelne zählt in seinem Fachgebiet zu den Besten. Das, was jeder von uns mittlerweile täglich ertragen muss, konnte niemand erahnen. Aber jetzt ist es, wie es ist, und unsere Aufgabe, unsere Profession ist es, gegen diesen menschlichen Abschaum zu ermitteln und ihn für immer wegsperren zu lassen. Ist euch eigentlich aufgefallen, wer neben Alexander steht? Vielleicht ist es einer der Entscheider, ob wir weiter machen dürfen! Ob wir weitermachen müssen! Oder ob hier und jetzt Ende ist für uns.«
Marc schaute verächtlich in die Ecke. »Das ist mir so was von scheißegal. Soll er doch diesen Fick beenden und mich kräftig am Arsch lecken. Weiß dieser Penner überhaupt, was wir jeden Tag mitmachen? Noah, ich kann nicht mehr! Ich bin am Ende. Vor nicht einmal einer Stunde musste ich mir diesen Stream ansehen, wie ein vielleicht vierjähriger Junge mit dem Schwanz eines fetten Mannes spielen musste! Keiner, wirklich keiner hat uns auf so etwas vorbereitet.«
»Natürlich nicht! So etwas gab es zuvor auch noch nicht.« Noah resignierte.
»Herrschaften! Bitte beruhigt euch.« Alexander Miers laute Stimme ließ den Raum erzittern. »Jetzt habt ihr euch ausgekotzt und das war notwendig. Ich möchte euch Dr. Klaus Steinacker vorstellen. Sandy, Noah, ihr kennt Dr. Steinacker bereits. Dr. Steinacker ist unter anderem Kriminalpsychologe und wird uns, wie bereits 2015, unterstützend zur Seite stehen. Ich weiß, was ihr täglich durchzustehen habt und so wie jetzt geht es wirklich nicht mehr weiter. Dr. Steinacker ist beim BKA ein geschätzter externer Berater, der uns 2015 maßgeblich dabei geholfen hat, einen potenziellen Pädophilen dingfest zu machen, bevor dieser mit seinem Werk beginnen konnte.«
Das Team blickte erwartungsvoll zu Dr. Steinacker. Schon seine Erscheinung wirkte beruhigend auf die Mitglieder der Taskforce. Dr. Steinacker war zweiundsechzig Jahre alt. Seine lichten grauen Haare und seine schwarze Hornbrille vermittelten die Ausstrahlung eines Akademikers. Wären da nicht seine Größe und die sportliche Figur. Dr. Steinacker war trotz seines Alters ein sportlicher durchtrainierter Mann. Mit seinen einen Meter achtundneunzig überragte er Alexander Mier um fast eine halbe Kopflänge. Der dunkelblaue Anzug war maßgeschneidert und verlieh ihm die Optik eines Dressmans. Dr. Steinacker war sichtlich stolz auf sein Aussehen. Arrogant wirkte er jedoch nicht.
Dr. Steinacker blickte in die Gesichter der Taskforce. Er wartete noch den einen, den dramatischen Augenblick ab und trat einen Schritt vor in ihre Richtung. »Herr Mier hat mir bereits das Dossier der Akte HEAVEN zukommen lassen und ich konnte mich intensiv damit beschäftigen. Nachdem ich Ihnen die letzten Minuten zuhören durfte, kann ich Ihre Bedenken, Ihre Ängste, den aufgestauten Frust verstehen und auch nachvollziehen. Ihre persönlichen Lebensläufe, die Erfolge, die Sie alle bis jetzt und hier beim Bundeskriminalamt erzielt haben, zeichnen Sie ersatzlos aus, ein Teil dieser Taskforce zu sein. Es ist auch völlig egal, ob Sie wie Herr Habermehl noch jung und am Anfang Ihrer Karriere stehen oder ob Sie über weitaus mehr Erfahrung verfügen, wie Sie, Herr Ahrens. Das Vergehen an Kindern, so wie es HEAVEN Tag für Tag praktiziert, ist in seiner Härte, seiner Brutalität und vor allem in seiner Perversion nichts, auf das man sich hätte vorbereiten können. Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten unter anderem mit dem Kentler-Experiment und kann Ihnen allen sagen, dass ich jeden alten, jeden neuen Fall mit meinem Gewissen neu vereinbaren muss. Kurz bevor mich Herr Mier 2015 gebeten hatte, ihn bei dem Fall Flipp zu unterstützen, wollte ich meine Arbeit als Psychotherapeut aufgeben. Ich wollte mich ausschließlich dem Sport widmen, meiner großen Leidenschaft. Ich hatte genug davon, mich mit pädophilen Triebtätern auseinandersetzen zu müssen, sie zu interviewen und gegebenenfalls die Möglichkeiten einer Resozialisierung zu diagnostizieren. Anfangs war ich noch so vermessen zu glauben, dies wäre möglich. Es mag sein, dass einer von hundert auch dazu in der Lage sein könnte. Ich musste aber feststellen, dass die meisten resozialisierten Individuen kurze Zeit später wieder vor mir saßen. Um auf den Punkt zu kommen: Erst die Überführung des Täters Justus Wiedemann alias Flipp änderte meinen Entschluss, den Job an den Nagel zu hängen.«
»Wieso?«, wollte Marc wissen. »Sie hatten es doch mit vielen bereits inhaftierten Pädophilen zu tun.«
»Das ist eine interessante Frage, Herr Habermehl. Die Überführung von Justus Wiedemann war nur ein Teil meiner Entscheidung weiterzumachen. Der entscheidende Teil war das Anwesen, das Justus Wiedemann für das Ausleben seiner Fantasien hergerichtet hatte. Ich denke, dass die Akte Flipp eine Ihrer Pflichtlektüren ist?« Dr. Steinacker blickte in die Runde und erhielt ein bestätigendes Kopfnicken aller Anwesenden. »Dann wissen Sie, wovon ich rede. Hätten wir Justus Wiedemann nicht das Handwerk gelegt, dann hätte eine andere Art von HEAVEN in unserer unmittelbaren Nähe bereits stattgefunden. Alle, wie Sie hier sitzen und auch ich, wir haben uns einst dazu entschieden, für das Gesetz, für Recht und Ordnung zu kämpfen. Kriminelle Männer und kriminelle Frauen zu überführen und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Kapitalverbrechen an Kindern bilden die Spitze in der Strafverfolgung. Es ist unsere Pflicht, unsere Entscheidung, dies ohne zu zögern in die Tat umzusetzen. Wie ich bereits erwähnte, habe ich Ihre Akten gelesen und ich bin davon überzeugt, dass Sie das Zeug dazu haben, diesen Job zu erledigen und diese Ausgeburten der Hölle zu schnappen. Das ist aber nur meine Meinung und keine Entscheidung. Im Anschluss an dieses Meeting werden wir Einzelgespräche führen. Herr Mier und ich werden gemeinsam mit Ihnen entscheiden, ob das Team in dieser Konstellation bestehen bleiben kann oder ob wir Veränderungen vornehmen müssen. Das, was Sie alle hier bis zum heutigen Tage geleistet haben, ist überragend und mit normalen Ermittlungen nicht zu vergleichen. Ich bin Herrn Mier dankbar und ich bin sehr stolz, ab jetzt ein Teil dieses Teams zu sein!«
Im Konferenzsaal herrschte Totenstille. Keines der Teammitglieder war in der Lage zu antworten, geschweige denn eine Frage zu stellen. Dr. Steinacker hatte, so war er Alexander Mier im Gedächtnis geblieben, mal wieder die richtigen Worte gefunden.