Kapitel 37

Montag, der 28. Oktober 2019, 06:45 Uhr

Berlin, Tiergarten

LKA 1 – Delikte am Menschen

Morgenausgabe der BAZ – Schlagzeile

 

Doppelmord im Pädophilen-Milieu! Zwei männliche Leichen in einer Gartenlaube in Marzahn aufgefunden.

Von: Peter Becker

28.10.2019 – 6.45 Uhr

 

Gestern sind in einer Gartenanlage in Berlin-Marzahn zwei Männer im Alter von vierunddreißig und vierzig Jahren tot aufgefunden worden. Bei den Opfern handelt es sich um den Pächter der Parzelle sowie einen nicht näher identifizierten Mann. Die Polizei schließt einen Doppelselbstmord aus. Näheres wollte uns die Polizei zu den Todesumständen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mitteilen. Erste Erkenntnisse lassen jedoch auf einen Doppelmord in der Berliner Pädophilen-Szene rückschließen. Weiter sind auf dem Gelände der betroffenen Parzelle sechs Gräber mit männlichen Kinderleichen gefunden worden. Alle Opfer befinden sich mittlerweile in der Berliner Rechtsmedizin.

Kriminalhauptkommissar Pete Beska teilte der BAZ in einem ersten exklusiven Interview mit, dass allem Anschein nach ein Machtkampf in der Berliner Pädophilen-Szene begonnen hat und die einzelnen Zellen alles daransetzen, sich gegenseitig aus dem Geschäft zu nehmen. Man untersuche aktuell bereits zwei weitere Morde, die diese Theorie bestärken.

 

Eve Decker legte die Zeitung beiseite, hielt einige Sekunden inne und betrachtete das Whiteboard. »Wann wird er sich wieder melden? Ich könnte kotzen. Wir haben nichts in der Hand außer sechs toten Kindern, vier toten Pädophilen und einem Killer. Entschuldigt, ich vergaß das Netzwerk voller perverser Individuen und höchstwahrscheinlich noch mehr Opfern. Habt ihr Neuigkeiten von Noah Schmidt?«

»Nein, bis jetzt nichts Neues. Leipold und Fiore waren dem BKA nicht bekannt. Durch die Tatsache, dass der Killer sie jedoch ausgewählt hat, geht CC 23 und auch wir davon aus, dass sie in irgendeiner Verbindung zu HEAVEN stehen.«

»Lasst uns mal genauer auf unseren Killer schauen. Was für ein Mensch ist er? Wie wählt er die Opfer aus und wie kommt er an sie heran? Wie schafft er es, an unsere Berichte, unsere Akten, an unsere Informationen zu gelangen? Wieso tötet er so akkurat und woher hat er diese speziellen Kenntnisse?«

»Wieso sind wir seit vier Morden mindestens zehn Schritte hinter ihm?« David wirkte mehr und mehr genervt.

»Weil er gut ist! Und ich gebe Peter Becker recht. Wenn er es nicht will, dann werden wir ihn nie fassen. Lasst uns die zwei ersten Morde noch einmal betrachten.« Pete hatte das Fieber bereits gepackt. Das hier war nicht die übliche Täterermittlung. Das war neu, es war aufregend und Pete war bereit, sich dieser Aufgabe zu stellen. »Niklas Galanis wurde gefoltert und ermordet. Ihm wurden Gliedmaßen abgetrennt. Der Killer hat seinen Intimbereich komplett weggebrannt und das, als er noch am Leben war! Dann hat er ihn nach einigen Tagen auf ein Gleis in einen Klappstuhl gesetzt und von der S-Bahn überfahren lassen. Ein solches Vorgehen erfordert Disziplin, Konsequenz und Kraft. Viel Kraft, eine enorme Ausdauer und Selbstdisziplin. Inge Korf hingegen wurde erwürgt, das Genick gebrochen und post mortem die Kehle durchgeschnitten. Der Schnitt war so kräftig, dass der Killer ihr beinahe den Kopf abgeschnitten hat. Was fällt euch aber im Gegensatz zum Doppelmord auf?«

Eve und David schauten Pete mit großen leeren Augen an. Beide zuckten mit den Schultern.

»Die ersten Morde hat er nicht gefilmt!«

»Verdammt, Pete, du hast recht! Er hat seine Vorgehensweise geändert.« Jetzt kam langsam auch David auf den Geschmack und auf einmal brannte er.

»Genau! Er ändert seinen Modus Operandi. Er tötet seine Opfer noch immer mehrfach, aber jetzt filmt er zusätzlich ihren Tod! Warum erst jetzt? Entwickelt sich sein Hass weiter?«

»Ich denke, dass dies genau der Grund dafür ist. Seine Mission weitet sich aus. Er erkennt, dass seine potenziellen Opfer weitaus wichtiger und medienträchtiger sind, als wenn sie als reine Mordopfer angesehen werden. Er nimmt ihnen die Unschuld eines klassischen Mordopfers, indem er sie nun filmt, sie zu einem Geständnis zwingt. Er will, dass alle wissen, dass der wahre Abschaum der Menschheit pädophile Triebtäter sind. Wartet ab, es wird nicht mehr lange dauern und wir werden die Morde auf YouTube und Facebook sehen können.« Just in dem Moment klingelte Petes Telefon. »Sekunde, das ist Peter Becker! Herr Becker, was gibt es? Wirklich? Bitte schicken Sie uns sofort diese E-Mail! David, bitte geh sofort an deinen Rechner und spiel uns die E-Mail von Becker auf den Screen!«

David rannte zu seinem Arbeitsplatz, öffnete das Mailprogramm und leitete die eingegangene E-Mail direkt in den Konferenzraum.

 

»Sie werden alle fallen«

 

Sehr geehrter Herr Becker,

mit Verwunderung habe ich Ihren knappen Bericht gelesen. Ich will ehrlich sein. Ich habe mir das anders vorgestellt. Ich habe Sie mit allen relevanten Informationen versorgt und bin davon ausgegangen, dass Sie den ersten Bericht schärfer formulieren würden. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Ihr erster Bericht sollte in der Szene Angst und Schrecken verbreiten. Nun gut, die Headline und auch der Inhalt deuten in gewisser Weise in die gewollte Richtung.

Leider sehe ich mich jedoch gezwungen, einen kurzen Beitrag auf YouTube zu streamen. Herr Becker, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, das gilt im Übrigen auch für die Kollegen Beska und Richter, aber dieser Abschaum muss sich vor Angst in die Hose scheißen. Sie dürfen nicht mehr ruhig schlafen, aus Angst, als Nächster an der Reihe zu sein.

Der Stream wird um 13:47 Uhr veröffentlicht und ich könnte mir vorstellen, dass er viral geht!

Sie hätten aber auch die Möglichkeit, einen Onlineartikel innerhalb der nächsten drei Stunden zu veröffentlichen. Vielleicht haben Sie ja einen Bekennerbrief des Killers gefunden, in dem er seinen perfiden Plan preisgibt. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Ach, bevor ich es vergesse!

Hallo, Herr Beska,

rufen Sie bitte Dr. von Alvensleben an. Sie soll zuerst mit der DNS-Analyse der Couch beginnen. Sie wird dort Spermaspuren von Niklas Galanis finden. Es ist mein voller Ernst und es tut mir leid, dass ich Ihnen die Ermittlungserfolge vorwegnehme, aber hier geht es nicht mehr um persönliche Erfolge oder ein Vorangehen unter den Regeln der Dienstvorschriften. Wir haben keine Zeit, da jeden Tag Kinder missbraucht und ermordet werden. Dass das kein Ende nehmen wird, ist uns allen leider klar. Ich aber werde nicht mehr tatenlos danebenstehen und zusehen. Die kommenden Wochen werden Sie an den Rand des Unfassbaren bringen, denn auf meiner Liste stehen weitere Personen. Videos und Tatortfotos werde ich nur noch vereinzelt machen und Ihnen schicken, das kostet zu viel Zeit und ist zu aufwendig. Ich werde Ihnen in den kommenden Tagen weitere Tatorte, natürlich erst nach getaner Arbeit, zukommen lassen. Es wird keinen Unschuldigen treffen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.

Um eines klarzustellen. Die Polizei und das Bundeskriminalamt sind nicht meine Gegner, geschweige denn meine Feinde. Auch Sie nicht, Herr Becker! Sollten wir uns zufällig irgendwann einmal treffen, dann haben Sie nichts zu befürchten.

Und jetzt habe ich noch eine Bitte an Herrn Beska und an Herrn Richter.

Bitte informieren Sie Alexander Mier und Noah Schmidt, so wie das gesamte Team der Taskforce, dass ich Ihnen in den kommenden Tagen alle relevanten Daten zu HEAVEN zukommen lassen werde. Das BKA soll sich schon mal mit der Federale Politie in Verbindung setzen. Auch eine Schaltung mit Interpol und dem FBI halte ich für sinnvoll. Auf HEAVEN wird weltweit zugegriffen. Die IP-Adressen der aktivsten User von HEAVEN werde ich dem BKA für einen globalen Zugriff zur Verfügung stellen.

Ach, und bevor ich es vergesse: Ich bin ein Fan von Dr. Steinacker. Er ist ein Rockstar!!! 2015 war sein Jahr, als er maßgeblich an der Überführung und der Festnahme von Justus Wiedemann alias Flipp beteiligt war. Bitte richten Sie ihm meine herzlichsten Grüße aus.

 

»Pete, du rufst sofort Noah an. David, du kümmerst dich um Dr. von Alvensleben. Ich werde die Polizeipräsidentin informieren.« Deckers Tonfall war unmissverständlich.

Pete stand auf, stellte sich vor Eve und seinen Partner und sagte in seiner ruhigen und sonoren Stimmlage: »Und so viel zu unserem Modus Operandi! Er ist definitiv kein gewöhnlicher Serienmörder. In seinen Zeilen, in seiner Schreibweise ist nicht mal der Ansatz eines Psychopathen zu erkennen, geschweige denn Hinweise auf einen verwirrten Geisteszustand. Er hat alles bis ins kleinste Detail geplant. Er erhält Informationen, genauer gesagt kann er auf Informationen zurückgreifen, die uns im Leben nie zur Verfügung stehen werden. Das sind keine Morde, das ist ein Kreuzzug. Sein Kreuzzug!«

»Ich habe befürchtet, dass du das sagen wirst, denn ich hatte den gleichen Gedanken. Ich habe mich nur nicht getraut, ihn auszusprechen.«

David nickte seinem Partner zu, begleitet von einem tiefen Seufzer.