Kapitel 38

 

Der Mann schiebt die vorbereiteten E-Mails an das BKA, Interpol und an das FBI in den Terminordner und wählt als Versende-Datum den 29. Oktober, 15:45 Uhr. Er schaltet den Rechner aus, geht in das Zimmer seines Sohnes und beobachtet den schlafenden Jungen. Er setzt sich auf das Bett und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Er deckt ihn zu, verlässt das Zimmer und geht zu seiner Frau. »Hey, Babe, ich muss dann los.«

»Du passt auf dich auf, verstanden?«

»Ma’am, ja, Ma’am!« Sie boxt ihm auf den Arm. Er hält sich die getroffene Stelle, begleitet von einer übertriebenen Geste eines eingetretenen Schmerzes. »Klar pass ich auf mich auf. Das tue ich immer und das weißt du. Hast du dir mal Gedanken über meinen Vorschlag gemacht?«

»Nein, Babe, noch nicht. Komm erst einmal zurück, dann besprechen wir das gemeinsam.«

Der Mann umarmt seine Frau. Sie drückt ihn zur Verabschiedung fest und innig. Er geht in die Garage und steigt in sein Auto. Die Tasche ist bereits gepackt, sie liegt seit Tagen im Kofferraum. Er geht im Geiste seine Checkliste durch und hakt alles ab. Dann startet er den Motor und fährt los. Das Navigationssystem braucht er nicht. Die Route ist in seinem Kopf vorprogrammiert. Für die knapp 800 Kilometer wird er die ganze Nacht benötigen und es gibt bei Tag noch einiges, das er recherchieren muss. Auf den Satellitenbildern konnte er keine überirdischen Gebäude erkennen. Was befindet sich alles im Bunker? Werden dort auch die entführten Kinder und Jugendlichen gefangen gehalten? Was passiert mit den Opfern? Wo werden sie entsorgt? Der Mann denkt an die Täter, an alle Mitglieder der belgischen Zelle. Sein Plan sieht vor, dass er die acht Personen gemeinsam und während der Dreharbeiten exekutiert. Das hätte auch den Effekt, dass das Publikum live dabei sein kann. Die Nachricht würde somit vortrefflich auf diese speziellen Zuschauer wirken und endgültig Angst und Schrecken verbreiten. Da gibt es jemanden, der euch alle kennt und dieser Mann weiß, wo ihr wohnt!

Die Fahrt zieht sich, der Mann überlegt, ob er eine Pause einlegen soll. Die Lastkraftwagen, die die Ost-West-Route auf der A2 benutzen, quälen den Nachtverkehr durch unnötige Überholmanöver. Der einsetzende Regen macht die Fahrt nicht angenehmer, zwingt ihn jedoch, sich zu konzentrieren. Die einsetzende Müdigkeit verschwindet und er kommt seinem Ziel Kilometer um Kilometer näher.

Kurz bevor er die niederländisch/belgische Grenze überquert, kommt ihm eine Idee. Er steuert den nächsten Parkplatz an, sucht in seiner Tasche nach dem Wegwerfhandy und wählt eine Nummer.

»Decker?«

»Hallo, Frau Decker.«

»Mit wem spreche ich?«

»Können Sie sich das nicht denken?«

»Nein, das kann ich nicht. Kommen Sie bitte zum Punkt, es ist vier Uhr in der Früh und auf Spielchen habe ich keine Lust!«

»HEAVEN!« Decker stockt der Atem.

»Ich bin interessiert!«

»Gut! Sie kennen meine Arbeit und Sie kennen meine Nachrichten an Peter Becker?«

»Natürlich kenne ich diese Nachrichten, aber als Arbeit möchte ich Ihre Morde nicht bezeichnen.«

»Dann wissen Sie auch, dass ich die Strafverfolgungsbehörden unterstütze?«

»Unterstützen ist eine Auslegungssache. Ich sehe dies eher als Selbstjustiz und kriminelles Handeln eines Psychopathen.«

»Eigentlich können Sie das sehen, wie Sie wollen. Ich rufe auch nicht an, um mit Ihnen darüber zu diskutieren. Wollen Sie weitere Informationen oder sind Sie und Ihr Team in der Lage, die Ermittlungen auch ohne meine Mithilfe zum Erfolg zu führen?«

»Diese Frage stellt sich mir nicht. Ich kann und ich werde keine Unterstützung bei den Ermittlungen von Ihnen annehmen. Wir ermitteln bereits gegen Sie wegen vierfachen Mordes.«

»Sie meinen wohl eher wegen vierfacher Schädlingsbekämpfung!«

»Nein. Wir ermitteln wegen Mord. Sie haben vier Menschen kaltblütig ermordet und dafür werden wir Sie festnehmen und ein Gericht wird über Sie richten. Lassen Sie es uns einfach machen. Sie sagen mir, wo wir Sie finden können, und ich schicke mein Team zu Ihnen. Das könnte als strafmildernd für Sie gewertet werden.«

»Frau Decker, ich werde mit Ihnen nicht über Semantik streiten. Der Zweck meines Anrufes deckt einen völlig anderen Punkt in unserer Zusammenarbeit ab.«

»Unserer Zusammenarbeit? Wie soll ich das denn bitte verstehen?«

»Ich finde und töte die Drahtzieher von HEAVEN und überlasse Ihnen den Tatort. Um aber meinen guten Willen zu zeigen, werde ich Ihnen und dem BKA die Koordinaten der sich in Deutschland befindenden Serverfarm mitteilen. Die Betreiber dieser Serverfarm sind lediglich Priorität zwei und somit eignen sie sich hervorragend für eine prestigeträchtige Festnahme im Zentrum eines globalen Zugriffs der Strafverfolgungsbehörden. Also, was sagen Sie?«

»Was geschieht mit den Kindern? Was machen Sie mit den Kindern, die sich in deren Gefangenschaft befinden?«

»Das sagte ich Ihnen bereits. Ich überlasse Ihnen den Tatort. Den Kindern wird es den Umständen entsprechend gut gehen. Auch das können Sie somit als Ihren Erfolg verbuchen. Mir geht es nicht um Aufmerksamkeit.«

Eve Decker unterbricht den Mann. »Ihre E-Mails an Herrn Peter Becker und an die Berliner Allgemeine Zeitung lassen jedoch etwas anderes vermuten!«

»Die Aufmerksamkeit, die ich mit der Kontaktaufnahme zur BAZ erzeugen wollte, besteht darin, dass ich den vielen Pädophilen, die unter uns leben, Angst mache. Keines dieser widerlichen Schweine soll sich mehr sicher fühlen. Sie sollen denken, dass jeden Moment ihr klägliches Leben verwirkt sein könnte. Jedes Mal, wenn sie das Haus oder ihre Wohnung verlassen, sollen sie befürchten, als Nächster dran zu sein. Wie Ihnen vielleicht bereits aufgefallen ist, bin ich sehr gut in dem, was ich tue. Das Töten wurde mir von Grund auf beigebracht. Diese Kunst konnte ich in zwei Jahrzehnten perfektionieren. Lassen Sie sich nicht von meinem akzentfreien Deutsch irritieren.«

Eve Decker unterbricht den Mann erneut. »Wie habe ich das denn zu verstehen?«

»So, wie ich es gesagt habe. Sie werden nur das herausfinden, was ich Ihnen zuspiele und überlasse. Wieso hat das BKA bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keinerlei Ermittlungserfolge erzielen können? HEAVEN ist zu gerissen, zu gut organisiert und vor allem zu skrupellos. Alles bisher Dagewesene, das in Verbindung zu Kinderpornografie und Snuff steht, kann es nicht einmal im Ansatz mit HEAVEN aufnehmen. Dieses Netzwerk ist einzigartig. HEAVEN hat seinen eigenen bösen Unique Selling Point kreiert und sich in wenigen Monaten eine teuflische treue Gefolgschaft aufgebaut. Verstehen Sie denn überhaupt, was das bedeutet? Die Hemmschwellen der Personen, die bis jetzt nur in ihren eigenen perversen Fantasien gelebt haben, werden sinken. Es werden mehr und mehr Übergriffe auf Kinder stattfinden und die Brutalität gegenüber den Schwächsten unserer Gesellschaft wird rapide ansteigen. Auch die Anzahl der Serienmörder wird in Europa sowie in den USA signifikant zunehmen. Das darf und das kann ich nicht zulassen. Ich werde diese Zelle auslöschen und das mit der größtmöglichen Gewalt und Brutalität, die ich in der Lage bin auszuüben. Das, was ich Galanis, Korf, Leipold und Fiore angetan habe, war erst der Anfang. Die Betreiber von HEAVEN werden nicht so glücklich davonkommen.«

»Mir ist bewusst, dass ich Ihnen das nicht ausreden kann, warum aber rufen Sie mich an? Um mir Ihre Story zu erzählen? Wieso suchen Sie den Kontakt zu uns? Zu mir? Sie haben Ihre Entscheidung getroffen und begehen Ihren eigenen Kreuzzug. Ist Ihnen das vielleicht zu langweilig geworden und nun stacheln Sie uns zu einem Katz-und-Maus-Spiel an? Seien Sie sich sicher, dass wir auch ohne Sie HEAVEN überführen werden. Auch werden wir Sie ausfindig machen und festnehmen. Das ist nur eine Frage der Zeit.«

»Und bis dahin werden weitere Kinder entführt, vergewaltigt und ermordet! Wenn Sie es für wichtig erachten, dann ermitteln Sie gegen mich. Verschwenden Sie nur keine Zeit, denn jeder Tag, den Sie nicht ausschließlich der Ermittlung gegen HEAVEN widmen, ist ein verlorener Tag. Irgendwann müssen Sie sich die Frage stellen, ob die vielen misshandelten und gequälten Kinder auf Ihre Kappe gehen! Das, was ich Ihnen mitgeteilt habe, werde ich in die Tat umsetzen. Sollte die Berliner Polizei kein Interesse daran haben, die ihr zur Verfügung gestellten Fakten zu nutzen, können Sie die Informationen auch gern an einen anderen Dienst weitergeben. Ich verabschiede mich nun, da es Dinge gibt, um die ich mich jetzt kümmern muss.«

Der Mann nimmt die SIM-Karte aus dem Handy, zerschneidet sie mit seinem Messer, startet den Wagen und setzt seine Fahrt fort. Sein Ziel ist nur noch wenige Stunden entfernt. Die einsetzende Aufgeregtheit wird von seiner Routine unterdrückt. Zu oft befand er sich in ähnlichen Situationen. Das Töten ist sein Handwerk, er hat es von der Pike auf erlernt, es ständig verfeinert und jetzt bereitet es ihm endlich auch Freude.