Kapitel 40

 

Der Mann erblickt das Schild ›Brugge Centrum‹. Das Jagdfieber, das bereits die gesamte Fahrt anhält, ist kurz davor, mit ihm durchzugehen. Er atmet tief ein, hält den Atem an, dann lässt er die Luft langsam und gleichmäßig entweichen. Er hat sich wieder unter Kontrolle. Sein erstes Ziel ist Miel Willems, zweiundvierzig Jahre alt und von Beruf Rechtsanwalt. Rechtsanwalt? Diese Frage hatte er sich bereits im Flugzeug gestellt. Miel ist einer der maskierten Vergewaltiger und er ist ein Rechtsanwalt? Er kann es noch immer nicht fassen.

Plötzlich steht er vor einem großen Haus in einem Vorort von Brügge. Wie in Trance ist er die Strecke durch Brügge zu Miel Willems gefahren. Das Haus ist im Stil der frühen Renaissance gebaut und sieht prächtig aus. Es sticht aus der Masse der Fertighäuser und Stadtvillen wie ein Kleinod hervor. Die großen Fenster lassen in das Innere des Hauses blicken, das edel wirkt und über eine hochwertige exklusive Inneneinrichtung verfügt. Entgegen den üblichen belgischen Häusern scheint es, dass Miel eher den niederländischen Stil liebt. Keines der großen Fenster im Erdgeschoss ist mit Gardinen versehen und bietet somit einen erstklassigen Einblick in die Räumlichkeiten. Er sieht eine große männliche Gestalt das Wohnzimmer betreten. Er erkennt die circa zwei Meter große Gestalt sofort. Es ist Miel. Miel läuft telefonierend durch das Wohnzimmer und er ist mächtig. Sein massiger Bauch rundet seine imposante Statur ab. Als Miel auflegt, kommt eine Frau ins Wohnzimmer. Sie ist klein und eher zierlich. Durch das Fenster kann der Mann erkennen, dass die Frau um ein Vielfaches jünger als Miel ist. Als sich Miel auf einen Sessel setzt, stürmen augenblicklich zwei Jungs ins Wohnzimmer und klammern sich an ihn. Er drückt sie liebevoll, er gibt ihnen Küsse. Du ekelhaftes Dreckschwein. Du machst hier einen auf heile Familie und in deiner Freizeit vergewaltigst und ermordest du Kinder!

Der Mann wendet sich angeekelt ab. Er hat genug gesehen. Er startet den Wagen und steuert sein zweites Ziel an. Gust Claes, sechsundzwanzig Jahre alt, von Beruf Erzieher. Gust wohnt in einem Appartementblock. Das wird nicht so leicht wie eben. Der Mann wartet eine Weile vor dem Appartementblock, dann startet er den Wagen und fährt zur Einrichtung, in der Gust arbeitet. Die Kindertagesstätte liegt mitten in Brügge. Das Foto, das dem Mann vorliegt, ist aktuell. Er kann den dicken, schwammigen, jungen Mann sofort erkennen. Gust steigt aus der Straßenbahn und läuft in Richtung der Tagesstätte. Gust ist etwa einen Meter neunzig groß und er ist dick! Durch seine Glatze und den wulstigen Schädel wirkt Gust wie ein Schlachter. Und der ist ein Erzieher? Der Mann fühlt sich wie in einem schlechten Film. Der Kontrast zwischen heiler Welt und Hölle ist surreal.

Sein drittes Ziel ist Antoine Lambert, achtundvierzig Jahre und von Beruf Metzger. Obwohl selbst er es für unangebracht hält, kann er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Verdammt, ich habe Hunger. Antoine Lambert hat eine eigene Metzgerei. Der Mann parkt vor dem Ladengeschäft und betritt die Meat Boutique Lambert. Der Mann lebt seit mittlerweile acht Jahren in Deutschland, dem Land der Bäckereien und Metzgereien. So eine Metzgerei hat er jedoch noch nicht zu Gesicht bekommen. Die Meat Boutique ist nicht einfach nur eine Metzgerei, sie ist eine Offenbarung für jeden Carnivoren. Die Meat Boutique ist etwa 150 Quadratmeter groß. Es gibt keine klassische Fleisch- und Wursttheke. Der gesamte Laden ist unterteilt in kleine Präsentationsstände, die die Überschriften tragen: Beef, Pork, Chicken. Massives dunkles Holz, gedimmtes Licht, das von schweren Kronleuchtern effektvoll verbreitet wird, und in Szene gesetztes Fleisch verleihen der Meat Boutique die Anmut einer Kunsteinrichtung. Zu seiner Linken stehen eingelassen in der Wand drei große Dry-Age-Kühlschränke. Sie sind bestückt mit dem edelsten an Fleisch, was der Mann jemals zu Gesicht bekommen hat. Er reibt sich die Augen. Er vermag es nicht zu glauben, was ihm hier gerade widerfährt.

» Ik zie je enthousiasme. Hoe kan ik u helpen? « Der Mann zuckt zusammen und blickt in das breit grinsende Gesicht von Antoine Lambert. Noch nie zuvor stand er vor einem dermaßen großen und mächtigen Mann. Die schwarze Schürze, die Antoine Lambert trägt, schafft es nicht, den dicken Wanst zu verdecken.

»Entschuldigung, aber ich spreche kein Niederländisch.«

»Das ist kein Problem, mein Herr. Außerdem muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, Sie so zu erschrecken. Was darf ich Ihnen Gutes tun?«

Der Mann muss sich zusammenreißen. Seine rechte Hand zuckt und greift automatisch nach seinem Kampfmesser. Am liebsten würde er Antoine gleich hier und jetzt das Leben nehmen, aber das würde seinen gesamten Plan zerstören. »Ich bin so begeistert von diesem Store, aber ich komme nur, um etwas zu essen. Ich bin auf einer Reise, somit kann ich leider keines dieser großartigen Stücke Fleisch kaufen.«

»Das ist sehr schade, aber natürlich kein Problem. Bitte kommen Sie mit mir.« Antoine begibt sich hinter einen der Präsentationsstände. Es duftet herrlich und der Mann vergisst kurz den Zweck seines Besuchs. »Mein Herr, bevorzugen Sie feine Pastrami, ein saftiges Brisket oder lieber Prime-Rib?«

Der Mann versteht die Welt nicht mehr. Er erblickt die drei Fleischsorten, die dampfend hinter der Glasscheibe darauf warten, von ihm verspeist zu werden. Antoine kennt diese Reaktion seiner Kunden nur zu gut. Er greift nach der Fleischgabel und reicht ihm ein Stück vom Prime-Rib. Verwundert, aber voller Freude greift der Mann nach dem Stück Fleisch und steckt es sich in den Mund. Er schließt die Augen. Das ist kein Fleisch, das ist eine Offenbarung. Das warme, perfekt gewürzte Fleisch schmilzt unter seinem Gaumen. Ein geschmackliches Feuerwerk aus zartem Rindfleisch und edelsten Gewürzen erreicht sein Gehirn und löst in ihm ein ungeahntes Glücksgefühl aus. Was passiert hier? Antoine kennt auch diese Reaktion. Er bereitet dem Mann das beste Sandwich zu, das dieser jemals gegessen hat. Ein weiches Sourdough Sub, so wie er es nur aus den Staaten kennt, etwas Mayonnaise und Dijon Senf, gekrönt mit einem saftigen dampfenden Prime-Rib und einer Dill-Gurke. Der Mann beißt in das Sandwich. Eine Träne bildet sich in seinem linken Auge. Das kann nicht real sein! Antoine genießt diesen Augenblick. Diese Reaktion zeigen alle seine Kunden. Das ist sein Geheimnis und sein Erfolg. Seine Meat Boutique in Brügge ist die erste Adresse für Fleisch in ganz Belgien. Diesen Erfolg hat er sich hart erarbeitet und er beruht auf konsequenter energischer Social-Media-Arbeit und natürlich auf der erstklassigen Qualität seiner angebotenen Produkte. Seine andere Leidenschaft, sein dunkles Hobby, war hier nicht zu erkennen.

Antoine bereitet wie üblich direkt ein weiteres Sandwich zu. Diesmal jedoch mit Pastrami. Er packt es geschmackvoll ein in schwarzes Pergament und gibt es dem Mann. Dieser ist noch immer wie verzaubert. Wie kann Essen in der Lage sein, mich so zu verzaubern? Der Mann bedankt sich, zahlt den horrenden, aber gerechten Preis für die beiden Sandwiches und verlässt glücklich die Meat Boutique .

Was war das denn eben? Er ist noch immer völlig perplex über das, was ihm gerade widerfahren ist. Er steigt in seinen Wagen, lehnt sich zurück und isst den Rest von seinem Prime-Rib-Sandwich. Er startet den Wagen und gibt die Koordinaten 51°10'10.9"N 3°08'39.9"E in sein GPS ein.

Kurz vor Erreichen seines Ziels, mittlerweile ist es siebzehn Uhr und stockdunkel, biegt der Mann in ein kleines Waldstück ab. Er parkt den Wagen, steigt aus und begibt sich zum Kofferraum. Er öffnet die Tasche, greift nach seinem schwarzen Overall, dem Kampfhelm mit den aktiven Schallschutzkopfhörern und seinem Nachtsichtgerät L3Harris. Er hat sich für das L3Harris entschieden, da die vier Linsen eine perfekte Panoramasicht ermöglichen. Schusswaffen benötigt er nicht. Sein Ka-Bar Kampfmesser ist seine effektivste Waffe. Außerdem ist seine halbautomatische SFP9 sowie sein Sturmgewehr HK 416 auch mit den Schalldämpfern und der Unterschallmunition noch immer zu laut. Stets amüsierte er sich, wenn in Filmen schallgedämpfte Waffen immer nur ein leises ›Plopp‹ machten und er fragte sich, warum die Regisseure sich nicht von Profis beraten ließen. Allein der Schlitten der Waffe hinterlässt beim Wiederdurchladen ein metallisches Klicken, das sich in der Stille wie der Schlag eines Vorschlaghammers auf Metall anhört.

Er zieht sich den Overall an, fixiert den High cut Helm und klappt das Nachtsichtgerät vor seine Augen. Die Sicht durch das L3Harris lässt die stockdunkle Umgebung in einem hellen weißen Licht erscheinen. Die aktiven Schallschutzkopfhörer haben den Vorteil, dass die Umgebungsgeräusche verstärkt werden und im Falle einer Schussabgabe den auftretenden Schall komplett unterdrücken. Nachdem er sein Messer im Kydex Holster griffbereit an seinem Gürtel befestigt hat, steuert er den unterirdischen Bunker an. Nach einigen Minuten sieht er die Lichtung, eingefasst von großen alten Eichen. Wenn er sich nicht blind auf seine Unterlagen verlassen könnte, würde er an dieser Stelle keine geheime Bunkeranlage vermuten. Er sucht sich einen Platz im Unterholz und beobachtet das Gelände.

Er muss nicht lange warten. Gegen neunzehn Uhr erblickt er den Lichtkegel eines Scheinwerfers. Er klappt das Nachtsichtgerät nach oben, um nicht von den Scheinwerfern geblendet zu werden, und beobachtet das herannahende Auto. Gerade als das Auto parkt, nähern sich weitere PKW. Unter den Personen, die die Autos verlassen, erkennt der Mann Miel, Gust und Antoine. Dann müssen die übrigen Personen der Rest der Crew sein. Der Mann zählt sieben Personen . Wer fehlt wohl noch? Als plötzlich ein weiteres Auto die Lichtung erreicht, erübrigt sich die Frage. Jeanette Olong kommt in einem mattschwarzen Bentley GT. Sie trägt ein schwarzes Kostüm und eine weiße Bluse. Ihre Dominanz ist selbst in dieser Dunkelheit nicht zu übersehen. Niemand begrüßt sich. Der Mann kann beobachten, wie Gust und Miel ein Stück des Rasens wie einen Teppich zusammenrollen. Antoine bückt sich und hebt eine sichtlich schwere Falltür an, welche er nach oben stemmt, um sie zu öffnen. Da die Scheinwerfer der Autos mittlerweile ausgeschaltet sind, klappt der Mann sein L3Harris wieder vor seine Augen. Er wundert sich, denn die Falltür steht noch offen. Kurz darauf sieht er, wie Gust aus der geöffneten Falltür erneut ins Freie steigt, zu einem der Wagen läuft und den Kofferraum öffnet. Er bückt sich mit seinem gesamten Oberkörper in das Fahrzeuginnere und kommt mit einem kleinen schlaffen Körper auf seinen Armen heraus. Es scheint, als ob der Körper sehr leicht ist, denn Gust schließt mühelos mit einer Hand den Kofferraum, während er den schlaffen Körper auf nur einem Arm trägt. Auf diese Gelegenheit hat der Mann gewartet. Er schleicht im Schutze der Dunkelheit aus seinem Versteck. Lautlos nähert er sich Gust in schnellen katzenhaften Schritten, der nichts ahnend in Richtung der offenen Falltür läuft. Kurz bevor Gust die Falltür erreicht, zückt der Mann sein Kampfmesser. Die scharfe Klinge dringt geschmeidig durch Haut und Sehnen, als er Gust das Messer in den Nacken rammt. Die Klinge durchtrennt die Hauptstränge der Nerven in der Wirbelsäule. Noch bevor Gust begreifen kann, was gerade mit ihm passiert, ist er bereits tot. Der Mann reagiert blitzschnell und greift nach dem schlaffen Körper, der Gust aus den Armen gleitet. Der weiche grasige Untergrund verschluckt den dumpfen Aufprall von Gusts massigem Körper vollständig. Der Mann legt den schlaffen kleinen Körper behutsam auf das Gras. Dann geht er wieder zu Gust und wuchtet ihn auf seine Schultern. Er trägt ihn abseits der Lichtung zum Unterholz und wirft ihn auf den Boden. Gusts Körper klatscht wie eine tote Schweinehälfte auf den Waldboden. Es scheint, als ob der massige fette Körper durch die Wucht des Aufpralls nachwippt. Voller Verachtung schaut er in Gusts totes Gesicht. Jetzt ist keine Zeit für deinen zweiten Tod. Aber verlass dich drauf, ich werde mich später darum kümmern.

Der Mann läuft im Schutze der Dunkelheit zu dem bewusstlosen, auf dem Gras liegenden Körper. Er nimmt den kleinen Jungen auf seinen Arm. Der Junge, er schätzt ihn auf etwa sechs bis acht Jahre, ist mit einem Sedativum stark betäubt. Er untersucht den Jungen, fühlt seinen Puls und erkennt, dass dieser normal schlägt. Wie lange, mein Großer, wirst du wohl noch schlafen? Da die anderen sicher schon auf Gust und den Jungen warten, muss er sich beeilen. Er nimmt den Jungen, trägt ihn zu einem der Autos und öffnet die Hintertür des grauen Volvos.

»Es tut mir leid, mein Großer, aber ich muss dich gefesselt lassen. Ich beende das hier und dann kümmere ich mich um dich. Dir wird nichts passieren. Das verspreche ich dir.« Der Junge kann ihn nicht hören. Das Sedativum ist stark und er schläft tief und fest. HEAVEN will während der Vorbereitungen seiner Streams keine Schreie hören. Das kommt erst, wenn der Stream gesendet wird, denn das liebt die Community!

Leise schließt der Mann die Autotür und läuft in Richtung der Falltür. Eine steile Treppe führt hinab in die Bunkeranlage. Er schaut sich um, kann aber keine Überwachungskameras entdecken. Seid ihr Schweine euch eurer Sache so sicher? Leise und behutsam schleicht er die Treppe hinunter. Noch immer ist der gesamte Bereich in tiefe Dunkelheit getaucht, somit kann er sich weiter auf sein Nachtsichtgerät verlassen. Am Fuße der Treppe angekommen, hört er entfernt, verstärkt durch seinen aktiven Gehörschutz, leise Geräusche und Stimmen. Er blickt in einen dunklen langen Gang. Die Beleuchtung im Bunker ist entweder ausgeschaltet oder sie funktioniert nicht . Gut für mich und Pech für euch , denkt er sich und begibt sich in Richtung der Geräusche. In den Wänden des Ganges bemerkt der Mann schmale Nischen, die zu weiteren Gängen führen. Auch diese sind unbeleuchtet und voller Spinnweben. Okay, hier ist bis jetzt noch keiner gewesen. Als der Mann wieder in Richtung des Ganges schaut, kann er gerade noch erkennen, dass eine große Person den Raum am Ende des Ganges verlässt und in Richtung der Falltür läuft. Der Mann dreht sich geschickt zur Seite und verschwindet in einer der Nischen. Als die große Person an der Nische vorbeiläuft, erkennt er Miel.

Miel flucht und ruft lautstark nach Gust. »Gust, du fetter dämlicher Hurensohn, wo bleibst du? Jeanette ist schon stinksauer und wir wollen endlich anfangen!«

Der Mann windet sich aus seiner Nische, tritt hinter Miel und gibt einen kaum hörbaren, aber gewollten Ton von sich. Miel fährt erschrocken herum, kann aber nichts erkennen, da der Mann sich gebückt hat. Verwundert blickt Miel in die Richtung, aus der er gekommen ist, als ihn plötzlich ein stechender Schmerz, gefolgt von einem klatschenden Geräusch, durchfährt. Miel greift sich an den Bauch. Alles ist nass und warm, er kann etwas Fleischiges fühlen, das glitschig durch seine Finger rinnt. Der Mann tritt zur Seite. Der schwache Schein vom Ende des Ganges reicht aus und Miel sieht, wie er seine Gedärme in den Händen hält. Wortlos und unter Schock fällt Miel auf seine Knie. Der Mann dreht den Knauf seines Kampfmessers. Er nimmt das Messer in die Faust. Miel dreht sich benommen zur Seite, schaut mit starren Augen in das Gesicht des Mannes, sich noch immer nicht bewusst, was gerade passiert ist. Der Mann drückt sein Messer, als ob er Miel schlagen wollte, mit ausgestrecktem Arm durch Miels Kehle, dann zieht er seinen Arm in einem leichten Bogen nach oben und stößt die Klinge mit voller Kraft in seinen Kopf. Er stößt die Klinge mit einer solchen Wucht in Miels Schädel, dass die Schädeldecke mit einem lauten Krachen entzweibricht.

Zwei hinüber. Fehlen noch sechs! Der Mann kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, ermahnt sich jedoch und findet sofort zu seiner Routine zurück. Er durchsucht Miels Taschen und findet sein Handy. Mal schauen, ob ich dich noch gebrauchen kann. Per Face-ID entsperrt er Miels Handy. Er muss sich beeilen, da das Blut bereits über Miels Gesicht läuft. Er schaltet das Handy auf stumm und steckt es ein, dann schleicht er behutsam an der rechten Wandseite weiter in Richtung des schwachen Lichtes zum Ende des Ganges. Die Geräusche werden Meter um Meter lauter. Eine weibliche, nicht zu überhörende Stimme gibt Anweisungen in einem militärischen Ton. Das wirst wohl du sein, Jeanette. Und keine Sorge, mein Täubchen, dich wird es heute auch noch erwischen.

Das Licht wird heller, er hat das Ende des Ganges erreicht. Die Räumlichkeiten sind nun wieder ausreichend ausgeleuchtet, somit benötigt er sein Nachtsichtgerät nicht mehr und klappt es hoch. Er blickt in den circa 250 Quadratmeter großen Raum und erkennt im hinteren Teil ein bereits aufgebautes und ausgeleuchtetes Filmset. Er zählt weitere vier Personen. Ein Mann steht hinter einer der Kameras, aufgeregt gestikulierend mit einer Frau, die, wie es scheint, die Ausleuchtung des Filmsets zu optimieren versucht. Ein weiterer Mann steht an etwas, das aussieht wie ein Mischpult. Direkt neben ihm kann er Jeanette Olong erkennen. Sie wirkt unentspannt, redet wild auf den Mann am Mischpult ein. Okay, mein Täubchen, du hast die Waffe und du kannst damit umgehen. Der Mann scannt die verbleibenden Ecken des großen Raumes und erkennt einen Gang gleich zu seiner Linken. Durch ein Geräusch aufgeschreckt, tritt er einige Schritte zurück ins Dunkel. Er erkennt Antoine, wie er neben einem kleinen untersetzten Mann mit Glatze den Gang verlässt und in Richtung des Filmsets läuft. Antoine ist nackt und trägt etwas in der Hand, dass wie eine schwarze Maske aussieht. Antoine wirkt neben diesem kleinen untersetzten Mann noch mächtiger, noch brutaler. Sein freundliches Gesicht, das er in seiner Meat Boutique aufgesetzt hatte, ist einem fiesen und höllischen Grinsen gewichen. Geschmeidig wie eine Katze gleitet der Mann in den Gang. Auch hier ist das Licht an. Keine fünf Meter weiter befindet er sich in einer Garderobe mit Schminkspiegel und Requisiten. Sofort fällt ihm die Pistole P320 von Sig Sauer auf. Liebes HEAVEN-Team, ich bedanke mich schon mal jetzt, dass ihr euch alle so sicher fühlt und ihr jede Sicherheitsmaßnahme außer Acht lasst. Der Mann nimmt die Sig, zieht den Schlitten der Pistole einige Zentimeter nach hinten und checkt, ob sich eine Patrone im Patronenlager befindet, dann nimmt er das Magazin heraus. Es ist komplett geladen. Er drückt das Magazin wieder in die Waffe und steckt sie ein. Er verlässt die Garderobe und begibt sich zum großen Raum.

Am Filmset befinden sich die verbliebenen sechs Personen von HEAVEN. Antoine hat es sich zwischenzeitlich auf dem Bett gemütlich gemacht. Er masturbiert ungeniert vor der übrigen Crew.

Plötzlich schreit ihn Jeanette an. »Antoine! Hör auf dir einen runterzuholen und schau nach Gust und Miel. Die zwei fetten Ärsche sollen endlich den Scheißjungen herbringen. Der Stream startet in dreißig Sekunden. Ich werde noch irre euretwegen!«

Antoine, der mittlerweile seine schwarze Maske aufgesetzt hat und wie ein nackter Henker aus dem Mittelalter aussieht, schwingt behäbig seinen massigen Körper vom Bett und setzt sich in Bewegung. Sein erigierter Penis sticht hervor wie eine Lanze. Der Stream startet und Jeanette begrüßt ihre Community. Ihre Angespanntheit ist wie weggeblasen. Sie ist in ihrem Element.

Als Antoine das Filmset verlassen will und aus dem blendenden Licht der Kameras tritt, benötigen seine Augen einige Sekunden, bis sie sich an die mittlerweile dunkle Umgebungsbeleuchtung gewöhnen können. Eine ebenso große mächtige Gestalt steht vor ihm. Antoine schaut ihr direkt in die Augen. Er erkennt den unentschlossenen Kunden aus seiner Meat Boutique sofort. Noch bevor er reagieren kann, trifft ihn das Kampfmesser in seinen Genitalien. Mit einem starken und geschickten Schwung trennt ihm der Mann das erigierte Glied ab. Antoine gibt einen grellen unmenschlichen Schrei von sich und taumelt rückwärts in die Mitte des Filmsets. Das Blut spritzt aus der Wunde und verwandelt das Set augenblicklich in die Szene eines Splatter-Movies. Jeanette sowie die vier weiteren Personen können den Vorgang noch nicht begreifen. Sie stehen starr an ihren Plätzen. Rick, der Kameramann, reagiert intuitiv, richtet die Kamera auf den schreienden und ausblutenden Antoine.

Jeanette ist die Erste, die sich wieder im Griff hat. Sie brüllt Simon an, der die Übertragung steuert, den Stream sofort zu stoppen. Simon kann nicht mehr antworten. Blutend sackt er in sich zusammen. Der Mann hat ihm das Kampfmesser in die Niere gerammt. Der ohrenbetäubende Knall der abgefeuerten P320 lässt alle zusammenzucken. Jeanette, die von etwas am Hals getroffen ist, wird nach hinten geworfen. Totenstille!

Lotte und Richard stehen wie angewurzelt auf ihren Plätzen. Rick, der noch immer die Kamera auf den am Boden liegenden Antoine richtet, schwenkt bei dem Schuss zu Jeanette. Dann wieder zu Antoine. Das Weitwinkelobjektiv lässt es zu, dass der Zuschauer beide Szenen hat verfolgen können. An den Scheinwerfern stehen Lotte und Richard noch immer starr vor Angst auf das Filmset blickend. Von Antoine ist nur noch ein klägliches Röcheln zu hören. Das Blut aus seiner Wunde hat sich zu einer großen Pfütze ausgebreitet, in der er sich wie ein Aal windet. Der Mann beobachtet die drei verbliebenen und noch unverletzten Personen, aber sie tun nichts, außer starr und unbeteiligt dazustehen. Er geht zu Simon, packt ihn an Nacken und Gürtel und schleudert ihn mitten ins Filmset. Simon landet mit einem klatschenden Geräusch auf Antoine und in dessen Blut. Simon, der noch nicht tot ist, stöhnt laut auf. Antoine hat es mittlerweile hinter sich. Plötzlich regt sich der totgeglaubte Körper von Jeanette. Sie hebt ihren Kopf und blickt auf das vor ihr liegende Chaos. Aus der Wunde an ihrem Hals strömt das Blut. Sie will sich aufrichten, bricht jedoch sofort wieder zusammen.

Dann betritt Lotte das Set, in der Hand eine schwere Metallstange haltend. Sie läuft auf Jeanette zu, hebt die Metallstange über ihren Kopf und zertrümmert Jeanette den Schädel. Lotte braucht acht Schläge, bis sich der Schädel von Jeanette zu einer blutigen Masse aus Fleisch, Knochen und Hirnmasse verwandelt hat. Sie dreht sich um und blickt zu Simon. Simon begreift, dass jetzt er an der Reihe ist und schreit auf Lotte ein. Er fleht um sein Leben. Er jammert, winselt und die Tränen laufen in Sturzbächen über sein Gesicht. Lotte, die nichts von dem, was der um Gnade flehende Simon von sich gibt, registriert, hebt die schwere Metallstange ein weiteres Mal. Sie schlägt emotionslos auf Simon ein, der voller Panik schützend seine Arme vor sein Gesicht hält. Die schwere Metallstange zertrümmert alles, was sich ihr in den Weg stellt. Lotte schlägt weiter und weiter, gefolgt von einem lauten Krachen auf Simons Schädel ein. Die Arme, die Simon schützend vor sein Gesicht hält, brechen durch das Gewicht der Metallstange wie Strohhalme. Simon hat es bereits nach drei Schlägen überstanden, aber Lotte schlägt weiter. Als sie begreift, dass auch Simon nur noch aus blutigen Knochenfragmenten und Gehirnmasse besteht, blickt sie weinend und blutverschmiert in die Kamera. Ein weiterer Schuss zerreißt die eingetretene Stille und der Zuschauer sieht, wie die Kugel zwischen Lottes Augen einschlägt. Die Kamera fängt den Moment perfekt ein und der Zuschauer kann sehen, wie Lottes Augen den erlösenden tödlichen Schuss herbeisehnen.

Dann ist die Kamera aus. Der Mann leuchtet mit seiner Taschenlampe erst auf Rick, dann auf Richard. Richard, der wie ein Häufchen Elend auf seine Knie sinkt, jammert und fleht um sein Leben. Der erste Schuss trifft Richards Hoden, er fällt zur Seite. Der zweite Schuss feuert auf die gleiche Stelle. Die Kugel zerfetzt drei Finger der Hände, mit denen sich Richard den zerschossenen Hoden hält. Der Mann geht auf Rick zu. Rick schaut ihn an und weiß, dass Flehen keinen Sinn mehr macht.

»Dann ist es jetzt so und …!«

Noch bevor Ricks seinen Satz beenden kann, rammt der Mann das Messer in sein linkes Auge und reißt die Klinge nach rechts, wobei er ihm den Nasenrücken durchtrennt und durch den vorderen Hirnlappen schneidet. Rick sackt tot zu Boden. Der Mann zieht die Klinge aus Ricks Schädel und läuft zu Richard, der sich noch immer schreiend auf dem Boden windet. Der Mann bückt sich und beobachtet den winselnden Richard einige Sekunden lang. Richard, der vor Angst und Schmerzen wie gelähmt wirkt, kann den Blick nicht erwidern. Der Mann verstärkt den Griff um sein Messer, setzt es an und schneidet tief in Richards Oberschenkel. Die durchtrennte Arterie lässt Richard binnen weniger Minuten ausbluten. Eine beruhigende Stille tritt ein.

Gleichgültig wirft der Mann die Pistole auf die Leichen am Set und verlässt den Bunker, ohne sich noch einmal umzudrehen. Seine Arbeit ist getan. Er geht zum Volvo und öffnet die Tür zum Rücksitz. Der Junge steht noch immer unter dem Sedativum, sein Puls ist stabil. Er schließt die Tür und geht zu Gusts Leichnam. Erneut schaut er nur verachtend auf die Leiche des toten Erziehers. Glühender Hass kommt in ihm auf. Er greift nach seinem Ka-Bar und setzt das Messer an Gusts rechtem Ohr an. Er zieht die Klinge mit einem Schwung durch Gusts Backe und Mund bis zum linken Ohr. Der Mann steht auf und blickt zufrieden auf sein getanes Werk. Jetzt darfst du Dreckschwein grinsen .