Kapitel 42

Dienstag, der 29. Oktober 2019, 19:30 Uhr

Altenhof, Siegerland

 

Justus Wiedemann schaut wie erstarrt auf den Monitor seines Computers. Die Frau mit der Eisenstange in der Hand schlägt ohne Pause auf Jeanettes Kopf ein. Durch das Mikrofon, das Jeanette für die Übertragung trägt, krachen die Schläge der Eisenstange wie Kanonenschläge auf ihren Kopf ein. Die dumpfen Laute der Schläge weichen bald einem schmatzenden klatschenden Geräusch. Die schwere Eisenstange hat mittlerweile den Schädel zertrümmert. Die Frau schlägt weiter ohne Pause auf eine undefinierbare Masse aus Hirn, Blut und Knochenresten ein. Lotte! Was tust du da? Lotte dreht sich um, fixiert den am Boden liegenden, wimmernden Mann und wiederholt ihre Schlagorgie auf Simons Kopf. Justus Wiedemann überkommt ein beklemmendes Gefühl. Als eine Kugel Lotte zwischen die Augen trifft, kann er sich nicht mehr kontrollieren. Er übergibt sich über seine Tastatur. Der Stream bricht ab.

Justus Wiedemann zieht sein Hemd aus und wischt sich den Mund ab. Bittere Galle läuft ihm durch die Nase. Er ist nicht in der Lage, den Würgereiz zu unterdrücken. Er geht ins Bad, dreht den Wasserhahn auf und spült sich den Mund aus. In seinem Kopf spielen sich die wildesten Szenarien ab. Was ist in Brügge geschehen? Wer hat Antoines Schwanz abgeschnitten und wer hat Jeanette in den Hals geschossen? War das vielleicht Lotte? Nein, das kann sie nicht gewesen sein. Auch ihr wurde in den Kopf geschossen. Außerdem ist sie viel zu zierlich, viel zu schwach. Jemand hatte Simon regelrecht ins Filmset geworfen. Das kann Lotte unmöglich geschafft haben. Gust und Miel? Wo waren die beiden? Ihnen kann er es zutrauen. Sie sind groß und sehr stark und vor allem sind sie brutal. Das müssen sie gewesen sein. Aber warum hätten sie das tun sollen? Justus Wiedemann grübelt, aber er kann sich keinen Reim darauf machen.

Er geht in die Küche, sucht nach einer Mülltüte. Wieder zurück im Arbeitszimmer zieht er den USB-Stecker der Tastatur aus dem Rechner und wirft sie mit dem schmutzigen Hemd in die Mülltüte. Der Gestank seines Erbrochenen hat sich mittlerweile im gesamten Arbeitszimmer ausgebreitet. Er öffnet ein Fenster und atmet die frische kalte Herbstluft tief ein. Langsam verflüchtigt sich der Gestank und er ist in der Lage, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Er geht zum Schrank, greift nach einer alten Tastatur und schließt sie am Rechner an. Vor einigen Tagen gab es doch den Bericht in der Berliner Allgemeinen Zeitung! Er öffnet die Suchmaschine auf seinem Rechner. Da ist es: Doppelmord im Pädophilen-Milieu! Zwei Männer tot in einer Gartenlaube in Marzahn aufgefunden. Justus Wiedemann liest den Artikel wieder und wieder. Irgendetwas passt nicht zusammen. Ein Doppelselbstmord? Jürgen und Pino waren schon immer äußerst seltsam, aber sich selbst töten? Nie und nimmer.

Ihm kommt eine Idee, er greift nach seinem Handy. Wo ist diese verdammte Nummer? Er blättert durch seine Kontakte, kann sich aber nicht mehr erinnern, ob er Miel Willems unter M oder unter W abgespeichert hat. Seine besonderen Kontakte hat er nicht unter H abgespeichert, denn HEAVEN ist für alle Beteiligten im privaten Gebrauch absolut tabu! Beim Scrollen durch die Kontaktliste bleibt sein Blick am Kontakt von Jürgen Leipold hängen. Du dämlicher toter Bastard! Sein Gesicht verzieht sich zu einer verachtenden Miene. Jürgen Leipold ist unter L gespeichert. Er tippt in der Buchstabenleiste auf W. Da bist du ja! Justus Wiedemann tippt auf Miels Kontakt und sein Handy baut die Verbindung auf. »Hey, Miel, alles okay bei euch?« Justus ist erleichtert, dass Miel seinen Anruf entgegennimmt. Noch ahnt er nicht, wer wirklich am anderen Ende der Leitung ist. »Was war das denn für ein Scheiß und was war mit Lotte los? Scheiß auf Jeanette, die war sowieso fürn Arsch. Geht es Gust gut und warum hast du Antoine weggemacht?« Am anderen Ende der Leitung ist nichts zu hören. »Miel?« Noch immer ist keine Antwort zu hören. Scheißverbindung. In jedem Drecksland der EU gibt es eine bessere Netzabdeckung als in diesem verfickten Deutschland! Justus beendet die Verbindung und klickt erneut auf Miels Kontakt. Das Handy baut die Verbindung auf, aber Justus kann kein Freizeichen hören. Plötzlich meldet sich eine Stimme.

»Hallo, Justus.«

»Miel, was is los? Alles okay bei euch?«

»Miel ist tot.«

Justus Wiedemann erstarrt. Das ist nicht Miels Stimme! »Wer sind Sie und woher kennen Sie meinen Namen?« Seine Stimme klingt zittrig und voller Angst. Dann schießt es ihm in den Kopf. Klar kennt er meinen Namen. Er ist ja gerade auf Miels Display erschienen!

»Kannst du dir das nicht denken?« Die Stimme des Mannes ist stark und direkt.

»Äh, ich kann es mir denken. Sie haben Miels Handy und Miel würde es keinem Fremden freiwillig geben. Sind Sie für diese Schweinerei verantwortlich?«

»Mein lieber Justus, oder soll ich dich lieber mit User 0001 ansprechen?«

Justus stockt der Atem.

»Ich bin der, der für ALLES verantwortlich ist, was mit HEAVEN und seinen Beteiligten passiert ist. Aber das kannst du dir ja bereits denken. Und da wir eh gerade dabei sind. Deine fetten Kollegen waren das genaue Gegenteil von hart, groß und brutal. Alle drei quiekten wie kleine fette Schweinchen, als mein Messer sie bearbeitet hat. Da kommt mir eines in den Sinn! Wie wirst du quieken, wenn mein Messer sich ganz speziell um dich kümmern wird?«

Justus tippt mehrfach mit zittriger Hand auf den Anruf beenden -Button, dann greift er sich irritiert in seinen nassen Schritt. Er hat sich eingenässt. Just in diesem Moment klingelt sein Handy. Völlig paralysiert nimmt er den Anruf entgegen. »Hallo?« Seine Stimme überschlägt sich.

»Hey, 0001. Wenn dir danach ist, dann leg wieder auf oder du hängst an deinem Leben und hörst dir an, was ich dir zu sagen habe.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Kannst du dir das nicht denken?«

»Wollen Sie mich auch töten?«

»Hm, das ist eine interessante Frage! Dich zu töten würde ich vorerst nicht in Erwägung ziehen. Folter und Demütigung könnte eher zutreffend sein. Kannst du dir vorstellen, wie es heute Abend deinen Compañeros ergangen ist?«

Justus nimmt das Handy von seinem Ohr und blickt irritiert auf das Display, dann tippt er auf den Lautsprecher-Button und brüllt in das Mikrofon seines Handys: »Fick dich, du verschissener Hurensohn! Weißt du eigentlich, mit wem du dich hier anlegst? Ich mach dich fertig, du Scheißbastard. Du wirst alle Qualen der Hölle ertragen haben, wenn ich mit dir fertig bin. Ich häute dich bei lebendigem Leib und ich scheiße dir in deine aufgeschlitzte Kehle!« Justus brüllt sich in Rage.

»Warte mal kurz.« Der Mann macht eine Pause. »Meine Mama, die Scheißhure, sagte mir gerade, dass ich mich von dir nicht ärgern lassen soll. Aber weißt du was? Ich habe mich eben nicht eingepisst!«

Justus steht kurz vor einem Herzinfarkt. Woher weiß er das? »Ich habe mich nicht eingepisst! Das warst wohl eher du?«

Der Mann hat sein Ziel erreicht. Justus Wiedemann ist kurz davor, die Nerven zu verlieren. Er hat ihn so weit, dass Justus das Gespräch nicht mehr verlassen wird. In circa einer Stunde wird der Mann sein Ziel erreichen. »Mein lieber Justus, wenn du am Rechner sitzt, solltest du darauf achten, dass deine Webcam deaktiviert ist. Ach, übrigens, ich habe mir dich komplett anders vorgestellt! Eher so wie Antoine oder Miel! Groß und mächtig! Bis heute wusste ich jedoch nicht, dass ein erwachsener Mann so schmale Schultern haben kann. Ist dir schon einmal aufgefallen, wie mächtig dein Kopf auf diesen süßen Schultern wirkt? Dein schütteres Haar und dein nicht vorhandener Bartwuchs! Hättest du nicht die Falten um deine Augen, könnte man glatt meinen, du würdest noch in der Pubertät stecken. Deine Zeit im Gefängnis als Opfer muss sehr aufregend gewesen sein. Von wie vielen Insassen warst du eigentlich die persönliche Schlampe? Du wirst verdammt viele Schwänze gelutscht haben! Aber es hat dir sicherlich auch viel Spaß gemacht! Oder?«

Justus Wiedemann ist kurz davor durchzudrehen. Der Mann hat ihn am Wickel und er lässt nicht mehr los. Justus verfängt sich immer tiefer in den Fängen des Mannes und er findet keinen Weg mehr heraus.

»Ich war für keinen die Schlampe!«

Der Mann kann sich einen spontanen Lacher nicht verkneifen und Justus fällt erneut darauf herein.

»Hör auf zu lachen, du Hurensohn. Ich habe keine Schwänze gelutscht und ich habe mich auch nicht ficken lassen. Ich habe sie gefickt!«

»Oh, das ist jetzt aber interessant. Dann bist du nicht nur ein Kinderficker, sondern auch noch schwul! Du stehst auf behaarte Männerärsche, aber das war ohnehin zu erwarten. Dann hattest du im Knast ja viel Spaß!«

Justus Wiedemann schäumt vor Wut. Er läuft wie ein wildes Tier in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Nervös blickt er auf das Display, hält es sich vor den Mund und schreit erneut in das Mikrofon. »Halt endlich deine verfickte Fresse, du Missgeburt! Du weißt rein gar nichts über mich, was ich kann und wer ich bin. Ich werde dich finden und dann werde ich dich langsam aufschlitzen. Ich filetiere dich und dann ficke ich dich, du Sohn einer verdammten Hure!«

»Oh. Schon wieder willst du einen Mann ficken. Ich sags doch. Du stehst in erster Linie auf Männerärsche! Warum schweifst du aber dann von deiner eigentlichen Bestimmung ab und nimmst dir kleine Jungs vor? Stopp!!! Nichts sagen, ich weiß wieso! Die Jungs können sich nicht wehren! Sie sind noch schwächer als du, obwohl das kaum möglich ist. Und zusätzlich setzt du sie unter Drogen, du kleines erbärmliches Stück Scheiße!«

Justus kollabiert. Schaum bildet sich vor seinem Mund und er spuckt auf den teuren Teppich in seinem Arbeitszimmer. Schon wieder kommt ihm bittere Galle hoch und er muss erneut würgen. Dann ist die Verbindung weg. Justus tippt auf die Wahlwiederholung.

»Hallo, Spätzchen, kannst du nicht mehr ohne mich?«

Der Mann weiß genau, wie er mit User 0001 umzugehen hat. Sein Ziel kommt näher und näher. In etwa dreißig Minuten wird er ankommen.

»Wie hast du uns gefunden? Bist du ein Scheißbulle, oder was?«

»Äh … nein! Aber so ähnlich.«

»Was soll das heißen?«

»Willst du das wirklich wissen? Ich mache mir Sorgen, du könntest dir erneut in die Hose pissen.«

Jetzt ist es um Justus Wiedemann vollends geschehen. Er schreit und flucht wie ein aufgespießter Keiler in das Telefon. »Du Hurensohn! Du weißt rein gar nichts über mich. Ich pisse auf dich und ich scheiße auf dich. Ich mach dich fertig und du wirst flennen wie ein verschissenes Baby, wenn ich dich aufspieße. Fick dich, du Hurensohn.« Justus Wiedemann bemerkt nicht, wie er sich in einer Zeitschleife verliert. Mittlerweile hat er sein Arbeitszimmer verlassen. Er läuft durch jedes Zimmer in seinem Haus und er brüllt immer und immer wieder in das Handy. Er stoppt, sein Blick fällt auf das große Panoramafenster in seinem Wohnzimmer. Er bemerkt flüchtig, wie im Hof ein winziger Lichtkegel aufblitzt . Was war das? Panik überkommt ihn. Er dreht sich um und beschleunigt seinen Gang. Sein Ziel ist der Waffenschrank in seinem Schlafzimmer. Plötzlich gehen alle Lichter aus. Im Haus ist es stockdunkel. Justus benötigt einige Sekunden, um sich zu orientieren. Ein stechender Schmerz durchfährt ihn, als er mit seinem großen Zeh an der Kante seines Bettes anstößt. FUCK!!! Justus Wiedemann brüllt gebündelten Frust raus. »FUUUCK!« Er reißt sich wieder zusammen, kniet sich auf den Boden und versucht die Orientierung zu finden. Wo ist der verschissene Waffenschrank? Er reibt sich die Augen, dann blickt er ins Dunkle. Vor seinen Augen tanzen grelle Blitze, nichts ist zu erkennen. Er versucht, sich zu konzentrieren. Mein Waffenschrank steht gegenüber von meinem Bett in der linken Ecke.

Den Mann mit dem Kampfmesser in der Hand, der hinter ihm steht, bemerkt Justus Wiedemann nicht.