Kapitel 44

Mittwoch, der 30. Oktober 2019, 06:00 Uhr

Altenhof, Siegerland

 

Die Fahrzeugkolonne raste mit Blaulicht in Richtung der erhaltenen Koordinaten. Kurz vor Altenhof wurde das Blaulicht abgeschaltet, die Kolonne bog in eine Sackgasse und stoppte vor dem herrschaftlichen Anwesen.

»Männer, was ist das für ein Scheiß?« Mike, der Truppführer vom MEK, traute seinen Augen nicht. »Erinnert ihr euch noch an 2015 und an Flipp? Mier hat ihm damals die Nase gebrochen und er heulte wie ein Mädchen!«

Der gesamte Trupp lachte kurz und verstummte sofort wieder.

»Männer, das hier ist dieselbe Adresse und der exakt gleiche Ort!« Mike machte eine kurze Pause. Es schien, als ob er kurz nachdenken musste. »Laut Einsatzbericht müssen wir damit rechnen, dass unser Ziel nicht mehr lebend anzutreffen ist. Ausgehend von der Vorgehensweise des Killers in der Bunkeranlage in Belgien werden wir wahrscheinlich ein Massaker vorfinden. Mo, du und dein Team, ihr geht von Westen rein. Micha, du und deine Jungs von Süden. Wir nehmen den Haupteingang.«

Die Teams checkten ihren Funk und rückten vor. Mike und sein Team erreichten das Hauptgebäude des Anwesens zuerst.

»Stopp! Licht im EG. Team zwei und drei! Sofortiger Zugriff.«

»Verstanden!«

Mikes Team verschaffte sich Zugang in das Haus, indem die schwere Eingangstür mittels einer Sprengladung geöffnet wurde. Zeitgleich stürmten Team zwei aus Süden und Team drei von Westen durch die Fenster ins Erdgeschoss. Mehrere neunfach Flashbangs wurden geworfen und verwandelten das komplette Erdgeschoss in ein leuchtendes donnerndes Inferno.

»Kontakt!« Mike, das Sturmgewehr Sig Sauer 552 im Anschlag, stoppte sein Team. »Was zur Hölle ist das?«

Mikes Team rückte vor. Zu ihrer Rechten öffnete sich ein großer Raum. Tobi, Mikes stellvertretender Truppführer, bemerkte eine Bewegung in der hinteren Ecke. Er schnellte augenblicklich herum und feuerte eine Salve in Richtung der Bewegung.

»Was machst du?« Mike schnauzte Tobi an. »Worauf hast du geschossen?«

»Da war was.« Tobi wirkte unentschlossen.

»Niemand ist hier.«

»Hey, Boss, hintere Ecke!«

Mike drehte sich um 180 Grad, seine Sig 552 noch immer im Anschlag.

»Was ist das?« Mikes Waffenlampe leuchtete in die hintere Ecke des großen Raumes. Einen Bruchteil danach leuchteten fünf weitere Waffenlampen den gesamten Raum aus.

»Was ist das für ein Scheiß?« Mike hatte in seiner Zeit als Spezialbeamter des MEK schon so einiges gesehen und erlebt. Aber das, was er hier mit eigenen Augen zu Gesicht bekam, sprengte alles bisher Dagewesene. Auf einer großen weißen Couch saß Justus Wiedemann. Er war nackt und voller Blut. Er blickte in die Richtung der Spezialbeamten, aber in seinen Augen war keinerlei Regung zu erkennen und Justus Wiedemann war nicht gefesselt.

»Leg dich langsam auf den Scheißboden und lass deine Hände da, wo ich sie sehen kann!« Mike schrie Justus Wiedemann an, doch keine Regung war in seinem Verhalten zu erkennen. »Auf den Boden, du Wichser!« Wieder keine Reaktion. Mike rückte langsam vor, die Waffe im Anschlag auf dessen Kopf gerichtet. Sein Team folgte ihm. Justus Wiedemann saß auf der Couch. Noch immer zeigte er keinerlei Regung. Schritt für Schritt wurde der Gestank, der aus einer Mischung aus Schweiß, Kot und Urin bestand, intensiver. Tobi musste würgen und drehte sich zur Seite.

»Herr Wiedemann, das ist meine letzte Warnung. Legen Sie sich auf den Boden, sofort!« Mikes Stimme wurde noch lauter. Flipp zeigte weiter keinerlei Regung. Der Anblick, je näher sie kamen, wurde Meter um Meter erschreckender. Justus Wiedemann saß in einer Lache aus Blut und Fäkalien. Sein gesamter Körper war von unzähligen Schnittwunden übersät. Beide Ohren waren abgeschnitten worden, ein tiefer Schnitt klaffte auf seiner Stirn am Haaransatz. Mike richtete seine Waffe auf Flipps Hände. Das Licht der Waffenlampe entblößte das wahre Grauen.

Justus Wiedemanns Hände bestanden nur noch aus zwei blutigen Stümpfen. Alle Finger fehlten. Beim näheren Hinschauen bemerkte Mike, dass die stumpfen Enden ausgebrannt worden waren. Kein Blut floss mehr aus den Wunden.

»Sein Schwanz und seine Eier sind weg!« Tobis Stimme ließ alle zusammenzucken.

»Ach du meine Fresse!« Mike musste sich zusammenreißen. So etwas hatten er und seine Kameraden noch nicht gesehen. Flipp war kastriert worden. Die Wunden hatte man anscheinend fachkundig mit großen Kreuzstichen und mit dickem schwarzem Faden vernäht. Der Anblick wirkte auf das ganze Kommando surreal. Mike stieß den Lauf seines Sturmgewehrs an Flipps Kopf.

»Herr Wiedemann, können Sie mich verstehen?« Keine Antwort. Mike sprach in sein Mikro. »Wir brauchen sofort Sanitäter, Zielperson ist schwer verwundet und nicht ansprechbar.« Er drehte sich zu seinem Team. »Tobi, du und Andy bleibt hier und bewacht ihn. Die Restlichen kommen mit mir.«

Mike ärgerte sich. Nur wegen diesem kleinen Wichser – soll er doch an seinen Verletzungen verrecken – hatte er als Truppführer ihre wichtigste Regel vergessen. Jetzt sicherten sie Raum für Raum, bis sie plötzlich im Keller standen. Das Team fand sich in einem großen Raum wieder. Da im gesamten Haus kein Strom vorhanden war, leuchteten die Spezialbeamten den Raum mit ihren Waffenlampen aus. Mike stoppte abrupt, als der Lichtkegel seiner Lampe die Konturen eines Stahlkäfigs erhellte. Der Käfig war etwa einen Meter hoch und einen Meter breit. In der Mitte des Käfigs befand sich ein vergitterter Abfluss. Mike bewegte den Lauf seiner Waffe an den Wänden entlang. Unzählige Bilder und Porträts waren akkurat in Reih und Glied an den Kellerwänden angebracht.

»Mike, hier Alexander Mier. Erbitte Lagebericht.«

»Sorry, aber bei allem Respekt! Bewegen Sie bitte Ihren Arsch zu uns. Wir befinden uns in einem Museum des Horrors. Das hier ist nicht unsere Aufgabe. Mein Team muss in den kommenden Tagen wieder einsatzfähig sein und das kann ich bei dem, was wir gefunden haben, nicht mehr gewährleisten. Das Haus ist komplett gesichert, somit kann sich die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizin frei bewegen. Wir sind raus!«

Alexander Mier konnte den Zorn in Mikes Stimme förmlich spüren. »Habe verstanden, Mike. Ich schicke jetzt die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizin rein. Sie und Ihr Team halten sich zugriffsbereit im Haus auf.«

»Verstanden!« Mikes Laune verbesserte sich nicht. Er schwenkte ein letztes Mal seinen Blick über die Kellerwände. Hunderte Bilder von schmerzverzerrten Gesichtern prangten wie in Szene gesetzte Trophäen afrikanischer Großwildjagden an den Wänden. Plötzlich hörten sie ein Klopfen aus der hinteren Ecke des Kellers. »Seid ruhig!«, befahl er. Alle lauschten gebannt. T oc k, Tock, Tock. Mike nahm erneut sein Sturmgewehr in den Anschlag. Er leuchtete in die Richtung, aus der das Klopfen zu vernehmen war. Da die Tür ebenso wie die Wände komplett mit den Bildern übersät war, konnten sie diese nicht sofort erkennen. Mike deutete auf Mitch und Schmidt, diese bewegten sich lautlos, ihre Sturmgewehre im Anschlag, seitlich auf die Tür zu. Mike und Seppo sicherten die Mitte. Wieder war das Klopfen zu hören. Tock, Tock, Tock … Je näher sie der Tür kamen, desto lauter wurde es. Die Intervalle blieben aus und das Klopfen glich nun einem Trommelfeuer. »Schmidt, kannst du was hören?«

Schmidt befand sich mittlerweile direkt an der Tür. Er lehnte sich an die Wand, streckte seinen Kopf in Richtung des Türspalts und drehte seinen Schallschutzkopfhörer auf die lauteste Einstellung. Jetzt klopfte er dreimal an die Tür. Totenstille herrschte im Keller sowie hinter der Tür. Oder konnte er ein leises Wimmern hören? Schmidt signalisierte Kontakt zu seinen Kameraden und drückte seinen Kopf noch fester an die Wand. Jetzt konnte er das Wimmern besser hören. »Das ist eine Kinderstimme!«, flüsterte er in das Mikro.

»Hier, Mike, wir haben Klopfzeichen im Keller vernommen und vermuten, dass es sich um ein Verlies handelt. Dem Klang nach könnte es ein Kind sein.«

»Verstanden. Ich schicke jetzt die Medics zu euch rein.«

»Negativ. Wir werden zuerst die Lage sondieren müssen. Benötigen zusätzliche Ausrüstung.«

Mitch und Schmidt untersuchten die Tür und das Mauerwerk. »Das ist ’ne beschissene Panzertür, da kommen wir nicht durch. Außerdem hat sie ein elektronisches Zahlenschloss. Da wird es einfacher sein, die Wand abzutragen.«

Mike schaute sich unterdessen weiter im Keller um. »Was ist das?« Mike deutete auf den Stahltisch, der unweit von der Panzertür stand. Auf dem Tisch lag ein brauner Umschlag. Mike ging zum Tisch, griff nach dem Umschlag und öffnete ihn.

»Jetzt verstehe ich, warum Flipp keine Finger mehr hat.« Mike konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. »Der Hurensohn muss aber lange durchgehalten haben!«

Der Grund für Justus Wiedemanns fehlende Finger sowie die ausgebrannten Stümpfe war somit klar.