Kapitel 45

 

Das Ortseingangsschild zeigt Altenhof. Der Mann passiert die Sackgasse und fährt um das herrschaftliche Anwesen herum. Er parkt seinen Wagen jenseits der Straßenlaternen im Schutze der Dunkelheit und begibt sich zum Kofferraum. Er greift nach seinem schwarzen Overall, dem Kampfhelm mit den aktiven Schallschutzkopfhörern und dem Nachtsichtgerät. Er hält den Helm in seinen Händen, dreht ihn von Seite zu Seite. Na, Baby, jetzt kommst du wirklich oft zum Einsatz! Keine sechzig Sekunden später schwingt er sich in voller Montur über die Außenmauer des Anwesens. Die Positionen der Überwachungskameras sind ihm bestens bekannt. Über sein Headset hört er Flipp schreien und fluchen. Wie oft willst du mich eigentlich noch Hurensohn nennen? Das Nachtsichtgerät leistet ihm, wie bereits in Brügge, nein, wie immer, erstklassige Dienste. Das Anwesen ist groß. Er muss sich beeilen, um seinen Zeitplan nicht zu gefährden. Als er am Verteilerkasten der Stromversorgung ankommt, hört er Flipp erneut über das Headset fluchen. »Du erbärmliches Stück Scheiße. Du weißt rein gar nichts über mich. Ich pisse auf dich und ich scheiße auf dich. Ich mach dich fertig und du wirst flennen wie ein verschissenes Baby, wenn ich dich aufspieße. Fick dich, du Hurensohn.« In dem Moment, als der Mann am Verteilerkasten steht, sieht er durch die Panoramafenster im Haus, wie plötzlich eine Gestalt hinter den Fenstern auftaucht. Er duckt sich zur Seite. Er erkennt Flipp, der sich hastig wieder vom Fenster entfernt. Der Mann ist sich sicher, dass Flipp etwas bemerkt haben muss. Er durchtrennt die Leitungen mit seinem Messer, augenblicklich hüllt sich das gesamte Anwesen in tiefes undurchdringbares Schwarz. Die Hintertür stellt keine Herausforderung dar und dreißig Sekunden später ist er im Haus.

»FUUUCK!« Der Mann hört Flipp in Stereo brüllen. Er hat das Anwesen und das Haus von Justus Wiedemann genau studiert, er kennt jeden Winkel. Er bewegt sich mit schnellen leisen Schritten in Richtung des Schlafzimmers. Genau in die Richtung, aus der der Schrei gekommen ist. Sein Nachtsichtgerät erleuchtet das stockdunkle Haus. Durch den langen Flur kann er Flipp im Schlafzimmer erkennen. Flipp liegt auf dem Boden und hält sich winselnd den Fuß. Flipp windet sich auf dem Boden, bis er wieder die Fassung findet und versucht, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Der Mann kann die leise Stimme von Flipp hören.

»Wo ist der verschissene Waffenschrank?«

Eine Waffe wird dir jetzt auch nicht mehr helfen . Der Mann schleicht in das Schlafzimmer. Flipp kriecht auf allen vieren in Richtung des Waffenschranks. Der Mann beobachtet ihn. Mittlerweile ist er nur noch wenige Zentimeter hinter ihm. Als Flipp kurz davor ist, den Waffenschrank zu erreichen, schlägt der Mann ihm den Knauf seines Kampfmessers an die Schläfe. Flipp verliert das Bewusstsein und sackt in sich zusammen.

Der Mann schleift Flipp in die Küche. Mit einer einzigen Armbewegung wischt er die gesamte Deko vom Küchentisch. Als er Flipp vom Boden aufhebt, muss er schmunzeln. Und du kleiner dürrer Wicht willst mich ficken? In der Stille um ihn herum klingt sein leises Lachen wie ein Donnergrollen. Unsanft lässt er Flipp auf den Tisch fallen, dann zieht er ihn komplett aus. Er fixiert ihn mit Panzertape, indem er das Tape um den Tisch wickelt. Er fixiert Flipp an der Stirn, mehrere Lagen des Panzertapes wickelt er um Oberkörper und Beine. Flipps Hände spreizt er zur Seite und bringt das Panzerband direkt an den Handgelenken an. Er stellt sich neben Flipps Kopf. Er schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Keine Reaktion. Er wiederholt den Schlag und vernimmt augenblicklich ein erbärmliches Krächzen.

»Ah fuck … Hören Sie auf. Verdammt, mein Kopf!« Flipp versucht seine Augen zu öffnen. Im gesamten Haus ist es noch immer stockdunkel. Flipp versucht seinen Kopf und seine Arme zu bewegen, aber das Panzertape leistet wie immer erstklassige Arbeit. Durch das Nachtsichtgerät beobachtet ihn der Mann, wie er winselnd auf dem Küchentisch liegt und sich trotz heftigster Bemühung keinen Millimeter bewegen kann. Mitleid empfindet er für diesen winselnden Wurm nicht. »Was wollen Sie von mir? Ich habe Geld, viel Geld! Ich gebe Ihnen Informationen.« Flipps Stimme ist kurz davor, sich zu überschlagen. »WAS WOLLEN SIE?«

Der Mann sagt kein Wort. Er beobachtet Flipp, wie dieser seine Augen aufreißt, um irgendetwas erkennen zu können. Je mehr er sich bewegt, desto tiefer schneidet das Panzertape sich in sein Fleisch. Der Mann hat das Tape so fest um den Tisch und um den Körper gewickelt, dass es bereits die Haut an den Rändern aufgescheuert hat.

Ein greller Blitz reißt Flipp aus der Dunkelheit. Vor seinen Augen tanzen Blitze wie tollwütige Glühwürmchen. Er kneift die Augen zusammen, aber das Szenario bleibt. Etwas packt seine Finger an der rechten Hand. Ein heftiger Schmerz durchfährt ihn, er schreit. Während er schmerzverzerrt seine Augen zusammenpresst, bemerkt er ein aufflackerndes Licht und öffnet sie. Im Schein einer blauen lodernden Flamme erkennt er die Umrisse einer Gestalt. Er kann gerade noch erkennen, wie die Gestalt die Flamme in Richtung des Schmerzes lenkt. Das Knistern und Knirschen von schmelzender Haut und verbranntem Fleisch können den aufkommenden Schmerz nicht überdecken. Flipp schreit und schreit. Der Mann dreht die Gasdüse des Bunsenbrenners wieder zu, klappt das Nachtsichtgerät vor seine Augen und schaut in Flipps Gesicht. Er setzt die Zange an Flipps Ringfinger an und kneift auch diesen ab. Flipps Schreie werden langsam unerträglich und er hat noch acht Finger vor sich. Nach sechs weiteren Fingern wird die Prozedur langsam zur Routine.

Zange ansetzen, Finger abknipsen, Nachtsichtgerät hochklappen, Bunsenbrenner entflammen, Wunde ausbrennen, Nachtsichtgerät herunterklappen, Flipp ins Gesicht schlagen.

Durch das viele Schreien ist Flipps Stimme schrill und kratzig. »Was wollen Sie von mir? Bitte reden Sie mit mir. Ich halte das nicht mehr aus!«

Seine Stimme überschlägt sich bei nahezu jedem Wort. Justus Wiedemann ist verzweifelt. Sein Körper erschlafft und er wird ohnmächtig. Sein Körper ist kurz davor aufzugeben. Obwohl der Einstich der Adrenalinspritze in sein Herz mit voller Wucht ausgeführt wird, spürt er diesen kaum. Der Adrenalinschub, der wie ein japanischer Hochgeschwindigkeitszug durch seine Adern rast, reißt ihn aus der surrealen Situation. Das Adrenalin bringt den erwünschten Zustand. Der Mann stellt den Bunsenbrenner auf die Kochinsel und der Schein der flackernden Flamme lässt nur seine Silhouette erkennen. Flipp ist durch das Adrenalin wieder voll da. Er reckt seinen Kopf zur Seite, doch das Panzertape lässt auch diese Bewegung nicht zu. Die Haut an seiner Stirn reißt zum erneuten Male auf und kleine Tropfen Blut rinnen an seiner Schläfe auf den Küchentisch. Die dadurch entstandene Wunde klafft durch die ruckartigen Bewegungen immer weiter auf.

Durch das injizierte Adrenalin spürt Justus Wiedemann keinen Schmerz und er brüllt in Richtung der Gestalt: »Du verfluchter Schwanzlutscher. Was willst du von mir?«

Der Mann antwortet nicht und beobachtet ihn weiter. Das passive Verhalten der dunklen Gestalt macht Flipp noch wütender. Aufgeputscht durch das Adrenalin versucht er, sich aus den Panzertape-Fesseln zu winden. Das Tape leistet erstklassige Arbeit, schneidet tiefer und tiefer in Flipps Haut. Der Mann schlägt ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, augenblicklich stoppt Flipp seine Bewegungen. »Hör mir gut zu. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie du diese Nacht lebend überstehen kannst.«

»Halt deine Scheißfresse und … «

Wieder trifft der Handrücken Flipps Gesicht und er verstummt abrupt. »Gern können wir die ganze Nacht so weitermachen, aber das wirst du definitiv nicht überleben. Also noch einmal: Du kannst dich für oder gegen das Leben entscheiden.«

Flipp, der weiterhin nur die Silhouette der Gestalt erkennen kann, wird sich seiner Lage langsam bewusst. Auch bemerkt er, wie die Wirkung des Adrenalins mehr und mehr nachlässt und der Schmerz in großen Schritten zurückkommt. Mit weinerlicher Stimme fleht er die Gestalt an. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich weiß, dass du in deinem Folterkeller zwei Kinder gefangen hältst. Die Panzertür ist mit einem elektronischen Zahlenschloss versehen. Wie lautet die Kombination?«

»Einen Scheiß wirst du von mir erfahren!«

»Lass uns rekapitulieren. Du besitzt noch deine Daumen, zehn Zehen und weitere Extremitäten, die du nicht zwingend zum Leben benötigst. Wie lange sollen wir das Spiel fortsetzen?« Der Mann sieht das Aufblitzen in Flipps Augen. Gerade als er zum erneuten Brüllen ansetzt, stopft ihm der Mann einen Knebel in den Mund. Er greift nach seiner Zange und knipst einen Daumen ab. Mit dem Bunsenbrenner versengt er in mittlerweile gewohnter Routine die Wunde. Flipps Geräusche, die hinter dem Knebel kaum noch zu hören sind, bestehen mittlerweile nur noch aus zischenden Lauten. Der Mann reißt den Knebel aus Flipps Mund. »Wie lautet der Code?«

Flipps Augen sind blutunterlaufen und sie tränen. »Ich kann nicht mehr, bitte hören Sie damit auf!«

»Der Code?«

Mit allerletzter Kraft haucht Flipp der Gestalt winselnd den Code zu: »657872.« Flipp resigniert komplett und sein Körper erschlafft erneut.

»Wie geht es den Kindern?«

Flipp kann die Frage nicht mehr hören. Die Erschöpfung und die Schmerzen haben ihn ohnmächtig werden lassen, doch der beißende Geruch von Ammoniak holt ihn augenblicklich wieder zurück. Der Mann schlägt ihm erneut mit aller Wucht ins Gesicht. »Wie geht es den Kindern?«

»Ich habe ihnen nichts angetan.«

»Was heißt das?«

»Ich habe sie nur gefangen gehalten. Sie waren für weitere Aufnahmen geplant!«

Flipp ist mittlerweile so schwach, dass er in völliger Resignation bereitwillig alle Fragen des Mannes beantwortet.

»Woher stammen die Kinder? Wo hast du sie entführt?«

»Ich habe sie nicht entführt. Sie wurden mir gestern aus Polen gebracht. Ich habe sie hier lediglich in Gewahrsam genommen, bis sie für weitere Aufnahmen nach Brügge gebracht werden sollten. Bitte lassen Sie mich jetzt in Ruhe, ich kann nicht mehr.«

»Hast du diese Gnade auch deinen Opfern zukommen lassen? Ich glaube nicht. Wer hat dir die Kinder übergeben?«

»Ich kenne seinen Namen nicht, außerdem ist es immer ein anderer Fahrer.«

»Aber du kennst den Namen der Person in Polen und bevor du wieder Nein sagen solltest: Du besitzt noch einen Daumen, zumindest jetzt noch!«

»Ich glaube, er heißt Kluger, Jerzy Kluger. Ich habe einmal mit ihm telefoniert, getroffen habe ich ihn nie. Jeanette hat den Kontakt hergestellt. Sie sagte mir, dass die Polen verlässlich seien und dass dieser Jerzy Kluger uns mit erstklassigem Material versorgen würde.«

»Mit Material?« Der Mann muss sich zusammenreißen. Er ist kurz davor, Flipps Leben zu beenden.

»So nennen wir sie. Es tut mir leid.«

Flipps Jammern nervt den Mann immer mehr und wieder schlägt er ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. »Dir tut es nicht leid. Du winselst und hast Angst zu sterben. Spar dir deine Reue, sie wird dich auch nicht retten.«

Der Mann greift nach der vorbereiteten Spritze und injiziert das Sedativum in Flipps Halsvene. Flipp schaut ihn mit fragenden Augen an und schläft direkt ein. Der Mann greift nach der Zange, knipst den verbliebenen Daumen von dessen Hand und brennt das stumpfe Ende mit dem Bunsenbrenner aus. Auch diesen Arbeitsschritt nimmt die Infrarotkamera auf. Er öffnet seine Tasche, greift nach einem Skalpell und einer Aderklemme. Mit gekonnten Schnitten entfernt er Flipps Genitalien. Nachdem er die Blutungen gestoppt hat, versiegelt er die Gefäße und Arterien. Er vernäht die Schnitte mit großen Kreuzstichen. Er hat bewusst den dicken schwarzen Faden gewählt. So wird der Anblick noch grausamer sein. Er säubert die frischen Nähte vom restlichen Blut, dann löst er die Panzertape-Fesseln und reißt die Reststücke von Flipps nacktem Körper.

Der Mann bringt den noch immer betäubten Flipp ins Wohnzimmer. Er platziert ihn aufrecht sitzend auf der großen weißen Couch. Es scheint, als ob der kleine schmächtige Flipp in den tiefen Polstern zu versinken droht. Er sucht nach seinem Handy und hört sich eine Audiodatei an. Im Anschluss schreibt er eine Mail und steckt mit einem Lächeln auf dem Gesicht das Handy wieder weg. Er nimmt die Speicherkarte aus der Kamera und steckt sie zusammen mit dem Code des elektronischen Zahlenschlosses in ein braunes DIN-A4-Kuvert. Dann geht er in den Keller. Obwohl er sich bereits denken kann, was ihn dort erwartet, ist er beim Anblick der unzähligen Bilder an den Wänden fassungslos. Ich hätte diesem Schwein auch die Zehen abschneiden sollen! Er legt das Kuvert auf einen der Stahltische und lauscht kurz an der Panzertür. Nichts ist zu hören. Er klopft an die Tür und kann kurz darauf ein Klopfen aus dem Inneren des dahinterliegenden Raumes hören. Erleichtert, aber noch immer voller Hass kehrt er zu Flipp zurück, packt dessen Kopf und schneidet ihm mit seinem Kampfmesser beide Ohren ab. Flipp, der noch immer von dem Sedativum betäubt ist, zeigt keinerlei Reaktion. Dann verlässt er das Grundstück. Am Wagen angekommen, legt er seine Einsatzkleidung und Ausrüstung in den Kofferraum. Er kann entfernt die Sirenen der Einsatzfahrzeuge des Mobilen Einsatzkommandos hören. Sein Zeitplan geht perfekt auf.