Samstag, der 02. November 2019, 08:00 Uhr
Berlin, Tiergarten
LKA 1 – Delikte am Menschen – Videokonferenz BKA
Das Briefing hatte bereits begonnen. Eve Decker ließ ihren Blick in die Runde schweifen und stoppte bei David.
»Weiß jemand, wo Pete steckt?«
»Wieso schaust du mich an? Ich habe keine Ahnung, wo er ist.«
»Das ist neu! Ihr verbringt doch jede freie Sekunde miteinander.« Just in diesem Moment betrat Pete den Konferenzraum.
»Bitte entschuldige, Eve, aber ich war noch bei Jörg. Gerade eben hat mich Peter Becker angerufen. Es gibt ein weiteres Schreiben unseres Killers und das ist ein Brett!«
David schaute nervös zu Pete. Er fühlte sich ertappt und beobachtet. Pete erwiderte seinen Blick und schüttelte leicht den Kopf, um seinem Partner zu verstehen zu geben, dass er sich keine Gedanken machen müsse. David verstand augenblicklich und entspannte sich wieder.
Pete ging zum Rechner und öffnete sein E-Mail-Programm. Er klickte auf die Mail von Peter Becker.
»Sie werden alle fallen«
Sehr geehrter Herr Becker,
ich blicke auf die letzten Wochen zurück und muss sagen, dass ich mit dem Verlauf äußerst zufrieden bin. Ich konnte alle meine Ziele definieren und erfolgreich abarbeiten. Auch stimmen mich die outgesourcten Arbeitspakete positiv, denn der Zugriff auf die Serverfarm war eine Meisterleistung der deutschen Behörden. Ich war mir dessen bewusst, dass die deutschen Spezialkräfte zu den Besten der Besten gehören, dass sie aber ihre Schusswaffen so kompromisslos einsetzen würden, um zu töten? Alex Mier verfügt noch immer über diese außergewöhnlichen Fähigkeiten, seine Teams in den Einsatz zu schicken, ohne Verluste beklagen zu müssen. Schon damals war er in der Lage, Kommandos unterschiedlicher Dienste zu koordinieren, zu befehligen, ohne dass eine der Missionen gefährdet wurde. Bitte grüßen Sie ihn recht herzlich und richten Sie ihm meine Hochachtung und meinen Respekt aus. Wenn ich mir das so aus der Ferne anschaue, dann hätte Alex Mier sein Kommando nie verlassen dürfen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, habe ich Herrn Wiedemann einen kleinen Besuch abgestattet und ich muss gestehen, der Abend hat alle meine Erwartungen erfüllt. Es war nicht schwer, Herrn Flipp, oh Verzeihung, Herrn Wiedemann zu überwältigen. Wieso sind es meist die kleinen Hänflinge, die sich an Kindern vergehen? Na ja, vielleicht ist aber jeder, der gegen mich antreten muss, ein kleiner Hänfling!
Freuen Sie sich auf den Mitschnitt des Abends und sehen Sie es mir nach, dass er keine Spielfilmqualität aufweist. Ich habe mich mehr auf meine Arbeit als auf das Drehbuch und die Aufnahmen konzentriert. Aber seis drum. Sollten Sie auch nur annähernd so denken und fühlen wie ich, dann werden Sie die Aufnahmen genießen. Wenn nicht …! Stopp. Ich will Sie nicht nötigen, die Aufnahmen komplett anschauen zu müssen. Sie können auch bis 03:47 Uhr vorspulen. Hier teilt mir Flipp den Code für die Tresortür im Keller mit und wie Sie bereits vom BKA erfahren haben, konnten dort zwei Kinder unversehrt befreit und gerettet werden.
Mittlerweile sind wir an dem Punkt angekommen, an dem sich Ihre Kollegen der Berliner Polizei die Frage stellen sollten, warum ich diesen Abschaum aus dem Leben befördert habe und ob ich das notgedrungen getan oder ob ich es genossen habe. Diese Fragen klären wir gemeinsam mit Herrn Dr. Steinacker im Falle, dass ich gefasst werden sollte. Also nie!
Mit Justus Wiedemann enden meine Aktivitäten in Deutschland, somit könnte es sich als kompliziert darstellen, weiter gegen mich zu ermitteln. Aber tun Sie sich keinen Zwang an und bleiben Sie bemüht. HEAVEN ist noch nicht ganz am Ende! Daher muss ich weiterziehen. Ich habe unsere Zusammenarbeit sehr genossen, somit werde ich Sie weiter mit Informationen versorgen.
»Ich vermute, dass auch diese E-Mail keine nachverfolgbare IP-Adresse hat?« Eve Decker konnte man ihre Resignation ansehen.
»Leider hast du dir die Frage eben selbst beantwortet!« Petes Ernüchterung war nicht zu übersehen. »Er ist uns immer diesen einen Schritt voraus.«
Pete schloss die E-Mail und öffnete den Dateiordner, dann blickte er zu Eve und David, dann zum Screen und nach Wiesbaden. Noah nickte und Pete öffnete die Mediadatei. Der Film startete, kein Ton war zu hören. Der Killer hatte die Tonspur deaktiviert. Blankes Entsetzen der Anwesenden zeigte sich bereits, nachdem der Killer mit der Prozedur der ersten beiden Finger fertig war. Eve Decker wandte sich zu Pete.
»Stopp das bitte und starte den Film bei 03:47 Uhr! Das hier muss ich mir nicht anschauen.«
Pete setzte den Befehl augenblicklich um. Er startete den Film erneut bei 03:47 Uhr. Justus Wiedemann war kaum noch wiederzuerkennen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, Speichel lief ihm aus dem Mund. Seine Augen waren blutunterlaufen. Die Hautstellen an den Rändern des Panzertapes waren aufgerissen und wirkten wie Schnitte, ausgeführt von einem stumpfen Messer. In Berlin und in Wiesbaden herrschte Totenstille. Als plötzlich die Tonspur aktiviert wurde, zuckten alle Anwesenden zusammen:
»657872.«
Die Tonspur blieb aktiv, jetzt war die Stimme des Killers zu hören. Die Anspannung der Anwesenden wuchs sekündlich.
»Wie geht es den Kindern?«
Die zu hörende Stimme klang schroff, aber klar. Sie ließ keinen Zweifel offen, dass der Mann, zu dem diese Stimme gehörte, zu allem entschlossen war. Eine Hand mit einem Fläschchen näherte sich der Nase von Justus Wiedemann, der sofort zusammenzuckte.
»Was war das?«
»Riechsalz!«
Die Kamera war auf Flipps kompletten Körper ausgerichtet, man konnte erkennen, dass er aus der Ohnmacht zurückgekehrt war.
»Wie geht es den Kindern?«
»Ich habe Ihnen nichts angetan.«
»Was bedeutet das?«
»Ich habe sie nur gefangen gehalten. Sie waren für weitere Aufnahmen eingeplant!«
»Woher stammen die Kinder? Wo hast du sie entführt?«
»Ich habe sie nicht entführt. Sie wurden mir gestern aus Polen gebracht. Ich habe sie hier lediglich in Gewahrsam genommen, bis sie für weitere Aufnahmen nach Brügge gebracht werden sollten. Bitte lassen Sie mich jetzt in Ruhe, ich kann nicht mehr.«
Flipps zittrige schluchzende Stimme ließ erahnen, welchem Schmerz er ausgesetzt gewesen sein musste. In keinem Gesicht der Anwesenden war auch nur ein Hauch von Mitleid zu erkennen.
»Hast du diese Gnade auch deinen Opfern zukommen lassen? Ich glaube nicht. Wer hat dir die Kinder übergeben?«
Hier endete die Aufnahme und der Screen war für einige Sekunden schwarz. Gerade als die Anwesenden aufatmen wollten, erschien auf dem Screen eine Totalaufnahme von Flipp, der völlig nackt auf einem hellen Sofa saß. Sein gesamter Körper war von Rissen und Schnitten übersät. Blut lief in kleinen feinen Rinnsalen aus den Wunden. Beide Ohren waren abgeschnitten. Die Kamera schwenkte in seinen Genitalbereich. Ein eiskalter Schauer durchfuhr Berlin und Wiesbaden. Der Anblick wirkte auf die Anwesenden wie die Mischung aus Kunstwerk und blankem Horror.
»Es ist mir scheißegal, wer er ist oder was er ist. Es ist mir scheißegal, ob er uns und der Menschheit einen Gefallen tut. Ich will diesen Bastard in Handschellen sehen. Habt ihr mich verstanden?«
Eve Deckers Kopf war blutrot und sie drohte zu explodieren. Keiner im Raum und auch niemand in Wiesbaden wagte in diesem Moment zu antworten.
Dr. Steinacker fand zuerst die passenden Worte. »Natürlich müssen wir ihn dingfest machen. Das steht völlig außer Frage. Er hat uns in seiner E-Mail und in diesem Film zwei wichtige Hinweise gegeben!« Alle Augen schauten wie auf Knopfdruck zu Dr. Steinacker. »Er verlässt Deutschland, um weiter auf die Jagd zu gehen. Sein neues Jagdrevier heißt Polen!«
Da machte es bei allen Klick. Sie erinnerten sich an einen der Sätze von Wiedemann: Sie wurden mir gestern aus Polen gebracht.
Eve Decker wirkte in sich gekehrt. Sie verließ den Raum und zog sich in ihr Büro zurück. Pete schaute ihr erstaunt hinterher, dann wechselte er seine Blickrichtung und schaute in die überraschten Augen der Wiesbadener Kollegen vom BKA. Wo war Alexander Mier? »Wo ist Alexander?«, fragte er in die Runde.
Noah schaute sich um. Auch er konnte Alexander Mier nicht mehr sehen. Als er Dr. Steinacker fragend anschaute, winkte dieser ab.
»Herr Mier hat soeben wortlos den Konferenzraum verlassen. Ich vermute, dass er mit Frau Decker telefonieren wird. Die Anmerkung unseres Killers, dass er Informationen über Herrn Miers Vergangenheit hat, die weit über das hinausgehen, was bekannt ist, gibt dem Verlauf der Ermittlungen eine völlig neue Brisanz.«
»Was könnte der Killer damit gemeint haben, dass Alexander Teams in den Einsatz schickte, ohne Verluste beklagen zu müssen? Hat er etwa einen militärischen Hintergrund?«
Noah wirkte verstört. Er dachte, er würde seinen Chef mittlerweile kennen. Mehrfach hatte er sich mit der Personalakte von Alexander Mier beschäftigt. Er besaß zwar nicht die Freigabe, aber als Hacker, und das war Noah schon immer gewesen, wusste er nur allzu gut, wie man an Informationen gelangen konnte, ohne eine besondere Freigabe erhalten zu haben.
»Ich denke nicht, dass Herr Mier eine militärische Vergangenheit hat.« Dr. Steinacker legte seine Stirn in Falten. »Ich bin mir sicher, dass er eine nachrichtendienstliche Vergangenheit hat. Die Frage, die sich mir jedoch stellt: Wo hat er seine Ausbildung erhalten? Seine Verbindung zum FBI, vor allem zu Assisstent Director Baugh, lässt vermuten, dass sich Herr Mier mit den Diensten in den USA hervorragend auskennt.«