Kapitel 49

Samstag, der 02. November 2019, 10:00 Uhr

Berlin, Tiergarten

LKA 1 – Delikte am Menschen

 

Eve steuerte mit stampfenden Schritten auf ihr Büro zu. Sie kochte vor Wut. Wieso hatte sie ihr langjähriger Freund und Ex-Partner nicht über seine Vergangenheit informiert? Kannte Alexander etwa den Killer? Eve betrat ihr Büro und schlug die Tür so heftig zu, dass ihr Namensschild aus Plexiglas, das von außen angebracht war, auf den Boden krachte und in tausend Teile zerbrach. Voller Zorn griff sie nach ihrem Telefon und wählte Alexander Miers Nummer.

»Was willst du wissen?« Alexander Mier rechnete bereits mit Eves Anruf. Noch während der Konferenz hatte er sich in sein Büro zurückgezogen, um auf den Anruf von Eve zu warten.

»Warum weiß ich nichts von deiner Vergangenheit? Wir waren drei Jahre zusammen und du hast nie auch nur ein Sterbenswörtchen erzählt! Was hat der Killer gemeint? Welche Einsätze hast du damals geleitet? Wen hast du in diese Einsätze geschickt? Für wen hast du gearbeitet?«

Eve redete sich in Rage. Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus.

Alexander ließ sie gewähren und unterbrach sie nicht. Als Eve sich beruhigt hatte, ließ er weitere Sekunden verstreichen. Er sammelte sich. Dann sprach er in einem ruhigen, aber bestimmten Ton: »Ich durfte dir damals nichts erzählen und das darf ich heute auch nicht. Du kennst die Spielregeln, Eve.«

»Hör auf, mir so einen Schwachsinn zu erzählen! Erstens weißt du ganz genau, dass ich mit geheimen Dingen umgehen kann, und zweitens habe ich ein Anrecht darauf, es zu erfahren.«

»Ich würde dir gern mehr sagen, aber das könnte das Ende meiner Karriere bedeuten.«

»Was soll das denn jetzt?« Eve war nun mehr als irritiert. »Was sollte deine Karriere beenden? Hast du für einen …«

In diesem Moment unterbrach Alexander Eve abrupt. »Stopp, Eve! Hier ist Ende. Du kennst die Spielregeln und ich werde diese nicht brechen.« Mit diesem Satz beendete er das Gespräch.

Eve nahm den Hörer vom Ohr, schaute auf das digitale Display und schüttelte verachtend den Kopf. So ein Arsch! Just in diesem Moment klopfte es an ihrer Bürotür. Sie war noch immer in ihren Gedanken verloren und erschreckte sich fürchterlich. »Verdammter Scheiß! Wer ist da?«

Pete öffnete langsam die Tür, steckte den Kopf durch den geöffneten Spalt und sagte mit leicht verängstigter Stimme: »Ich bin es, Eve. Äh, David ist auch dabei.«

»Tut mir leid. Kommt bitte rein.«

»Hast du mit Alexander gesprochen?«

»Ja!«

»Und?«

»Nichts und.«

»Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Was hat er gesagt?« Pete verlor langsam die Geduld.

»Er hat mir nichts gesagt. Er meinte, dass seine Vergangenheit streng geheim und unter Verschluss sei.«

»Unter Verschluss?« Petes und Davids Augen wurden größer.

»Korrekt. Unter Verschluss. Außerdem gab er mir zu verstehen, dass seine Karriere beim BKA beendet wäre, sollte er mir weitere Informationen dazu geben.«

»Was geht hier eigentlich ab? Einen Fall in solch einer Dimension und ein Chefermittler des Bundeskriminalamtes, der eine geheime Vergangenheit hat! Kennt Alexander Mier etwa unseren Killer?«

»Könnte sein, ich weiß es nicht. Gerade ist alles scheiße.« Eve wirkte verunsichert. »Bei welchem unserer Dienste herrscht nach der aktiven Zeit weiter eine Geheimhaltungspflicht?«

Eve drückte sich mit beiden Händen vom Tisch ab und schob ihren Stuhl mit Schwung nach hinten, der mit einem lauten Scheppern an das Wandregal krachte. Ungeachtet dessen ging sie zum Whiteboard und notierte:

 

BKA

-           Schutzgruppe

-           Verdeckte Ermittler

 

Verfassungsschutz

-           V-Leute

 

Bundesnachrichtendienst

-           Agenten

 

Bundeswehr

-           KSK (Kommando Spezialkräfte)

-           KSM (Kommando Spezialkräfte der Marine)

-           Militärischer Abschirmdienst

 

Minutenlang herrschte absolute Stille. Eve, Pete und David schauten gebannt auf das Whiteboard. Jeder von ihnen überlegte und versuchte, Alexander Mier einem der Dienste zuzuordnen.

»Ich brauche einen Kaffee.«

»Hast du was Stärkeres?« Ungläubig starrte Eve in Davids Augen.

»Was Stärkeres? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Ach, wisst ihr was? Scheiß drauf! Das ist eine verdammt gute Idee.« Eve ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und griff nach der Flasche des schottischen Single Malts, den sie sich für besondere Ereignisse besorgt hatte. Sie schaute sich suchend um. »Verdammt! Pete, geh bitte in die Kantine und hol uns drei Gläser.«

Pete tat wie ihm geheißen und kam kurze Zeit darauf mit drei Wassergläsern zurück. »Es ist echt schwer, in einer Kantine der Polizei Whiskeygläser zu finden, aber die tun es auch!« Pete zwinkerte Eve mit einem verschmitzten Lächeln zu.

Eve ließ sich nicht lumpen und schenkte den edlen Single Malt großzügig ein. »Cheers, Männer!« Sie erhoben die Gläser und prosteten sich zu.

»Das BKA können wir meines Erachtens streichen. Alexander Mier leitet die Abteilung Cybercrime. Ich tippe auf den Verfassungsschutz.«

»Das sehe ich anders, David. Die Schutzgruppe des Bundeskriminalamtes ist ein hocheffizientes, taktisch ausgebildetes Kommando. Streichen sollten wir die verdeckten Ermittler und die V-Leute vom Verfassungsschutz.«

»Pete, bedingt bin ich deiner Meinung. Aber Alexander und Schutzgruppe? Nein. In unserer gemeinsamen Zeit …«

»In eurer was?« Pete konnte nicht fassen, was er gerade eben gehört hatte.

»Alexander und ich waren mal ein Paar. Das ist aber schon echt lange her. Das war Anfang 2000. Alexander hatte damals viel im Ausland zu tun. Ich war bei der Polizei und er arbeitete für den Bund. Wegen der vielen Arbeit, den unzähligen Überstunden, haben wir sehr gut zusammengepasst.«

»Und du hast nicht gewusst, welche Tätigkeit er beim Bund hatte?«

»Er hat nie darüber geredet und ich habe ihn nie gefragt. Wir haben generell nie über unsere Arbeit gesprochen. Lasst uns die Dienste genauer anschauen. Wir haben noch den BND und die Bundeswehr. Ist euch an Alexander etwas aufgefallen? An seinen Bewegungen?«

Pete und David legten ihre Stirn in Falten. Mit Eves Aussage konnten sie so gar nichts anfangen. »Was sollte uns an ihm aufgefallen sein?«

»Na sein Verhalten, seine Gestik. So wie er sich bewegt.«

»Null Komma null!«

»Mir auch nicht. Dann fällt Militär aus.« Eve ging zum Whiteboard und strich BKA, Verfassungsschutz und die Bundeswehr durch.

»Eve, ich verstehe kein Wort. Was meintest du mit seinem Verhalten, seiner Gestik und wie er sich bewegt?«

»Sorry, David. Ex-Militärs, die ihr gesamtes Leben gedient haben, können sich militärische Verhaltensweisen nicht oder nur sehr schlecht abgewöhnen. Sie wirken teils wie menschliche Roboter. Der militärische Drill sitzt tief und begleitet sie ein Leben lang.«

»Okay. Das habe ich verstanden. Aber was machen wir hier? Es liegt doch an Alexander, seine Vergangenheit zu überprüfen, um eventuelle Verbindungen zu unserem Killer herstellen zu können. Welche Rolle spielt es, für welchen Dienst er tätig war? Mir ist das scheißegal.« David redete sich in Rage.

»David, der Killer kennt Alexander Mier! Hast du das etwa vergessen? Wenn wir herausfinden, für welchen Dienst er tätig war, dann liegt die Vermutung nahe, dass unser Killer für denselben Dienst gearbeitet hat.«

»Und ihr glaubt, dass, wenn selbst Alexander Mier uns keine Informationen gibt, sein ehemaliger Dienst uns mit Informationen ausstatten wird? Never ever !« David drehte sich genervt zur Seite und nippte an seinem Whiskey.

»Ich gebe es nicht gern zu, aber David hat recht. Das hier ist eine beschissene Sackgasse. Und jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass Alexander für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet hat. Also können wir uns das hier eh schenken. Der BND gibt keinerlei Informationen über ehemalige Agenten preis.«

Eve musste sich eingestehen, dass dies einer Niederlage gleichkam.

»Okay, dann zurück zur guten alten Ermittlungsarbeit. Setzt euch bitte mit den polnischen Kollegen in Verbindung. Nur wenn wir proaktiv vorgehen, haben wir eine Chance, weiter an diesem Fall zu bleiben. Um Alexander werde ich mich kümmern. Da das BKA bereits eine internationale Fahndung eingeleitet hat, habe ich vielleicht eine Idee. Meldet euch bei Kommissar Szymon Wróbel von der Kriminalpolizei in Warschau. Sein Bereich ist ähnlich dem unseren: Gewaltverbrechen und schwere Kriminalität. Sollte unser Killer irgendwo in Polen zuschlagen, wird Wróbel es erfahren.«