TOTE NEUE WELT
Der Himmel war rot.
Die Sonne direkt über ihr war ein Feuerball. Sie war groß und heiß und nicht so weit weg wie die Sonne zu Hause.
Früher musste die Stadt beeindruckend gewesen sein. Einst hatten die Bewohner in den hoch aufragenden Klippen gelebt, die Höhlen als Behausungen genutzt und Türen und Fenster durch den Fels gebohrt. Später hatten sie Steinhäuser gebaut, eines über dem anderen. Die Häuser, die an der Felswand klebten, erinnerten Walküre an Bilder von Bergdörfern in Brasilien. Sie stellte sich vor, dass die Stadt einmal voller Leben, Energie und Lärm gewesen war, mit Hunderttausenden von Menschen, die hier zusammengepfercht wohnten und gezwungen waren, miteinander auszukommen.
Jetzt war jedoch alles still. Still und tot.
Das Portal hinter ihr schloss sich und Walküre befand sich in einer schmalen Gasse, eingerahmt von weißem, von der Sonne gebleichtem Stein, der ihr in den Augen wehtat. Sie ging die Gasse hinunter; ihre Schritte knirschten auf dem rissigen Asphalt. Im Vorbeigehen lugte sie in halb verfallene Häuser, doch sämtliche Zimmer waren leer, ausgeräumt von den Elementen und was immer es sonst noch hier gab.
Die Gasse verlief bald eben und öffnete sich auf einen Platz. Walküre ging bis zur Mitte, drehte sich langsam um die eigene Achse und blickte sich um. Sie sah zu den Klippen hinauf und erst jetzt erkannte sie die ungeheuren Ausmaße. Hier hatten nicht Hunderttausende Menschen gewohnt – es mussten Millionen gewesen sein. Ein Gedanke traf sie wie ein Blitz: Sie war in einer fremden Welt.
Unwillkürlich musste Walküre lächeln.
Dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte etwas zu erledigen und das Zeitfenster dafür war begrenzt. Sie ging durch eine Straße, die rechts von ihr von dem Platz abgegangen war. Die Straße machte einen Bogen und plötzlich lief sie auf Sand. Er war von dem riesigen ausgetrockneten Tal hereingeweht worden, das die Stadt umgab. Der Sand schimmerte in einem intensiven Goldton.
Sie ging ein paar Minuten und achtete darauf, dass sie eine relativ gerade Linie einhielt, damit sie auch bestimmt den Rückweg wiederfand. Grässlich hatte behauptet, ihre Kleider würden ihre Körpertemperatur konstant halten, egal wie die Außentemperaturen waren, aber irgendetwas funktionierte nicht. Sie schwitzte. Schweißperlen rannen über ihr Gesicht. Sie zog den Mantel aus und legte ihn als Markierung an eine Ecke. Sie spürte die Sonne auf ihren bloßen Schultern und öffnete ihr Top, um Luft an ihren Körper zu lassen, doch falls irgendwo eine Brise wehte, verhinderte das Labyrinth der Straßen, dass sie bis in die Stadt kam. Dann bog Walküre um die nächste Ecke und sah die Leiche.
Sie saß, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, auf dem Boden. Ihre Brust war ein klaffendes Loch, die Organe längst vertrocknet. Der Kopf war glatt, ohne Augen, Mund und Nase. Dies war der Körper des Mannes, den sie Batu nannten, ein Körper, den der letzte Gesichtslose, der aus dem Portal gekommen war, in Besitz genommen hatte. Jetzt war allerdings keine Spur von Leben mehr in ihm. Für die Gesichtslosen waren menschliche Körper lediglich Transportmittel, die man benutzte und dann entsorgte. Batus Körper war nichts weiter als ein leckendes altes Boot oder ein verrostetes Auto. So viel zu seinem Masterplan, ein Gott zu werden.
Der Leichnam hielt etwas in seiner rechten Hand, einen Knochen, der zum größten Teil von Lumpen bedeckt war. Walküre mochte sich nicht vorstellen, dass es einer von Skulduggerys Knochen war. Zu gern hätte sie nach ihm gerufen, brachte es jedoch nicht über sich, die gespenstische Stille zu durchbrechen. Ihr fiel allerdings nichts ein, was sie sonst hätte tun können. Sie konnte diese Stadt monatelang durchsuchen, ohne ihn zu finden. Nein, nein, das Portal hatte sich nicht weit von Skulduggery entfernt geöffnet. Er war ganz in der Nähe. Es musste so sein.
Walküre ging denselben Weg, den sie gekommen war, wieder zurück, hob ihren Mantel auf und beschleunigte ihre Schritte. Sie kam wieder zu der Gasse, in der sie beim Durchschreiten des Portals gelandet war. Sie folgte ihr, bis die Gasse in eine Höhle führte. Wieder ließ sie ihren Mantel fallen und zauberte eine Flamme in ihre Hand. Dann trat sie aus der Sonne in rabenschwarze Finsternis.
Sie ging weiter und sah in die Wand gehauene Regale und einen Tisch, der einmal ein Felsblock gewesen war. In weiten Bereichen der Höhle brauchte sie ihre Flamme nicht einmal – die Fenster dort waren so konstruiert, dass sie das Sonnenlicht einsaugten und verteilten. Die Höhle endete an einer Wand. Als Walküre sich umdrehte, um zurückzugehen, sah sie einen Knochen auf der Erde liegen. Daneben führte eine Steintreppe nach oben. Sie stieg hinauf.
Durch die drei Fenster an der Rückwand drang Sonnenlicht und Walküre ließ die Flamme in ihrer Hand erlöschen. Am Ende der Treppe blieb sie regungslos stehen. Mitten in dem Raum lag ein Skelett. Seine Kleider waren zerfetzt und hingen an dem Gestell, das konstruiert worden war, um den Anschein von Masse zu erwecken. Soweit sie es erkennen konnte, waren die Hosenbeine leer und der rechte Arm des Skeletts fehlte ebenfalls. Es lag auf dem Rücken, der entblößte Brustkorb war schmutzig und verstaubt und es rührte sich nicht.
Etwas presste Walküres Herz zusammen und wollte nicht mehr loslassen. Ein Ton entschlüpfte ihr, es klang wie ein Wimmern, doch als sie seinen Namen sagen wollte, schaffte sie es nicht. Ihr erster Schritt war unsicher, da ihre Knie ganz weich waren. Langsam, unendlich langsam ging sie zur Mitte des Raumes.
„Hallo?“, flüsterte sie. Das Skelett lag auf dem Boden und rührte sich nicht.
„Ich bin es. Ich bin gekommen, um dich mit zurückzunehmen. Kannst du mich hören? Ich hab dich gefunden.“
Kein Windhauch bewegte die zerlumpten Kleider.
Sie kniete sich neben das Skelett. „Bitte sag doch etwas. Bitte. Du hast mir so gefehlt und ich habe so viel riskiert, um dich zu finden. Bitte.“
Sie streckte die Hand nach ihm aus und Skulduggery Pleasant riss den Kopf zu ihr herum und brüllte: „Buh!“
Walküre schrie auf und wich auf allen vieren zurück, und Skulduggery lachte hysterisch, als hätte er nie etwas Komischeres gesehen. Er lachte auch noch, als sie sich aufrichtete, und als sie ihn finster ansah, lachte er noch mehr. Während Lachkrämpfe noch immer seine Knochen schüttelten, hievte Skulduggery sich schließlich auf den einen Ellbogen, der ihm geblieben war.
„Du liebe Güte“, sagte er, „jetzt bereitet es mir schon Vergnügen, meine Halluzinationen zu erschrecken. Aus psychologischer Sicht kann das nicht gut für mich sein.“
„Ich bin keine Halluzination.“
Er sah zu ihr auf. „Doch, das bist du, meine Liebe, aber mach dir deshalb keine Gedanken. Eine Halluzination ist ein Geisteszustand, sage ich immer.“
„Skulduggery, ich bin echt.“
„So ist’s recht.“
„Nein, ich bin wirklich echt und ich bin hergekommen, um dich nach Hause zu holen.“
„Du bist anders als die anderen. Normalerweise singen und tanzen meine Halluzinationen viel mehr.“
„Ich bin es, Walküre.“
„Du glaubst gar nicht, wie viele meiner Hirngespinste das behaupten. Du hast nicht zufällig ein imaginäres Schachbrett dabei, oder? Ich habe jetzt schon seit einiger Zeit den Wunsch zu spielen, und da du ein Aspekt meiner Persönlichkeit bist, wärst du wahrscheinlich ein würdiger Gegner.“
„Wie kann ich dir beweisen, dass ich echt bin?“
Das ließ ihn kurz verstummen. „Interessante Frage. Du kannst mir ja nichts sagen, das nur wir beide wissen können, denn wenn ich es weiß, weiß auch meine Halluzination es. Aber wenn du mir etwas sagst, dass nur du wissen kannst, wäre dies der Beweis, dass ich mir dich nicht einbilde.“
„Hm … was soll ich dir verraten? Mein allergeheimstes Geheimnis? Meine früheste Erinnerung? Meine größte Angst?“
„Wie wäre es, wenn du mir sagen würdest, was du heute Morgen zum Frühstück gegessen hast?“
„Honey Loops.“
„Da haben wir es.“
„Dann glaubst du mir jetzt, dass ich echt bin?“
„Ganz und gar nicht. Ich kann mir das ja gerade ausgedacht haben.“
„Ich habe deinen Schädel gefunden – den, den die Kobolde dir geklaut haben. Fletcher hat ihn als Isthmus-Anker benutzt, um das Portal zu öffnen, und ich bin durchgegangen, damit ich dich zurückholen kann.“
„Meinen Schädel?“
„Es klingt glaubwürdig, oder? Es wäre möglich, ja?“
„Es wäre … tatsächlich durchaus möglich.“
„Hast du schon daran gedacht? Hast du dir vorgestellt, wie dein Schädel als Isthmus-Anker eingesetzt wird?“
„Hab ich nicht, aber ich war auch abgelenkt durch die Folter und das Fehlen guter Gespräche.“
„Wenn du also noch nicht daran gedacht hast, wie könnte es mir dann einfallen, wenn ich nur ein Produkt deiner Fantasie wäre?“
„Na ja“, meinte Skulduggery gedehnt, „du könntest ein Produkt meines Unterbewusstseins sein.“
„Ich bin nicht dein Unterbewusstsein. Ich bin Walküre. Ich bin echt. Und ich bin hier, um dich zu retten.“
„Wenn du mir meine Gliedmaßen wiederbringst, glaube ich dir.“
„Okay“, sagte Walküre und sah sich in der Höhle um.
Er redete weiter, während sie suchte. „Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich die Hoffnung auf Rettung aufgegeben, weshalb dieses ganze Szenario einigermaßen überflüssig ist. Nichts für ungut. Zuerst habe ich gedacht, ein paar der Überlebenden könnten kommen, aber ich habe mich mit der Tatsache abgefunden, dass sie inzwischen alle tot sind.“
„Überlebende?“, wiederholte Walküre. Sie hob ein völlig intaktes Bein auf und wischte den Staub ab, bevor sie es ihm gab.
„Als ich hierherkam, gab es noch Überlebende“, erzählte er, während er den Oberschenkelknochen an seiner Hüfte befestigte, was bei ihm praktischerweise möglich, aber offenbar ziemlich schmerzhaft war. „Das hier war die letzte Welt, zu der die Gesichtslosen kamen, und sie ließen sich Zeit mit ihr. Ich lernte ein paar Leute kennen, bevor sie umgebracht wurden und man mich gefangen nahm. Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihre Sprache beherrschte, aber wie sie mir erzählt haben, war das mal eine Welt voller Magie. Bis dann vor dreihundert Jahren die Gesichtslosen auftauchten.“
„Aber die Gesichtslosen wurden aus unserer Wirklichkeit doch schon vor Tausenden von Jahren verbannt.“ Walküre ging die Treppe hinunter zu dem Knochen, der ihr gleich aufgefallen war. Es handelte sich um Skulduggerys anderes Bein und sie hob auch noch eine Handvoll Kleinzeug auf, anscheinend Zehen.
„Ah, aber die Gesichtslosen wurden ja nicht hierherverbannt“, sagte Skulduggery, als sie wieder zurückkam. „Die Urväter vertrieben sie aus unserer Welt und schoben sie in eine karge Dimension ab. Doch die Gesichtslosen entkamen, durchbrachen die Mauern zwischen den Wirklichkeiten und fielen in ein Universum ein, das vor Leben nur so strotzte. Im Lauf der Zeit schwächten sie dieses Universum, töteten alle, zerstörten Sonnen, verwüsteten ganze Galaxien. Und als sie damit fertig waren, zogen sie weiter.“
Sie gab ihm das Bein und die Zehen. „Zu einer anderen Wirklichkeit?“
„Von einer zur anderen zogen sie und löschten auf ihrer Suche nach dem Weg zurück nach Hause alle aus. Vor dreihundert Jahren erreichten sie diese hier und kamen nicht weiter. Seither suchen sie nach einer Möglichkeit, von hier wegzukommen.“
„Oh mein Gott …“
„Und wir dachten die ganze Zeit, die Urväter hätten sie irgendwo hingebracht, wo sie keinen Schaden anrichten können. Trillionen von Wesen wurden getötet wegen uns, Walküre.“
Sie erwiderte nichts darauf.
„Wenn du echt bist“, fuhr er fort, „weiß ich, was du jetzt empfindest. Schuldgefühle, oder? Ein gewaltiges Gefühl der Verantwortung für etwas, an dem du nicht beteiligt warst. Das war zumindest meine Reaktion, als ich die Geschichte zum ersten Mal gehört habe. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Vielleicht jeder Wirklichkeit eine Karte schicken mit einer kurzen Entschuldigung? Als die Gesichtslosen uns dann gefunden, die anderen getötet und mich gefangen genommen haben, erkannte ich schließlich, dass sinnlose Reue nichts bringt, und kam darüber hinweg. Das ständige Gefoltertwerden hat sich als gute Ablenkung erwiesen.“
„Bist du … okay?“
„Nicht einmal annähernd.“ Er hielt inne; sein Bein hatte er erst halb zusammengesetzt. „Sie haben mich nicht getötet und sie haben mir meine magischen Kräfte nicht genommen, weil sie mich jeden Tag jagen. Ich glaube, sie schlüpfen abwechselnd in Batus Körper. Sie spüren mich auf, ich kämpfe, sie gewinnen mühelos und reißen mich in Stücke. Gestern zum Beispiel haben sie mir die Beine ausgerissen und sind mit einem meiner Arme abgehauen. Über Nacht lassen sie mich in Ruhe, damit ich mich wieder zusammensetzen kann und sie mich am nächsten Tag mit ihren lieben Tierchen wieder jagen können. Es ist, wie du dir vorstellen kannst, ein Riesenspaß.“
„Aber all das ist jetzt vorbei. Wir haben noch eine halbe Stunde, bevor sich das Portal wieder öffnet. Komm mit.“
Er sah zu ihr auf. „Mir fehlt noch ein Arm.“
„Und?“
„Das würdest du nicht sagen, wenn es dein Arm wäre. Ohne meinen Arm gehe ich nirgendwohin. Schaff ihn herbei und ich gehe mit dir durch das imaginäre Portal.“
„Du kannst mir suchen helfen“, sagte Walküre und wollte ihn auf die Beine ziehen. Ihre Hand berührte eine unsichtbare Wand. „Was ist das denn?“
„Etwas, das ich mir ausgedacht habe“, antwortete er selbstgefällig. „Ich hatte viel Zeit und konnte mich mit nichts anderem als mit Magie beschäftigen. Die Gesichtslosen können diese hübsche kleine Wand aus Luft problemlos durchbrechen, aber für Produkte meiner Fantasie, wie du eines bist, ist es ganz schön schwierig. Ich habe mir auch noch ein paar andere Tricks beigebracht.“
„Dann willst du hier herumsitzen, während ich die ganze Arbeit mache?“
„Genau das habe ich vor. An deiner Stelle würde ich nach dem Körper suchen, der einmal Batu gehört hat. Wenn der Arm irgendwo ist, dann dort.“
„Ja, ich habe ihn gesehen. Er sitzt draußen, nur zwei Straßen weiter. Wir könnten zu ihm schlendern und wären immer noch rechtzeitig zur Öffnung des Portals zurück.“
„Und wenn du rennst, kannst du ihn mir sogar noch früher bringen.“
Walküre seufzte und verließ die Höhle, während er sein Bein vollends zusammensetzte; eine gemurmelte Version des Gospelsongs „Dry Bones“ begleitete sie die Treppe hinunter. Sie lief hinaus unter den roten Himmel und ging den Weg, den sie gekommen war, zurück, wobei sie ihren Fußabdrücken im Sand folgte. Sie wünschte, sie hätte eine Sonnenbrille gegen das grelle Licht. Ihre Arme wurden in der Sonne rot und sie fragte sich, wie sie ihren Eltern einen Sonnenbrand im September erklären sollte.
Der Körper saß immer noch an derselben Stelle, leblos und mit gesenktem Kopf. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe, während sie überlegte, wie sie die Sache am besten angehen sollte. Dann trat sie ihm gegen den Kopf. Als er nicht versuchte, sie zu packen, beugte sie sich hinunter und zog Skulduggerys Arm aus seinen Knochenfingern. Dann fielen ihr die Ohren zu. Sie wankte und spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam. Ihre Mundhöhle bestand plötzlich aus straff gespannter, trockener Haut und ihr hämmerndes Herz war die Trommel, über die sie gespannt war. Sie stolperte über den Körper, stürzte und kroch dann auf allen vieren. Ihr Kopf dröhnte von dem ohrenbetäubenden Flüstern.
Die Gesichtslosen kamen.