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DER TEMPEL

„Du bist so still“, stellte Skulduggery fest, als sie weiterfuhren.

„Stimmt“, gab Walküre zu.

„Bist du beeindruckt von mir?“

„So etwas Ähnliches.“

Skulduggery nickte. „Du bist beeindruckt.“

„Wie geht es dir?“

„Ausgezeichnet“, antwortete er.

„Du hast ihm einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

„Wem? Dem Jungen? Tatsächlich?“

„Einen Moment lang hat es so ausgesehen, als wolltest du ihn umbringen.“

„Tatsächlich?“

„Tatsächlich.“

„Stell dir das mal vor.“

„Du hast gesagt, du hättest einen Schatten.“

„Hm? Oh ja, ich erinnere mich. Ganz schön clever, nicht wahr? Wenn sie nämlich glauben, dass ich verrückt geworden bin, sind meine Aktionen für sie kaum noch vorherzusehen. Ich werde sehr, sehr gefährlich für sie, und wenn wir Glück haben, bringt das Guild dazu, zu tun, was wir wollen.“

„Du hast also keinen …“, begann Walküre vorsichtig, „du hast keinen Schatten?“

„Du lieber Himmel, nein.“ Er lachte. „Nein, ich bin völlig normal. Aber willst du mir jetzt vielleicht verraten, was es mit dem Ring auf sich hat, den du trägst?“

„Oh“, sagte sie, „das.“

„Solomon Kranz lehrt dich Totenbeschwörung, ja?“

„Ich habe zusätzlich etwas gebraucht, um dich zurückholen zu können“, erklärte sie. „Ich bin noch Auszubildende der Elementemagie – ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann, verstehst du?“

„Und jetzt, da ich wieder zurück bin?“

„Bitte?“

„Du hast gesagt, du hättest den Ring gebraucht, um mich zurückzuholen. Jetzt, da ich zurück bin – war es das dann? Wirfst du ihn jetzt weg?“

Walküre spürte das kalte Metall an ihrem Finger, das in letzter Zeit eine richtige Beruhigung geworden war. „Wenn du das willst“, sagte sie gedehnt.

„Was möchtest du denn?“

„Ich weiß nicht.“ Da Skulduggery schwieg, musste sie weiterreden. „Ich glaube, dass es nicht wirklich sinnvoll ist, zusätzliche Kräfte wegzuschmeißen. Er ist eine Waffe, die ich brauche, um meinen Job machen zu können.“

„Und Elementemagier zu sein reicht dafür nicht aus?“

„Wenn ich auf dem Gebiet entsprechende Kräfte entwickelt habe, klar, und vor allem mit den ganzen neuen Sachen, die du jetzt kannst. Aber ich lerne ja noch. Und es dauert noch ein paar Jahre, bis ich die Magie wirklich beherrsche, oder?“

„Das stimmt.“ Skulduggery nickte. „Du wirst wahrscheinlich zwanzig werden, vielleicht auch einundzwanzig, bevor du dich unter allen Stilrichtungen für eine entscheiden musst.“

„Und danach kann ich nicht mehr wechseln?“

Er zögerte. „Es ist nicht ausgeschlossen. Aber es kommt höchst selten vor.“

„Aber ich kann den Ring benutzen, bis ich mich entscheiden muss, oder, und ihn dann zurückgeben?“

„Du glaubst, das wäre so einfach?“

„Warum nicht?“

„Stärke macht süchtig.“

„Ich kann damit umgehen.“

„Solomon Kranz ist nicht zu trauen.“

„Er hat mir letzte Nacht das Leben gerettet.“

Skulduggery wandte ihr mit einem Ruck den Kopf zu. „Was ist passiert?“

„Hm, Crux ist bei mir zu Hause eingestiegen und hat versucht, mich umzubringen. Ich wäre mit ihm fertiggeworden. Kranz hat mir nicht wirklich das Leben gerettet, aber, na ja, er hat mir geholfen. Chinas Leute haben jetzt aber einen Schutzzaun um Haggard gezogen, sodass kein Magier unbemerkt hereinkommen kann. Außer mir natürlich.“

„Klar“, sagte Skulduggery und riss das Lenkrad herum. „Ich muss mit Kranz sprechen.“

Walküre war erst ein einziges Mal im Tempel der Totenbeschwörer gewesen; damals war ihr Ring in der Schattenschmiede angefertigt worden. Als man ihr von dem Tempel erzählt hatte, hatte sie sich ein riesiges Bauwerk mit Türmen und hohen, schmalen Fenstern vorgestellt, mit gewaltigen Türen und womöglich ein paar dunklen, unergründlichen Verliesen. Ihre Erwartungen waren jedoch enttäuscht worden, als Solomon Kranz sie durch einen alten Friedhof zu einer Krypta geführt hatte. Sie lag hinter einem verrosteten Eisentor, das mit Unkraut und Efeu überwuchert war. Unter dieser Krypta befand sich der Tempel – ein kaltes, bedrohliches Labyrinth, das in völliger Dunkelheit lag.

Und vor diesem verrosteten Tor stand sie nun erneut, dieses Mal mit Skulduggery an ihrer Seite. Ihr Herz schlug schnell. Nicht aus Nervosität oder Aufregung, sondern lediglich, weil sie sich auf einem Friedhof befand. Sie spürte, wie die Ranken des Todes in den Ring an ihrem Finger gezogen wurden und dann in ihren Körper eindrangen. Bei der Vorstellung wurde ihr übel, aber das Gefühl war … elektrisierend.

Das Tor ging langsam auf. Solomon Kranz lächelte sie an und sagte: „… hört ich plötzlich leise klopfen, leise, doch vernehmlich klopfen und fuhr auf.“

„Wie originell“, bemerkte Skulduggery ohne Begeisterung, „ein Totenbeschwörer zitiert Poe.“

Kranz’ Lächeln wurde breiter. „Ha! Mir juckt der Daumen schon, sicher naht ein Sündensohn.“

„Shakespeare ist ein ergiebiges Jagdrevier für alle Gehirne, die aus dem Gleichgewicht geraten sind“, entgegnete Skulduggery. „Wollen wir den ganzen Tag damit angeben, wie belesen wir sind, oder können wir miteinander reden?“

„Worüber?“

„Walküre.“

„Aha. In diesem Fall kommt doch bitte herein.“ Die Eingangstür zur Krypta öffnete sich knarrend und sie gingen durch. „Wie geht es dir übrigens? Ich hoffe, das Leben in dieser anderen Dimension war nicht zu beschwerlich für dich.“

„Es war nicht nur schlecht dort“, antwortete Skulduggery. „Ich hatte Zeit, beim Schreien meine Stimmbänder zu trainieren.“

Sie folgten Kranz die steinerne Treppe hinunter in die Dunkelheit.

„Ich glaube, ich muss dir für deinen Vorschlag danken, meinen ursprünglichen Schädel als Isthmus-Anker zu verwenden“, fuhr Skulduggery fort. „Ohne dich wäre ich immer noch da drüben.“

„Vergiss es.“

„Gern.“

Kranz lachte.

Sie befanden sich jetzt in dem dunklen Labyrinth und gingen an den in die Wände geschnittenen Kammern vorbei. In einigen hoben Menschen in schwarzen Roben den Kopf und Lampenlicht ließ helle Haut vor dunklem Hintergrund aufblitzen. In anderen Kammern waren dunkel gekleidete Gestalten zu beschäftigt, um aufzusehen. Weiter vorn liefen Leute rasch den Gang entlang.

„Es scheint eine gewisse Unruhe zu herrschen“, stellte Skulduggery fest.

„Kein Grund zur Sorge, es betrifft euch nicht“, beruhigte ihn Kranz. „Wir sind auf der Suche nach einem unserer Artefakte, das verschwunden ist. Aber genug vom eintönigen Tempelleben. Du bist hergekommen, um mit mir zu reden?“

„Walküre hat mir erzählt, dass sie Unterricht bei dir nimmt.“ Skulduggerys Stimme klang laut in der kalten Stille.

„So ist es“, entgegnete Kranz. „Stellt das ein Problem für dich dar?“

„Totenbeschwörung ist eine gefährliche Disziplin. Nicht jeder ist dafür geschaffen.“

„Nun, nun“, sagte Kranz lächelnd, „könnte es sein, dass ich mehr Vertrauen in Walküres Fähigkeiten habe als du?“

„Hier geht es nicht um Fähigkeiten“, entgegnete Skulduggery barsch. „Hier geht es um Begabung.“

„Was meinst du damit?“, fragte Walküre.

„Kann ich davon ausgehen, dass Solomon mit dir über die Überzeugungen der Totenbeschwörer gesprochen hat, damit du deine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen treffen konntest?“

Plötzlich sah Kranz nicht mehr so glücklich aus. „Unsere Überzeugungen sind Privatsache. Wir sprechen darüber nicht mit …“

„Mit?“, forderte Skulduggery ihn zum Weiterreden auf.

„Ungläubigen“, sagte Kranz.

„Aber für mich kannst du doch bestimmt eine Ausnahme machen?“ Skulduggery ließ nicht locker. Irgendwie hatte er es fertiggebracht, sich an die Spitze ihrer kleinen Gruppe zu setzen, und Walküre stellte fest, dass sie die Quelle der lautlosen Unruhe ansteuerten. „Und was Walküre betrifft – berechtigt der Unterricht bei dir sie nicht auch dazu, deine Antwort zu hören?“

„Walküre“, holte Kranz aus, „man könnte dich als eine unserer Schülerinnen betrachten, als Auszubildende, und als solche kannst du davon ausgehen, dass du diese Dinge innerhalb der nächsten Jahre nach und nach erfährst.“

„Aber du ersparst dir die Formalitäten“, sagte Skulduggery. „Oder?“

Kranz seufzte und wandte sich an Walküre. „Der Tod gehört zum Leben. Das hast du zweifellos schon gehört. Man sagt es so dahin, um die Hinterbliebenen und Ängstlichen zu trösten. Tatsache jedoch ist, dass das Leben in den Tod übergeht und der Tod zurückfließt ins Leben. Die Dunkelheit, die wir in unserer Magie verwenden, ist eine lebendige Energie. Du hast sie gespürt, nicht wahr? Sie besitzt fast ein Eigenleben. Sie ist Leben und Tod. Und beide sind ein und dasselbe – ein sich beständig erneuernder Strom, der sämtliche Universen durchdringt.“

„Erzähl ihr vom Todbringer“, verlangte Skulduggery und blickte sich um.

„Der Todbringer spielt keine Rolle für –“

„Du kannst es doch jetzt nicht mehr vor ihr geheim halten, oder? Dann kannst du es genauso gut auch erzählen.“

Kranz holte tief Luft, um seine Wut zu unterdrücken. „Wir warten auf einen Totenbeschwörer, der so mächtig ist, dass er die Mauern zwischen Leben und Tod einreißen kann. Es gibt Leute, die diese Person den Todbringer nennen. Wir haben Tests durchgeführt; wir haben geforscht; wir sind ausgesprochen nüchtern an die ganze Sache herangegangen. Es handelt sich hier nicht um eine Prophezeiung. Prophezeiungen haben nichts zu bedeuten, sie sind lediglich Interpretationen von Möglichkeiten. Hier handelt es sich um eine Unvermeidlichkeit. Wir werden jemanden finden, der mächtig genug ist, die Mauer einzureißen, dann wird die Energie der Toten ein Teil unseres Lebens sein und wir werden uns dahin entwickeln, dass wir positiv damit umgehen können.“

„Sie nennen das Passage oder Übergang“, warf Skulduggery ein. „Was Solomon dir hier aus gutem Grund nicht sagen will, sind die Namen einiger Leute, von denen die Totenbeschwörer in der Vergangenheit dachten, es seien die Todbringer.“

„Das braucht sie nicht zu wissen“, wehrte Kranz mit Wut im Blick ab.

„Ich glaube doch.“

„Nennt sie mir“, sagte Walküre, an beide gewandt.

Kranz zögerte. „Die letzte Person, die wir für mächtig genug hielten, um möglicherweise der Todbringer zu werden, kam während des Krieges zu uns. Nach zwei Jahren Ausbildung zum Totenbeschwörer war Lord Vile jedem unserer Meister ebenbürtig.“

„Vile?“, fragte Walküre. „Lord Vile war euer Erlöser?“

„Wir dachten, er könnte es sein“, entgegnete Kranz rasch. „So schnell wie er hat sich noch keiner nach oben gearbeitet. Es war unglaublich. Er war ein Genie. Das Dunkel war … Es war nicht nur in ihm. Er war das Dunkel.“

Sie bogen um eine Ecke und folgten einem Gang bis zum Ende, wobei Skulduggery die Gruppe unmerklich führte.

„Und dann ist er ausgestiegen“, ergänzte Skulduggery, „und hat sich Mevolents Armee angeschlossen. Ich wette, dass euch das immer noch wurmt.“

„Dann wart ihr seitdem ohne Todbringer?“, fragte Walküre.

„Ja.“ Kranz sah Skulduggery an. „Bist du deshalb hergekommen? Um diesen ungeschickten Versuch anzustellen, mich in Verlegenheit zu bringen?“

„Ursprünglich ja“, gab Skulduggery zu. „Doch jetzt bin ich neugierig, was dieses Artefakt betrifft, das ihr verlegt habt. Oh, wo sind wir denn hier gelandet? Was für ein netter Zufall.“

Sie hatten eine kleine Kammer erreicht, in der kreuz und quer Holzregale standen. Die beiden Totenbeschwörer, die sich darin aufhielten, verstummten augenblicklich. Skulduggery wollte hineingehen, doch Kranz hielt ihn am Ärmel fest.

„Wir haben dich nicht um Hilfe gebeten“, sagte er mit fester Stimme. „Das ist eine Angelegenheit der Totenbeschwörer.“

„Aber er war hier?“, fragte Skulduggery. „Dieser Gegenstand? Warum sagst du uns nicht, was fehlt, und ich sage dir, wer es an sich genommen hat?“

Kranz lächelte schmallippig. „Du weißt es bereits?“

„Ich bin schließlich Detektiv.“

Kranz überlegte einen Augenblick, dann nickte er den beiden Totenbeschwörern zu und sie verließen die Kammer. „Was fehlt, ist eine Kugel, ungefähr so groß wie deine Faust, und sie liegt auf einem Bett aus Obsidian.“

„Ein Seelenfänger“, sagte Skulduggery.

„Einer der letzten noch existierenden“, bestätigte Kranz.

Walküre runzelte die Stirn. „Macht er das, wonach es sich anhört? Wozu müsst ihr Seelen fangen?“

„Der Seelenfänger wurde dazu benutzt, die Energie eines einzelnen Individuums einzufangen und festzuhalten“, erklärte Kranz ihr, „damit sie nicht mit dem Strom fließen kann. Es war eine barbarische Strafe, die wir seit Langem verboten haben. Die letzte Inventur wurde vor einem Monat durchgeführt. Wenn er tatsächlich gestohlen wurde, kann man ihn vor einem Monat gestohlen haben oder gestern. Tatsache ist jedoch, dass ich mir absolut nicht vorstellen kann, wie ein Dieb unbemerkt so weit in den Tempel vordringen konnte.“

„Oh, er wurde eindeutig gestohlen“, sagte Skulduggery, „aber der Dieb ist nicht durch die Tür gekommen.“

Walküre sah ihn an. „Und wer war der Dieb?“

Skulduggery zeigte nach oben. Sie schnippte mit den Fingern und hob die Hand. Der Schein der Flamme flackerte über ein Loch in der Decke, das groß genug war, dass ein Mann durchpasste.

„Sanguin“, stöhnte Walküre.

Kranz runzelte die Stirn. „Billy-Ray Sanguin? Wozu braucht der denn einen Seelenfänger?“

„Das ist jetzt lediglich eine Vermutung“, meinte Skulduggery, „aber vielleicht will er eine Seele damit fangen.“