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DER ANGRIFF

„Für mich stand immer fest“, sagte Skulduggery, während er fuhr, „dass Skulduggery ein ausgezeichneter Name für ein Baby wäre.“

Walküre nickte nachdenklich. „Ich werde den Vorschlag auf jeden Fall weitergeben. Aber wie nennen wir es, wenn es ein Mädchen wird?“

„Skulduggery“, sagte Skulduggery.

„Derselbe Name, ob Mädchen oder Junge?“

„Ja.“

„Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass meine Eltern sich mit dem Namen Skulduggery anfreunden können. Wenn es ein Mädchen wird, entscheiden sie sich vielleicht für Stephanie die Zweite, weil sie mich wahrscheinlich nie mehr wiedersehen.“

„Du bist eine solche Pessimistin.“

„Wir sind auf dem Weg ins Sanktuarium, wo sie mich alle verhaften wollen.“

„Du hast nun mal gegen das Gesetz verstoßen.“

„Ich habe dich gerettet.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich war glücklich dort, wo ich war.“

„Rede bitte nicht mehr so mit mir.“

„Ich habe dir immer noch nicht angemessen für meine Rettung gedankt, oder?“

„Nö.“

„Dann kommt es noch“, sagte er und nickte.

Sie stellten den Wagen hinter dem Wachsfigurenkabinett ab und stiegen aus.

„Sie werden dich nicht verhaften“, sagte Skulduggery, als sie hineingingen. „Möglich, dass sie dich finster angucken und beschimpfen, aber sie werden dich nicht verhaften. Na ja, möglicherweise doch. Die Chance ist ziemlich groß. Aber das Wichtigste ist, dass ich nichts Unrechtes getan habe.“

„Ausnahmsweise.“

Skulduggery ging durch die Dunkelheit voraus und Walküre runzelte die Stirn. Ihr Totenbeschwörerring war kalt. Skulduggery murmelte etwas und zog seinen Revolver. Die Tür zum Sanktuarium stand offen und die Wachsfigur von Phil Lynott lag reglos am Boden. Sie blickte nicht auf, als sie vorbeischlichen. Skulduggery ging als erster die Treppe hinunter, Walküre dicht hinter ihm. Die Wand war blutverschmiert.

Sie betraten das Foyer. Sensenträger lagen tot herum. Walküre konnte nicht sagen, wie viele es waren. Man hatte sie in Stücke gerissen.

Skulduggery zeigte auf die offene Tür vor ihnen und sie gingen leise hinüber. In dem Flur davor lag ein zusammengekrümmter Zauberer mit einem klaffenden Loch in der Brust. Sie gingen durch die Tür und schlichen sich lautlos an den Wänden entlang. Im Sanktuarium war es unnatürlich, gespenstisch still.

Als sie um die nächste Ecke bogen, lag da ein toter Vampir. Sein kalkweißer Körper war von der Waffe eines Sensenträgers praktisch in der Mitte durchgetrennt worden. Bisher hatte Walküre noch keine Gelegenheit gehabt, eine dieser blutrünstigen Kreaturen aus der Nähe zu betrachten – nicht ohne dass sie gleichzeitig um ihr Leben gekämpft hätte. Er war männlich und kahlköpfig und sein großer Mund stand offen. Über die zerklüfteten Zähne hing eine spitze rote Zunge. Seine schwarzen Augen starrten blicklos an die Decke.

Sie gingen weiter und sahen noch einen Vampir, dem der Kopf abgeschnitten worden war. Neben ihm lag ein Zauberer, mit dem sich Walküre einmal unterhalten hatte. Die Klaue des Vampirs hatte sein Gesicht aufgeschlitzt. Auch er war tot.

Skulduggery machte ihr ein Zeichen und wies dann einen Korridor hinunter, der von ihrem abzweigte und zu den Arrestzellen führte. Sie nickte und sie änderten ihre Richtung. Ihr Mund war trocken. Sie merkte, dass sie entsetzliche Angst hatte. In jedem Korridor, an dem sie vorbeikamen, lagen weitere Leichen. Hier war eine ganze Armee von Vampiren durchgekommen – und sie mussten davon ausgehen, dass eine ganze Armee von Vampiren immer noch hier war.

Sie bogen um eine Ecke und Davina Marr wirbelte mit wildem Blick zu ihnen herum. Skulduggery hob den Arm und ihre Waffe flog ihr aus der Hand. Er drückte gegen die Luft, sie wurde hochgehoben und krachte in die Wand hinter ihr. Er ließ die Finger gespreizt und hielt sie dort fest.

„Was ist passiert?“, flüsterte er.

Marr öffnete den Mund, um zu schreien, und Skulduggery machte eine schnelle Handbewegung zur Seite hin. Marr flog an die gegenüberliegende Wand und fiel bewusstlos zu Boden.

Walküre widerstand der Versuchung, im Vorbeigehen nach ihr zu treten, als sie sich wieder auf den Weg zu den Arrestzellen machten. Skulduggery hielt Wache, während Walküre Grässlich und Tanith befreite. Tanith nahm Skulduggery wortlos in den Arm und Grässlich schüttelte ihm die Hand.

„Willkommen daheim“, sagte Grässlich leise. „Was um alles in der Welt ist denn hier los?“

„Vampire.“

Was?

„Wir wissen nicht, wie viele noch hier sind, deshalb nichts wie raus, aber leise.“

Rasch gingen sie denselben Weg, den sie gekommen waren, zurück und bogen dann nach rechts ab. Tanith hob die Sense eines Sensenträgers auf. Sie kamen an der offenen Tür zum Repositorium vorbei, an der geschlossenen zum Verlies und gingen dann nach links. Im Korridor vor ihnen hockte, den Rücken an die Wand gelehnt, Thurid Guild. Er umklammerte seinen Arm, der offensichtlich gebrochen war. Aus einer Schnittwunde über seinem Auge lief Blut.

Er sah sie und schüttelte heftig den Kopf. Sie blieben stocksteif stehen. Er blickte kurz nach links.

Ein Vampir trottete ins Blickfeld; sein Mund war blutverschmiert. Er näherte sich Guild und der Großmagier wich zurück. Der Vampir schnüffelte an ihm und knurrte. Guild hob die Hand, um gegen die Luft zu drücken. Der Vampir holte fast träge aus und die Finger des Großmagiers kullerten auf den Boden. Guild schrie auf und der Vampir beugte sich über ihn. Skulduggery pfiff durch die Zähne.

Der Vampir drehte den Kopf und riss die schwarzen Augen auf, als er das ganze Frischfleisch sah, das ihm da praktisch auf dem Tablett serviert wurde. Er ließ von Guild ab und kam auf sie zu.

Walküre, Skulduggery und Grässlich drückten gegen die Luft und der Vampir krachte in eine unsichtbare Wand. Er schnappte und kratzte und brüllte, doch es gab keine Lücke, durch die er hätte schlüpfen können. Skulduggery streckte die andere Hand aus und Walküre spürte, wie die Luft umgewälzt wurde, als eine zweite unsichtbare Wand sich von hinten an den Vampir heranschob. Skulduggery machte langsam eine Faust und die Kreatur saß in der Falle. Sie hob vom Boden ab, wand sich und schlug mit den Armen um sich, doch befreien konnte sie sich nicht.

„Wartet hier“, murmelte Skulduggery, warf Grässlich seinen Revolver zu und ging dann mit dem Vampir zurück zu den Arrestzellen.

Die anderen liefen zu Guild und Tanith half ihm auf die Beine. Er schwitzte und klapperte mit den Zähnen. Walküre kannte die Symptome gut; er stand unter Schock.

„Sammle seine Finger ein“, sagte Tanith, während sie Guild stützte, damit er hinter Grässlich den Korridor hinunterhumpeln konnte.

Walküre wurde blass. Sie kämpfte gegen die Übelkeit, als sie die drei bleichen Finger aufhob und von sich weg hielt, während sie den anderen folgte. Einer fiel ihr aus der Hand und sie trat darauf.

„Verdammt“, murmelte sie.

„Warum sagt sie verdammt?“, fragte Guild. Er war zu schwach, um sich umzudrehen. „Was tut sie?“

Tanith drehte sich um und sah Walküre auf einem Bein herumhüpfen, während sie versuchte, den Finger aus dem Profil ihrer Stiefelsohle zu pulen.

„Nichts“, antwortete Tanith und warf ihr einen finsteren Blick zu, bevor sie sich wieder umdrehte.

Als Walküre endlich wieder alle drei Finger beisammenhatte, lief sie hinter den anderen her.

Bis Guilds Finger wieder mit seiner Hand verbunden waren, hatten die Sensenträger das Sanktuarium dreimal durchkämmt. Das endgültige Ergebnis lag bei vierzehn toten Vampiren plus einem lebendigen Vampir in einer Arrestzelle und sieben toten Zauberern. Neun Sensenträger waren umgekommen. Die verletzten wurden in Quarantäne gebracht und die Sanktuariumsärzte bemühten sich, die durch die Vampirbisse hervorgerufene Infektion aus ihrem Organismus zu bekommen. Drei weitere starben auf den Operationstischen, während Walküre dabeistand.

Guild verließ die Krankenstation gegen die Anordnung seines Arztes, sobald er dazu in der Lage war. Sein gebrochener Arm lag in einer Schlinge und die verletzte Hand steckte in einem Handschuh, der den Heilungsprozess beschleunigen sollte.

„Dahinter steckt Dusk“, behauptete er, als sie die blutverspritzten Korridore entlanggingen. „Wir dachten, er säße immer noch in Russland im Gefängnis. Kein Mensch hat es für nötig befunden, uns mitzuteilen, dass er vor zwei Wochen entkommen ist. Offensichtlich hat sich Sanguin einen Weg in seine Zelle gegraben. Danach haben sie sich den Weg nach draußen freigekämpft. Die Russen hielten es auch nicht für nötig, uns das mitzuteilen.“

„Dann arbeiten Dusk und Sanguin also wieder zusammen“, stellte Skulduggery fest. „Aber warum? Und was ist hier passiert?“

„Dusk hat Sprengstoff an der Tür angebracht und war als Erster hier drin. Ich habe noch nie so viele Vampire gesehen. Sie kamen wie eine Welle und schwappten über alles hinweg. Der Strom hörte gar nicht mehr auf.“

„Dusk hatte seine Haut nicht abgestreift?“, fragte Skulduggery.

Guild schüttelte den Kopf. „Er war noch in seiner menschlichen Gestalt. Er hat uns die Vampire auf den Hals gehetzt, ist selbst aber in den Nordflügel gegangen, zum Repositorium. Meine Leute sind jetzt dort und versuchen festzustellen, worauf er aus war.“

Sie hörten eine Verwünschung, und als sie sich umdrehten, sahen sie Davina Marr, die mit wütendem Blick ihre Waffe auf sie richtete. „Zurücktreten!“, verlangte sie. „Mehr Abstand zum Großmagier.“

Guild schüttelte den Kopf. „Nehmen Sie die Waffe herunter, Detektivin Marr.“

„Sir, diese Leute sind flüchtig! Pleasant und Unruh haben mit den Vampiren zusammengearbeitet! Sie haben mich angegriffen!“

„Sie haben nicht mit den Vampiren zusammengearbeitet“, sagte Guild, „und auch wenn es mir sehr schwerfällt, es zuzugeben – sie haben mir das Leben gerettet. Sie sind frei und können gehen, Detektivin Marr. Nehmen Sie die Waffe herunter. Das ist ein Befehl.“

Marr blinzelte und senkte die Waffe. „Die Desolationsmaschine“, murmelte sie dumpf.

„Was?“

„Dusk hat die Desolationsmaschine mitgenommen. Wir machen gerade eine Bestandsaufnahme, aber anscheinend fehlt sonst nichts.“

„Was ist eine Desolationsmaschine?“, fragte Walküre.

„Im Grunde genommen ist es eine Bombe“, erklärte Grässlich. „Sie vernichtet alles innerhalb ihrer Reichweite, löscht alles aus. Heutzutage würde man sie eine Massenvernichtungswaffe nennen.“

„Sie kam bisher nur ein einziges Mal zum Einsatz“, fügte Tanith hinzu, „und zwar, wann war es gleich noch einmal? 1498? In einer Stadt nicht weit von Neapel. Jedes Lebewesen, sämtliche Gebäude, jeder Baum und jeder Strauch wurden ausgelöscht.“

Walküre runzelte die Stirn. „Warum liegt eine Bombe im Repositorium?“

„Das ist eine sehr gute Frage.“

„Sie ist entschärft worden“, sagte Guild. „Sie kann nicht gezündet werden. Wir hatten sie hier, weil es die einzige ihrer Art ist. Egal, wer die Maschine hat, gebrauchen kann sie niemand.“

„Bist du dir da ganz sicher?“, fragte Skulduggery.

„Hundertprozentig. Sie ist jetzt ein Briefbeschwerer.“

„Mag ja sein, aber es muss einen Grund geben, weshalb Dusk hinter ihr her war.“

„Dann holt sie zurück“, sagte Guild. „Tut, was ihr tun müsst, um ihn zu finden und aufzuhalten. Während eurer Ermittlungen stehen euch sämtliche Hilfsmittel, die wir haben, zur Verfügung.“ Er seufzte. „Ich mag dich nicht, Pleasant, und die Vorstellung, dass du den Rest deiner Tage in einer Welt voller Gesichtsloser verbringst, hat mir in den vergangenen Monaten wirklich das Herz erwärmt. Erst neulich hat meine Frau zu mir gesagt, ihr sei aufgefallen, dass mein Gang in letzter Zeit viel beschwingter sei. Das lag daran, dass ich dachte, ich würde dich nie mehr wiedersehen.“

„Du hast mir auch gefehlt, Guild.“

„Aber es ist an der Zeit, meine persönliche Abneigung vorübergehend zu vergessen. Wir waren soeben Zeuge eines Massakers und wir müssen die Verantwortlichen schnappen und sie büßen lassen.“

„Du bist auf Rache aus“, sagte Skulduggery.

„Ich bin auf Vergeltung aus.“

Skulduggery sah ihn an und nickte. Dann ging er hinaus und Walküre und die anderen folgten ihm. Marr schickte ihnen einen wütenden Blick hinterher und sie ließen sie mit ihrem Boss allein. Was immer jetzt kam, musste sie mit ihm ausmachen.

„Von dem, was ich in den letzten elf Monaten so getrieben habe, erzähle ich euch nur das absolute Minimum“, sagte Skulduggery zu Grässlich und Tanith, als sie das Foyer erreichten und die Treppe hinaufliefen. „Versucht also gar nicht erst, mir Löcher in den Bauch zu fragen.“

Grässlich nickte. „In Ordnung.“

„Ein paar Löcher wären ganz nett gewesen“, murmelte Skulduggery. Sie gingen durch das Wachsfigurenkabinett und traten hinaus in die kalte Nacht. Fletcher stand mit verschränkten Armen neben dem Bentley.

„Wollt ihr mich loswerden?“, fragte er wütend, als sie näher kamen. „Ich tue das, wozu ihr mich braucht, und dann entsorgt ihr mich, ja? Ist doch so, oder?“

„Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Augenblick, um eingeschnappt zu sein“, sagte Walküre und blickte ihn finster an.

„Im Gegenteil“, widersprach Skulduggery, „das ist genau der richtige Augenblick, um eingeschnappt zu sein. Fletcher, wir haben dich nicht mitgenommen, weil wir dein Leben nicht aufs Spiel setzen wollten.“

Fletcher kniff die Augen zusammen. „Dann bin ich also doch … noch mit von der Partie?“

„Natürlich bist du noch mit von der Partie“, sagte Skulduggery gut gelaunt. „Abgesehen von allem anderen bist du der Einzige, der garantieren kann, dass wir unseren Hals vor weiteren Vampiren retten können. Du verlängerst unser aller Leben, mein Junge.“

„Tatsächlich?“

„Und ob. Du, Fletcher Renn, bist unserer Gesundheit ausgesprochen zuträglich.“

Fletcher strahlte.

„Du bist so was wie Gemüse für uns“, fuhr Skulduggery fort und Fletchers Lächeln verschwand.

„Ich brauche mein Schwert“, erklärte Tanith.

„Ich bringe dich zu ihm“, sagte Skulduggery. „Walküre, nimm Fletcher und geh zu China.“

Fletcher blickte ihn finster an. „Ich bin kein Bus.“

Skulduggery ging nicht darauf ein. „Falls irgendjemand Gerüchte über Sanguin oder Dusk gehört hat, ist sie es. Tatsache ist doch, dass Sanguin nichts umsonst macht. Falls also jemand ihn bezahlt, müssen wir herausfinden, wer das ist und wozu er sowohl die Desolationsmaschine als auch den Seelenfänger braucht.“

„Oder wozu sie ihn braucht“, ergänzte Walküre.

„Guter Einwurf“, lobte Skulduggery. „Möglicherweise ist dies der erste Schritt, den Darquise auf ihrem Weg der Zerstörung macht. Falls es so ist, steht uns eine Menge Ärger bevor.“

„Und falls nicht?“

„Machen wir uns nichts vor“, gab er zu, „dann steht uns wahrscheinlich trotzdem eine Menge Ärger bevor.“