Vignette

MYRON STRAY

Das Haus hatte ein Gesicht.

Die beiden großen Fenster im ersten Stock blickten auf den Bentley herunter, als er vorfuhr und anhielt. Die Farbe glich trockener Haut, rissig und aufgesprungen, und die Haustür stand wie ein riesiger Mund sperrangelweit offen. Ohne die halb heruntergelassenen Rollläden, die dem Gesicht einen schläfrigen Ausdruck verliehen, wäre es gespenstisch gewesen, fand Walküre. So sah es nur aus, als hätte man es beim ausgiebigen Gähnen ertappt.

„Vor langer, langer Zeit“, sagte Skulduggery, „war Myron Stray ein Informationsmakler, ganz ähnlich wie China heute. Er genoss ein ziemliches Ansehen. Bis alles aus den Fugen geriet.“

„Was ist passiert?“, fragte Walküre.

„Vor hundertfünfzig Jahren, es können auch schon zweihundert sein, fand Bliss heraus, wie sein wirklicher Name lautet. Myron und Bliss haben sich nie gut verstanden – sie hingen sich ständig an der Gurgel. Eines Abends in einem Pub in Belfast, wo sie eigentlich einen Plan aushecken sollten, wie Mevolent unschädlich gemacht werden könnte, entbrannte ein Streit. Ich war nicht dabei, aber wie ich gehört habe, soll Myron Bliss gehänselt und aufgezogen haben. Bliss lehnte sich einfach nur zurück und sagte dann sehr ruhig, sehr leise: ‚Laudigan, geh.‘ Myron wurde anscheinend leichenblass und ging hinaus. Mr Bliss lächelte nur.“

„Sein richtiger Name ist also Laudigan?“, erkundigte Walküre sich erstaunt.

„So ist es. So etwas macht wie nichts die Runde. Und damit war Myrons Leben, das Leben, das er sich aufgebaut hatte, zu Ende. Er handelte mit Informationen und nun konnte jeder diesen Namen benutzen und hatte damit die Kontrolle über ihn. Man konnte ihn dazu bringen, dass er seine Geheimnisse verriet oder seine Feinde falsch informierte. Seine Freunde zogen sich zurück. Die Frau, mit der er zusammenlebte, verließ ihn am nächsten Tag. Sein Leben geriet aus den Fugen.“

„Das ist ja schrecklich.“

„Schon. Aber Myron hat einen Fehler gemacht – er hat Mr Bliss gehänselt.“

„Aber du hast zu ihm gehalten, ja? Zu Myron. Als alle anderen ihn im Stich gelassen haben?“

„Wenn ich ehrlich sein soll, waren wir nie wirklich Freunde. Und selbst wenn wir es gewesen wären – ich war zu dieser Zeit nicht da. Ich hatte die Schnauze voll von allem. Ich hatte die Schnauze voll vom Krieg und wollte nur noch, dass er endlich vorbei ist. Als ich zurückkam und hörte, was passiert war, hatte ich nicht mehr allzu viele Möglichkeiten, ihm zu helfen, selbst wenn ich es gewollt hätte.“

„Aber du hoffst jetzt, dass er immer noch das eine oder andere hört, ja?“

„China ist immer noch nicht ganz die Alte – möglich, dass ihr etwas Wichtiges entgangen ist. Zu warten, bis es ihr bessergeht, ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Deshalb sind wir gezwungen, uns ganz unten umzusehen. Und wenn es irgendeinen Ort gibt, an dem Myron derzeit zu Hause ist, dann ist es ganz unten.“

Sie stiegen aus und Walküre folgte Skulduggery durch das windschiefe Gartentor und über den Weg mit den gesprungenen Platten zum Haus. Sie lugten durch die offene Tür. An den feuchten Wänden hingen verblichene grüne Tapeten, deren Muster die Sonne an manchen Stellen ganz ausradiert hatte. Der Flurboden war kahl, aber die Treppe war mit Teppichboden belegt. Wem immer das Haus in den 70er-Jahren gehört hatte, war offensichtlich bestrebt gewesen, den Treppenbelag auf die Tapete abzustimmen. Herausgekommen war ein hässlicher Teppich in der Farbe von Galle. Skulduggery klopfte mit den Knöcheln an den Türrahmen und Walküre hörte, dass sich ganz hinten im Haus etwas bewegte.

Einen Augenblick später trat Myron Stray in den Flur. Er war durchschnittlich groß, durchschnittlich schlank und sah durchschnittlich gut aus. Auf seine blasse, unrasierte Art war er durchschnittlicher Durchschnitt.

„Skulduggery“, sagte er. „Du hast mich seit Ewigkeiten nicht mehr beehrt.“

„Ich war weg.“

„Hab davon gehört. Das muss dann wohl Walküre Unruh sein.“

Walküre streckte ihm lächelnd die Hand hin. Myron drehte sich um.

„Kommt rein“, sagte er.

Walküre fand den Mann sofort unsympathisch. Sie folgten ihm in die Küche. Auf dem Tisch türmten sich Pizzaschachteln neben Weinflaschen und in der Spüle stapelte sich das Geschirr. Substanzen, die möglicherweise einmal essbar waren, klebten längst vertrocknet und hart an den Tellern, und aus jeder einzelnen Tasse, die Walküre sah, kroch haariger Schimmel über den Rand. Die Luft war verbraucht und Fliegen flogen laut summend gegen die schmutzigen Fensterscheiben.

„Gefällt mir, was du aus dem Haus gemacht hast“, sagte Skulduggery schließlich.

Myron holte eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und ließ den Ringverschluss knacken. „Ich hab mir immer gewünscht, dass einer sich mal einen Mary-Poppins-Trick einfallen lässt. Du nicht? Du weißt schon, man schnippt mit den Fingern und das Geschirr wäscht sich von allein, der Boden wischt sich selbst auf und so was alles. Würde mir ’nen Haufen Geld für die Haushälterin sparen.“

Walküre runzelte die Stirn. „Sie haben eine Haushälterin?“

„Ich hab einen Witz gemacht. Allzu helle ist die nicht, was, Skulduggery?“

Mit dem Bemühen um Höflichkeit war es bei Walküre damit vorbei; ihre Miene spiegelte offene Feindseligkeit wider.

„Ganz anders als dein letzter Partner“, fuhr Myron fort und setzte sich an den Tisch. „Der, der gestorben ist. Wie ist er noch mal gestorben? Ich weiß es nicht mehr genau.“

„Qualvoll“, sagte Skulduggery.

„Als er starb, hat er deinen Namen gerufen, war’s nicht so? Und da wird’s jetzt ein wenig undurchsichtig. Als er deinen Namen geschrien hat, hat er da um Hilfe gerufen oder dich verflucht?“

„Von beidem ein bisschen, könnte ich mir vorstellen. Myron, ich möchte nicht, dass du meine Partnerin beleidigst. Ich wäre ihr sofort zu Hilfe gekommen, aber Walküre kann sehr gut für sich selbst einstehen. Walküre? Du kannst nach eigenem Gutdünken darauf reagieren.“

„Danke“, sagte Walküre mit einem dünnen Lächeln. „Wenn das so ist, werden wir dir jetzt ein paar Fragen stellen, Myron. Du hast doch nichts dagegen, dass ich dich duze, oder?“ Er öffnete den Mund zu einer schnoddrigen Bemerkung, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Danke, damit habe ich auch nicht gerechnet. Uns interessiert alles, was du über Skarabäus und seine mögliche Operationsbasis gehört hast.“

Myron sah sie lange an. „Tut mir leid, da kann ich euch nicht helfen.“

„Und mir tut es leid, dass ich nicht lockerlassen kann. Ich könnte dich weiter Myron nennen, weißt du, ich könnte aber auch deinen anderen Namen benutzen. Wie war er gleich noch mal? Der Name, der dich zwingt, alles zu tun, was man dir sagt?“

Myrons Blick wurde hart und er sah Skulduggery an. „Du hast mir versprochen, dass du meinen richtigen Namen nie gegen mich verwenden würdest.“

„Das habe ich“, erwiderte Skulduggery. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Und ich werde es auch nicht tun. Leider warst du unhöflich zu meiner Partnerin und Freundin und die hat dir ein solches Versprechen nicht gegeben.“

Walküre zog einen Stuhl unter dem Tisch vor, wischte die Sitzfläche ab und nahm Platz. „Ich habe irgendwo gelesen“, sagte sie, „dass man seinen richtigen Namen schützen kann. Das geht doch, oder? Es gibt eine Möglichkeit, ihn so mit einem Schutzzauber zu belegen, dass er nicht gegen einen verwendet werden kann. Warum hast du das nicht getan?“

Myron fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Dazu war es zu spät“, antwortete er steif. „Das funktioniert nur, wenn man ihn mit dem Schutzzauber belegt, bevor er benutzt wird.“

„Aha.“ Sie nickte. „Aber du hast nicht einmal gewusst, wie er lautet, stimmt’s? Und Mr Bliss wusste es. Und du hast ihn verärgert. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, womit, schließlich bist du doch so nett und höflich und es macht so viel Spaß, mit dir zusammen zu sein.“

Myron stellte seine Bierdose auf dem vollen Tisch ab und sah sie finster an. „Ihr wollt wissen, ob ich etwas gehört habe? Das habe ich. Über euch. Euch beide. Unter den Sensitiven wird geredet und sie sagen, dass eine Verrückte namens Darquise euch umbringen wird. Ich für meinen Teil kann’s kaum erwarten. Wir haben uns nie wirklich gemocht, Skulduggery, und dich, Mädchen, hab ich ganz gewiss auch nicht ins Herz geschlossen. Je eher die Verrückte euch kriegt, desto besser, wenn ihr mich fragt.“

„Wir haben von diesen Visionen gehört“, entgegnete Skulduggery ruhig. „Aber an deiner Stelle würde ich mich nicht zu sehr darüber freuen. Darquise bringt uns um, ja, aber sie bringt alle anderen mit um, wenn sie schon mal dabei ist. Das ist dir vielleicht entgangen.“

Myron strich über die Bartstoppeln an seinem Kinn, sagte aber nichts.

„Wir wollen wissen, wo Skarab sich versteckt“, sagte Walküre.

„Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Der Haufen Bekloppter, den er um sich geschart hat, lässt Freunden gegenüber nichts raus, weil die Typen keine Freunde haben. Keiner weiß, wo sie sich aufhalten.“

„Wir wissen, dass sie irgendwo in einem Schloss sind“, sagte Walküre.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“, blaffte Myron. „Ich hab nichts darauf gegeben, als ich es gehört habe. Aber in letzter Zeit kursierten eine Menge Gerüchte um Serpines alte Bleibe.“

„Serpines Schloss wurde versiegelt“, warf Skulduggery ein.

„Dann müssen sie eine Möglichkeit gefunden haben, es zu entsiegeln.“

Skulduggery erhob sich und setzte seinen Hut auf. Er holte eine Rolle Münzen aus seiner Manteltasche und legte sie auf eine umgedrehte Pappschale, in der einmal ein halbes Brathähnchen gewesen war. „Danke für deine Hilfe“, sagte er.

„Gern geschehen“, knurrte Myron.

Skulduggery tippte sich mit dem Finger an seine Hutkrempe und ging hinaus. Walküre stand auf und wollte ihm folgen.

„Interessante Leute, mit denen du deine Zeit verbringst“, bellte Myron und sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Hast auch schon ein paar schlechte Angewohnheiten von ihm übernommen. Seine große Klappe zum Beispiel.“

„Möglich.“

„Kleine Warnung meinerseits: Es gibt vielleicht nicht sehr viele Leute, die mir trauen, aber noch weniger, die deinem Freund trauen. Das nur mal so als Denkanstoß.“

Er nahm einen Schluck aus seiner Bierdose und Walküre ging hinaus zum Wagen.