DAS SCHLOSS
Bei ihrem letzten Besuch war Walküre aus dem Schloss geflohen. Sie hatten gerade Skulduggery gerettet und Serpines Hohle waren von allen Seiten herangestürmt.
„Ich rette dich ziemlich oft“, murmelte sie.
„Was hast du gesagt?“, fragte Skulduggery und drehte sich zu ihr um.
„Nichts.“
Sämtliche Fenster im Erdgeschoss waren zugemauert worden, weshalb sie durch ein Fenster im ersten Stock einstiegen und sich von dort einen Weg nach unten suchten. Es war still und kalt. Skulduggery ging als Erster die Treppe hinunter, dann kamen Fletcher und Anton Shudder. Walküre und Grässlich stellten die Nachhut.
Die Treppe zum Keller war zubetoniert worden.
„Verteilt euch“, sagte Skulduggery. „Wir suchen nach allem, was auf Aktivitäten in jüngster Zeit hinweist.“
Sie trennten sich. Walküre ging in den hinteren Teil des Schlosses. Hier und da standen alte, verstaubte Möbelstücke in ansonsten leeren Räumen. Sie betrat ein Wohnzimmer mit einem kunstvoll gestalteten offenen Kamin, wollte schon wieder hinausgehen und hielt dann doch inne. Die Art, wie das Licht die Rillen beschien, die sich vor dem Kamin in den Boden gegraben hatten, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie kniete sich hin und strich mit dem Finger an den flach getretenen Rändern entlang. Walküre war kein Fachmann, aber sie nahm an, dass diese flachen Rillen, die alle gleichförmig gebogen waren, schon ungefähr so alt waren wie das Schloss selbst. Über diese Stelle war im Lauf der Jahre immer wieder etwas Schweres gezogen worden – aber war das auch in jüngster Zeit passiert?
Walküre stellte sich auf den Sockel und fuhr mit den Händen über den Kaminsims. Die rechte Ecke war die einzige Stelle, auf der kein Staub lag, und ihre Finger strichen locker über den Stein. Sie spürte, wie etwas nachgab. Leise begann sich der Kamin zu drehen, schwang mit ihr herum durch die Wand und hinein in einen kalten Korridor. Der Kamin vollendete seine Umdrehung um 180 Grad und rastete mit einem leisen Klick ein. Walküre rührte sich nicht. Der Korridor war dunkel und mit Steinplatten verkleidet. Erhellt wurde er von Fackeln, die an Halterungen in der Wand steckten. Links von ihr war eine dicke Kette, die aus einer großen Luke im Boden kam und hinaufführte zu einem ebenso großen Loch in der Decke, als gehörte sie zu einem gewaltigen Flaschenzug.
Und keine zwei Meter entfernt stand, mit dem Rücken zu ihr, ein Hohler.
Im Licht der Fackeln konnte sie seine papierne Haut und die Stiche der Nähte erkennen. Da seine Arme von den schweren Fäusten nach unten gezogen wurden, zeichneten sich unter seinen Achseln scharfe Knicke ab.
Walküre versuchte, den Hebel erneut zu bewegen, doch der Mechanismus blockierte. Der Hohle ruckte mit dem Kopf, als hätte er etwas gehört. Walküre packte die dicke Kette mit beiden Händen. Im nächsten Augenblick wurde sie von den Füßen gehoben und durch das Loch in der Decke gezogen. Als sie hinunterblickte, drehte der Hohle sich gerade um, allerdings zu langsam, als dass er sie noch hätte sehen können.
Sie ließ sich vollends durch das Loch ziehen und schaute sich kurz um, bevor sie die Kette losließ. Dann holte sie ihr Handy heraus und warf einen Blick darauf. Sie hatte keinen Empfang, doch das hatte sie mehr oder weniger erwartet. Sie lief bis zum Ende des Korridors, wobei sie sich dicht an der Wand hielt und darauf achtete, dass ihr Schatten sie nicht verriet. Als ein anderer Flur kreuzte, schaute sie um die Ecke und sah Springer-Jack.
Walküre wich zurück und kauerte sich hin. Mit drei Schritten war er auf gleicher Höhe mit ihr, doch er ging vorbei, ohne nach unten in die Dunkelheit zu blicken. Sobald sie wieder klar denken konnte, zählte sie bis zehn und dann noch einmal fünf weiter, bevor sie sich aufrichtete. Sie lugte um die Ecke, doch er war schon im nächsten Flur verschwunden. Walküre schlich in die entgegengesetzte Richtung, um möglichst viel Abstand zu gewinnen. Vor Hohlen davonzulaufen wäre vielleicht noch möglich gewesen, doch vor ihm? Sie würde keine drei Schritte weit kommen.
Sie hörte einen Mann reden. Ein Lachen erklang, doch es war alles andere als fröhlich. Je weiter sie vorwärtsschlich, desto deutlicher vernahm sie die Stimme. Was gesprochen wurde, konnte sie aber immer noch nicht verstehen. Als sie an einer Tür vorbeiging, war die Stimme am klarsten, doch als sie das Ohr daran legte, hörte sie sie kein bisschen besser. Stirnrunzelnd trat Walküre einen Schritt zurück, versuchte auszumachen, woher die Stimme kam, und senkte den Blick. Auf dem Boden neben der Tür war eine Öffnung. Ein Luftschacht. Sie erkannte Kenspeckels Stimme, verstand aber immer noch nicht, was geredet wurde.
Walküre ließ sich auf Hände und Knie nieder und schaute in das Loch. Drinnen war es dunkel. Sehr dunkel. Sie legte sich flach auf den Bauch und kroch in den Schacht hinein. Während sie wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, spürte sie die dicke Staubschicht unter ihren Händen. Auf den Ellbogen robbte sie vorwärts, stieß mit dem Kopf an die Decke und biss die Zähne zusammen, weil es so wehtat. Jetzt verstand sie das Gesagte.
„… wie nett von ihnen, mir etwas zum Spielen zu geben, findest du nicht auch? So aufmerksam. Sie wollen nicht, dass ich Langeweile habe.“
Walküre kroch weiter und zerriss ein Spinnennetz, das sich über ihr Gesicht legte. Schnell wischte sie es beiseite und versuchte, ihr geistiges Auge vor Bildern von Spinnen, die durch ihr Haar krabbelten, zu verschließen. Vor ihr war eine Verzweigung und ein Ende führte in das Zimmer, aus dem die Stimmen kamen. Walküre schlängelte sich bis dorthin, legte das Gesicht an den kalten Stein und lugte in den Raum.
Tanith war nicht gefesselt oder an eine Wand gekettet, wie Walküre es erwartet hatte. Sie saß auf einem Stuhl, die Hände flach auf den Armlehnen, die Beine übereinandergeschlagen. Ihr gegenüber saß auf einem identischen Lehnstuhl ein alter Mann. Sein weißes Haar stand in Büscheln vom Kopf ab und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie Kenspeckel erkannte.
Neben beiden Stühlen stand jeweils ein kleiner Tisch. Auf Taniths Tisch stand eine Tasse mit Untertasse, auf dem neben Kenspeckel eine Teekanne und ein Schälchen mit Würfelzucker. Der gesamte Raum war mit Steinplatten verkleidet, doch die Stühle standen auf einem Läufer und an einer Wand hing ein ausgefranster Wandteppich. In der Ecke sah sie eine Lampe ohne Schirm. Die Glühbirne war zerbrochen. Es war ein schwacher Versuch, der Kargheit und Eigenartigkeit des Raums Wärme und Normalität zu verleihen, und er wirkte deshalb nur umso verstörender.
Kenspeckel trank einen Schluck Tee und stellte die Tasse mit einem leisen Pling auf die Untertasse zurück.
Taniths Gesicht war angespannt und schweißnass. Ihre Augen waren blicklos und ihr Körper war wie erstarrt. Walküre suchte nach einer Fessel oder sonst einem Zeichen dafür, dass Taniths magische Kräfte ausgeschaltet worden waren, konnte jedoch nichts erkennen.
Auf der Armlehne, die dem Luftschacht am nächsten war, sah sie einen kleinen eingetrockneten Blutfleck. Sie folgte dem Weg, den das Blut genommen haben musste, und erst jetzt besah sie sich Taniths Hände genauer. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches zu erkennen, aber es war, als hätte sie jemand ohne besondere Sorgfalt mit einem Tuch gesäubert, schnell und ohne darauf zu achten, dass auch alles Blut weggewischt war.
Walküre sah auf Taniths Handrücken Metall glänzen und erkannte, dass ihre Hände auf die Armlehnen genagelt worden waren. Ihr Magen rebellierte.
Sie wollte schreien und Tränen traten ihr in die Augen. Ihr Blick fiel auf zwei weitere Nägel. Sie waren dick und sahen lang und alt aus und waren durch Taniths Schlüsselbeine geschlagen worden, damit sie auf dem Stuhl nicht vornüberkippte. Ein fünfter Nagel ragte gleich oberhalb des Knies aus Taniths rechtem Bein. Er ging nach unten durch bis zum linken und hielt die beiden in dieser übereinandergeschlagenen Stellung.
Kenspeckel sagte wieder etwas, doch Walküre achtete nicht auf seine Worte. Sie bekam keine Luft mehr. Plötzlich war es viel zu heiß in dem Luftschacht und eng, viel zu eng. Sie musste hier sofort raus. Sie musste den Weg, den sie gekommen war, zurückrobben, musste die Tür einschlagen und diesen Restanten aus Kenspeckels Körper reißen. Nur das stand jetzt an. Das war das Einzige, das zählte.
Walküre versuchte zurückzurobben. Sie hatte eine Mordswut im Bauch. Die Wut brodelte, kochte und sprudelte ihre Speiseröhre hinauf. Walküre bewegte sich nicht. Sie konnte nicht rückwärtsrobben. In ihre Wut mischte sich Panik und schürte sie. Eine leise Stimme irgendwo in Walküres Kopf sagte ihr, sie solle sich beruhigen, doch sie hörte nicht darauf.
Sie kroch, so schnell es ging, weiter vorwärts, ächzend und ohne sich darum zu kümmern, ob das Wesen, das nicht Kenspeckel Grouse war, sie hören konnte oder nicht. Und dann war unter ihr nichts mehr und sie rutschte in die Tiefe. Sie fluchte, als es abwärts ging, und versuchte, Halt in einer Nische zu finden, riss aber nur ein Rattennest mit. Die Ratten quietschten neben und unter ihr und sie schlug um sich und versuchte, sie loszuwerden. Ihr Kopf knallte auf Stein. Ihr Körper zuckte.
Sie spürte Helligkeit und Hitze.
Sie kullerte durch das Loch und fiel ungefähr einen Meter tief. Direkt unter ihr war noch ein Loch und instinktiv spreizte sie Arme und Beine, spannte die Muskeln an und versteifte sich, damit sie nicht durch die Öffnung in den Raum darunter fiel.
Walküre blickte hinunter. Auf einem großen Holztisch lag die halb aufgeblasene Haut eines Hohlen.
Ein zweiter Hohler kam in ihr Blickfeld getrottet. Er trug einen Eimer mit Abfällen, auf denen etwas lag, das aussah wie Eingeweide. Er blickte nicht auf und Walküre war mucksmäuschenstill. Der Hohle ging zu dem in die Wand eingebauten Ofen, der einzigen Lichtquelle in dem Raum, und entfernte den Metallrost über den Flammen. Ohne sich um das zu kümmern, was daneben ging, kippte er die Abfälle ins Feuer. Walküres Muskeln begannen zu schmerzen.
Der Hohle holte mit seinen schweren, ungeschickten Händen einen großen Blasebalg und steckte die Spitze durch das Loch oben im Ofen. Er zog die Griffe auseinander, saugte die fauligen Gase ein und schlurfte dann hinüber zum Tisch. Er stieß die Spitze des Blasebalgs in die Haut, pumpte die Gase hinein und griff dann nach einer langen Nadel. Damit nähte er ein weiteres Stück Haut zusammen, um zu verhindern, dass das Gas wieder ausströmte.
Walküres Arme zitterten. In ihren Beinen hatte sie mehr Kraft, aber ihre Arme würden sie bald im Stich lassen. Sie blickte hinunter auf den Hohlen und sah, dass er den Blasebalg zum Ofen brachte. Sie spürte, wie etwas Schweres sich durch ihre Haare wühlte und ihre Arme knickten ein. Sie fiel durch das Loch und landete auf dem Tisch.
Als sie hörte, wie der Blasebalg auf den Boden fiel, blieb sie flach auf dem Rücken liegen und hielt die Luft an. Der halb aufgeblasene Hohle lag neben ihr und verdeckte die Sicht auf sie.
Walküre biss die Zähne zusammen, als die Ratte in ihrem Haar sich wieder bewegte. Jede Faser in ihr wollte sie herausreißen, aber sie blieb reglos liegen, sogar als die Ratte auf ihre Brust kroch. Da saß sie einen Augenblick und kletterte dann auf den Hohlen. Walküre hörte, wie sie von dort auf den Boden sprang und davonhuschte. Eine Sekunde später wurde der Blasebalg aufgehoben. Sie atmete aus und hob den Kopf, gerade weit genug, um sich zu vergewissern, dass man nicht versuchte, sie hereinzulegen.
Und dann drehte der Hohle ihr seinen halb aufgeblasenen Kopf zu.