DER NEUE MESSIAS
Sich an jemanden anzuschleichen, der die Zukunft voraussehen kann, ist kein so unmögliches Unterfangen, wie viele Leute vielleicht glauben. Zum einen ist die Zukunft dem Wandel unterworfen. Einzelheiten verschieben sich, Umstände verändern sich, und während das Universum bemüht ist, sich immer wieder den Anschein zu geben, als sei es im Gleichgewicht, bekommt das Schicksal seine Chance, sich zu zeigen. Der Trick besteht darin, in einer Welt, die im Grunde nur in Ruhe gelassen werden will, ein ständiger Störfaktor zu sein.
Solomon Kranz war zuversichtlich, dass er genau so ein Störfaktor sein konnte. Da er viele seiner Entscheidungen dem Zufall überließ, hatte er sich bereits dreimal dem Tattoo-Studio genähert und war, nachdem er eine Münze geworfen hatte, daran vorbeigegangen. Der vierte Münzwurf dann schickte ihn zur Tür und die schmale Treppe hinauf, eine schwarze Tasche in einer Hand, den Gehstock in der anderen. Von oben drang kein Geräusch zu ihm herunter. Kein Sirren der Tattoo-Nadel. Kein Geplauder, Lachen oder Jaulen. Er konnte die Falle, die ihn erwartete, praktisch spüren, doch langsamer ging er deshalb nicht.
Oben an der Treppe angekommen drehte er sich um 90 Grad und ging durch die Tür, und das war der Augenblick, in dem ihn der hagere Mann mit dem Pogues-T-Shirt mit einem Kissen angriff. Da Kissen nicht unbedingt zu den allertödlichsten Waffen dieser Welt gehören, prallte es mit einem weichen Plopp von seiner Schulter ab und der hagere Mann versuchte an ihm vorbeizurennen. Kranz ließ seinen Gehstock fallen, packte den Mann und warf ihn gegen einen Stuhl, der aussah, als gehörte er in eine Zahnarztpraxis. Der hagere Mann fiel ungeschickt darüber.
„Finbar Wrong“, begann Kranz und legte die schwarze Tasche auf einen Tisch in der Nähe. „Darf ich dich Finbar nennen? Ich nehme an, du weißt, wer ich bin.“
Finbar sprang auf die Füße, hielt die Arme vor sich ausgestreckt und die Finger gespreizt. „Das weiß ich“, entgegnete er, „und ich glaub, ich muss dich warnen, Mann. Du kannst mich nicht besiegen. Ich habe diesen Kampf vorhergesehen und kenne jede Bewegung, die du machen wirst.“
Schatten ringelten sich um Kranz’ Gehstock, richteten ihn vom Boden auf und legten ihn in seine wartende Hand.
Finbar nickte. „Ich wusste, dass du das machen würdest.“
Kranz begann, um den Stuhl herumzugehen. Finbar schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Kranz drehte sich um und marschierte zurück und Finbar tat es ihm gleich.
Kranz seufzte. „Das ist doch lächer–“
„Lächerlich!“, unterbrach Finbar ihn rasch. „Siehst du? Ich hab diese Begegnung schon mal durchlebt. Du machst dich jetzt besser vom Acker, Mann, und sparst dir damit einen Haufen Schmerzen.“
„Wenn du diese Auseinandersetzung tatsächlich vorausgesehen hast, wenn du genau gewusst hast, wann ich komme, warum hast du dann mit einem Kissen nach mir geworfen?“
Finbar zögerte. „Ich … ich spiele mit dir, so ist das nämlich. Wenn ich dich mit einem Kissen angreife anstatt mit meinen hammerharten Fäusten, dauert es sozusagen länger, es verlängert deine Schmerzen. So ähnlich wie Wasserfolter, nur mit Kissen. Kissenfolter.“
„Es klingt zumindest nicht sehr schmerzhaft.“
„Na ja, ich habe mich noch nicht endgültig auf einen bestimmten Ausdruck festgelegt …“
„Gehe ich recht in der Annahme, dass du gelernter Boxer bist?“
„So ist es.“
„Dafür bist du aber ein bisschen mager, findest du nicht? Du bist praktisch unterernährt.“
„Das Aussehen kann täuschen, Mann. Schließlich ist der stärkste Muskel im menschlichen Körper das Gehirn.“
„Na, dann kann mir ja nichts passieren, solange du nicht mit deinem Gehirn auf mich losgehst.“
Finbar machte unvermittelt einen Satz in Richtung Tür. Kranz war sofort hinter ihm und versetzte ihm mit dem Stock einen Schlag in die Kniekehlen. Finbar fiel gegen die Wand.
„Autsch“, stöhnte er.
Kranz packte ihn, zerrte ihn zurück und warf ihn auf den Zahnarztstuhl. „Wann hattest du die erste Vision, dass ich dich aufsuchen würde?“
„Gestern Nacht“, ächzte Finbar.
„Und was hast du gemacht?“
„Ich hab Sharon und den Kleinen weggeschickt. Ich wollte mitgehen, aber dann hab ich ’ne andere Vision gehabt und in der bist du nicht gekommen.“
„Aber vor ein paar Minuten …“
Er nickte. „Ich hab noch eine gehabt. Die hat mir gesagt, dass du gleich die Treppe raufkommen würdest. Die einzige Waffe, die ich hatte, war das Kissen.“
„Das rein technisch gesehen nicht als Waffe gilt.“
Finbar blickte ihn finster an. „Ein wahrer Meister kann aus allem eine Waffe machen.“
„Aber du bist kein wahrer Meister, Finbar.“ Kranz stupste ihn mit dem Stock an und zwang ihn, sich zurückzulehnen. „Hat deine Vision dir gesagt, weshalb ich dich besuchen würde?“
„So weit bin ich gar nicht gekommen.“
„Du musst mir einen Gefallen tun. Ich will, dass du in Walküre Unruhs Zukunft blickst.“
„Warum fragst du sie nicht einfach?“
„Ich brauche etwas mehr als das, was du schon gesehen hast. Du musst genauer hinschauen.“
„Kann ich nicht.“ Finbar schüttelte den Kopf. „Ich mach das nicht. Wallie ist eine Freundin von mir. Du kannst mich foltern, solange du willst.“
„Kann ich das?“
Finbar wurde blass. „Bildlich gesprochen.“
Kranz lächelte und Schatten krochen an dem Stuhl hinauf und schlangen sich um Finbars Arme und Beine, bevor er sich dagegen wehren konnte. Kranz ging zu der schwarzen Tasche auf dem Tisch. „Es ist okay. Ich weiß, dass es dich wahrscheinlich große Überwindung gekostet hätte, eine Freundin zu verraten. Deshalb nehme ich dir die Entscheidung ab.“
Kranz holte eine Glaskugel, eingebettet in eine Fassung aus Stein, aus seiner Tasche.
Finbar merkte schnell, dass er seine Fesseln nicht lösen konnte, und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Du willst mich mit einer Schneekugel bestechen?“, fragte er. „Das ist ja fast eine … eine Beleidigung, findest du nicht auch?“
„Die ist nicht für dich.“
Erst jetzt sah Finbar die dunklen Schlieren in der Kugel. Die Kinnlade fiel ihm herunter. „Das ist ja ein Seelenfänger“, krächzte er.
„So ist es. Und darin gefangen ist der Restant, der vor ein paar Monaten allen ziemlich viel Ärger bereitet hat. Dieser kleine Kerl hier ist in Kenspeckel Gruse gefahren, der daraufhin die Desolationsmaschine repariert hat, der das Sanktuarium zum Opfer gefallen ist. Dieser Restant ist nicht besonders nett.“
Finbar fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. „Du kannst ihn nicht freilassen. Das geht einfach nicht, Mann. Im Ernst. Pass auf, das Ding ist … es ist teuflisch, okay? Sobald es in mir drin ist, wird es dich anlügen, es wird dir nur das sagen, was es glaubt, dass du hören willst.“
„Es wird mir alles sagen, was ich wissen will, Finbar, was nicht ganz dasselbe ist.“
„Ach bitte, tu es nicht.“ Finbar weinte fast.
„Ich fange ihn danach sofort wieder ein“, versicherte ihm Kranz. „Du wirst ohnmächtig werden und dich an nichts erinnern.“
„Ich will ihn nicht in mir drin haben. Er verändert mich.“
„Nur ein paar Minuten.“
Kranz drehte die Kugel in dem Stein und trat zurück.
Die dunklen Schlieren flossen aus dem Seelenfänger heraus, als der Restant auf direktem Weg zu Finbar flitzte. Der drehte den Kopf weg, schloss die Augen und presste die Lippen fest zusammen, doch für den Restanten stellte das kein Hindernis dar. Etwas, das Hände hätten sein können, drückten Finbars Kiefer auseinander. Kranz beobachtete alles und widerstand dem Verlangen, die abscheuliche Kreatur in ihr Gefängnis zurückzustecken.
Finbar versuchte zu schreien, als der Restant, der nicht viel mehr war als ein Streifen sich windender Dunkelheit, sich einen Weg hinunter in seinen Hals bahnte. Der Schrei brach abrupt ab und seine Kehle wölbte sich nach außen. Finbar wehrte sich nach Kräften, doch die Fesseln, die Kranz ihm angelegt hatte, hielten. Dann wurde Finbars Körper plötzlich schlaff. Einen Augenblick lang erschienen dunkle Adern unter seiner Haut und seine Lippen färbten sich schwarz. Dann öffnete er die Augen.
„Wie kommt es“, begann Finbar, „dass ich mich jedes Mal, wenn ich freigelassen werde, in einem Körper wiederfinde, der von Perfektion weit entfernt ist? Letztes Mal war es ein alter Mann. Jetzt ist es … das hier.“
„Ich habe dich nicht freigelassen, um Small Talk mit dir zu machen“, meinte Kranz. „Ich will nur wissen, was ich wissen will.“
„Und warum sollte ich dir helfen, Informationen über meine alte Freundin Walküre auszugraben?“
„Sie ist nicht deine Freundin“, korrigierte Kranz, „sie ist Finbar Wrongs Freundin.“
„Und da haben wir’s wieder, Mann. Du machst denselben Fehler, den alle machen. Ich bin Finbar Wrong.“
„Nein, du bist ein Restant.“
„Ich sag dir jetzt mal was: Ein Restant ist eigentlich nicht viel mehr als ein Möchtegernwesen. Er fliegt herum und ist wütend und macht sich über nichts allzu viele Gedanken, klar? Er hat keine Persönlichkeit und auch kein echtes, nennenswertes Bewusstsein. Aber wenn er in einen Körper fährt, ändert sich das alles. Er ist wieder ganz. Ich bin Finbar Wrong, aber ich bin auch der Restant in ihm. Und wie du sehen kannst, verstehen wir uns prima, wir zwei.“ Er lächelte und die schwarzen Adern verschwanden und seine Lippen nahmen wieder ihre natürliche Farbe an.
„Es fällt dir nicht schwer, als normal durchzugehen, oder?“, fragte Kranz. „Die verräterischen Merkmale zu verbergen, die Besessene kennzeichnen?“
„Wir können sie verbergen, wenn es sein muss, ja.“
„Und es ist gut, nicht mehr im Seelenfänger zu sitzen, ja?“
„Oh ja!“ Finbar lachte. „Das Ding ist noch schlimmer als dieses Zimmer im Hotel Mitternacht, in das sie uns eingesperrt haben.“
„Du hast jetzt die Freiheit geschmeckt – willst du mehr davon? Ich kann dir mehr geben. Ich kann dich ganz freilassen.“
„Vor ein paar Minuten hast du noch gesagt, du würdest uns gleich danach wieder trennen.“
„Ich bin Totenbeschwörer. Ich habe gelogen, um es einfacher für … dich zu machen. Für dein altes Du. Wirf einen Blick in die Zukunft für mich und sag mir, was du siehst.“
„Und wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas Neues sehen könnte?“
„Weil wir beide wissen, dass Sensitive nur ungern bis an ihre Grenzen gehen. In die Zukunft zu blicken ist eine gefährliche Sache. Man kann dabei den Verstand verlieren.“
„Das kann man.“
„Aber dein Verstand hat jetzt praktisch Verstärkung bekommen, ja? Er ist wacher. Somit kannst du weiter und genauer sehen, bis du das erblickst, was du sehen sollst.“
Finbar nickte. „Das ist alles richtig, aber wieso sollte ich dir vertrauen? Als man mich das letzte Mal um einen Gefallen gebeten hat, haben sie mich in den Körper eines alten Mannes gesteckt. Ich kann jetzt nicht leugnen, dass es Spaß gemacht hat, einen Tag lang Kenspeckel Gruse zu sein, vor allem, als ich Nägel in Tanith Lows Hände schlagen durfte. Aber sie haben mich reingelegt. Sie haben mich nicht gehen lassen, obwohl sie es versprochen hatten.“
„Skarab war noch nie vertrauenswürdig.“
„Aber du bist es? Du bist Totenbeschwörer.“
„Wie wäre es dann damit? Du wirfst für mich einen Blick in die Zukunft oder ich bringe dich um. Restanten können in etwas Totem nicht überleben, hab ich recht? In dem Augenblick, in dem Finbar stirbt, stirbt folglich auch der Restant in ihm. Willst du sterben? Will einer von euch beiden sterben?“
Finbar lächelte. „Du redest gerade so, als gäb’s hier drin zwei von uns, Mann. Ist aber nicht der Fall. Da war Finbar und da war der Restant, und als du sie zusammengebracht hast, hast du mich bekommen. Und ich bin zufällig der Meinung, dass die Welt mich sehr vermissen würde, wenn du mich umbringst.“
Kranz erwiderte das Lächeln. „Ich hab mir gedacht, dass du das genauso sehen würdest wie ich.“
„Ich brauche aber ein paar Kleinigkeiten, bevor ich anfange. Kräuter, einmal Rückenkraulen …“
„Du hast genau drei Sekunden, dann fängst du an.“
„Dann eben nur ganz kurz den Rücken kraulen.“
Kranz hob den Stock und Finbar lachte. „Okay, okay! Ich denke, ich kann ausnahmsweise auch mal ohne diese Annehmlichkeiten auskommen. Du musst aber ein Stück zurückgehen – ich kann mich nicht richtig entspannen, wenn du mir so im Nacken sitzt.“
Kranz nickte. „Mach voran, Restant, oder du gehst zurück in die Flasche.“
„Reg dich ab“, flüsterte Finbar und schloss die Augen. „Wallie, altes Haus“, murmelte er, „zeigst du mir, warum sich alle so für dich interessieren, ja? Zeigst du mir, was die Zukunft für dich bereithält …?
Kranz unterdrückte einen Seufzer, während Finbar weiterbrabbelte, wobei seine Stimme immer leiser wurde. Für Sensitive hatte Kranz nie viel Geduld aufgebracht. Sie hatten sich bewusst für einen Zweig der Magie entschieden, bei dem man mit seinen Sinnen arbeitete anstatt mit den Fäusten. In seinen Augen waren sie ein Haufen bekiffter, friedliebender Hippies, und Hippies hatte er noch nie gemocht. Die 1960er- und 1970er-Jahre hatten gewaltig an seinen Nerven gezerrt.
„Da ist sie“, flüsterte Finbar mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht. „Ich hab sie gefunden.“
„Wie weit in der Zukunft bist du?“, fragte Kranz rasch.
„Schwer zu sagen, Mann … Sie sieht ein bisschen älter aus als heute … Sie hat ein Tattoo …“
„Ist sie Totenbeschwörerin?“
Finbars Stirn legte sich über den geschlossenen Augen in Falten. „Weiß nicht …“
„Was tut sie?“
„Sie geht …“
„Wohin?“
„In die Ruine.“
Kranz schüttelte den Kopf. „Du bist jetzt bei Darquise, richtig? Das interessiert mich nicht. Du musst herausbekommen, ob Walküre der Todbringer ist.“
„Ich sehe nur das, was ich sehe“, entgegnete Finbar in einer Art Singsang. „Mein Blick ist auf die großen Momente gerichtet …“
„Dann schau weg“, fauchte Kranz, doch seine Ungeduld blieb unbemerkt.
„Ich hab noch nie so viele Einzelheiten gesehen“, murmelte Finbar tief in Trance. „Hab mich immer davor gedrückt … Aber jetzt ist alles ganz klar … so viele Tote … herrlich …“
Kranz hielt den Mund.
„Ich sehe jetzt Darquise vor mir … Sie ist wunderschön … Sie schreitet durch die Stadt, ringsherum Tote … Das würde dir gefallen, Mann. So viele Tote …“
„Ich hab dich nicht um eine Vision von Darquise gebeten, sondern um eine von Walküre.“ Kranz’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Es sei denn …“
Finbar lächelte in seiner Trance. „Es sei denn?“
„Ist Walküre noch da? Siehst du sie?“
„Ich spüre ihre Gegenwart, aber sehen kann ich nur Darquise.“
„Vielleicht ist das des Rätsels Lösung!“ Kranz wurde plötzlich ganz aufgeregt. „Vielleicht macht sie es auf diese Art. Wenn Walküre tatsächlich der Todbringer ist, ist sie vielleicht auch diejenige, die aufsteht und kämpft. Vielleicht ist sie diejenige, die Darquise besiegt, und dieser Sieg ist es dann, der zu der Passage führt. So rettet sie die Welt.“
„Davon seh ich nichts“, erklärte Finbar, „ich seh nur Darquise.“ Er verzog das Gesicht. „Das tut übrigens weh …“
„Schau weiter hin.“
„Ich bekomme Kopfschmerzen davon.“
„Schau weiter hin oder du hast bald keinen Kopf mehr.“
„Dann schau ich weiter hin.“
Aus Finbars Nase tropfte Blut. Kranz ignorierte es.
„Ich hab sie wiedergefunden“, erklärte Finbar fröhlich.
„Walküre?“
„Darquise. Ich … Sie zieht mich an … Ich kann nichts dagegen machen. Sie ist … alles. Sie ist so kalt. Ich versuche näher heranzukommen, aber sie ist … Etwas wie sie hab ich noch nie gesehen …“
„Kannst du eine Schwäche erkennen? Wie kann Walküre sie vernichten?“
„Darquise wird nicht vernichtet!“, zischte Finbar unvermittelt. „Sie ist alles!“
„Sag mir, welche Schwäche sie hat.“
„Sie hat keine. Sie ist die Perfektion in Person!“
„Dann sag mir, wer sie ist. Woher sie kommt.“
Finbar strengte sich noch mehr an und auch aus seinen Ohren sickerte jetzt Blut. „Es ist dunkel um sie herum … Ich versuche ihr Gesicht zu erkennen … Sie steht mit dem Rücken zu mir … Nein, warte, sie dreht sich um, ich sehe sie …“
Finbar verstummte.
„Und?“, drängte Kranz. „Siehst du ihr Gesicht? Wie sieht sie aus? Wer ist sie?“
Finbar öffnete die Augen. Er blinzelte Kranz an. „Das verändert alles.“
Kranz beugte sich über ihn. „Wer ist sie, zum Teufel?“
„Ihr Totenbeschwörer habt euren Messias“, sagte Finbar, „jetzt haben wir Restanten auch einen.“
Die schwarzen Adern erschienen wieder, er richtete sich mit einem Ruck auf und sein Kopf krachte in Kranz’ Nase. Der stolperte fluchend rückwärts und musste feststellen, dass seine Schattenfesseln zu schwach waren für Finbars restantenverstärkte Kräfte. Hände packten ihn und er flog durchs Zimmer. Er krachte in ein Regal an der gegenüberliegenden Wand und diverse Gerätschaften kullerten über den Boden.
„Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Mann“, begann Finbar lächelnd, „aber ich mach mich jetzt ein bisschen in dir breit. Ich hab eine brandneue Mission und brauche ein Upgrade.“
Kranz schmeckte sein eigenes Blut. Sein Stock lag hinter ihm auf dem Boden. Es gab zwei Wege aus dem Zimmer hinaus – durch die Tür oder das Fenster. Das Fenster war näher.
Finbar öffnete weit den Mund. Kranz sah den Restanten schon herausklettern, da wirbelte er herum, schnappte seinen Stock und schlug mit den Schatten das Fenster ein. Ohne zu zögern, warf er sich durch die kaputte Scheibe und landete unsanft auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Die Leute sprangen in alle Richtungen davon. Er sah nicht in ihre erschrockenen Gesichter. Er sah auch nicht zurück zu Finbar, der am Fenster stand. Er rannte nur.