DER NEUE GROSSMAGIER
Walküre folgte Skulduggery, der zügig die Gasse hinunterschritt. Es war so kalt, dass es fast schon wehtat, und ausnahmsweise war sie froh darüber. Es bedeutete nämlich, dass ihr noch etwas anderes durch den Kopf ging als der Gedanke, Caelan geküsst zu haben. Sie bedauerte es jetzt. Sie hatte es sofort danach bedauert, konnte aber trotzdem nicht aufhören, die Szene vor ihrem geistigen Auge immer wieder durchzuspielen.
Skulduggery blieb vor ein paar Stufen stehen, die nach unten führten. Ein Eisentor schwang auf und sie konnten durchgehen. Der Flur, in den sie gelangten, war warm und fantastische Bilder schmückten die Wände zu beiden Seiten. An manchen Stellen hatte die Farbe Risse bekommen und war auch schon abgeblättert, doch ihre enorme Leuchtkraft hatten die Jahre nicht geschmälert. Walküre bückte sich, um eine winzige Gestalt genauer zu betrachten. Sogar die Lichtpünktchen in ihren Augen waren nicht vergessen worden.
„Was ist das alles?“, fragte sie.
„Geschichte“, antwortete Skulduggery. „Für diejenigen, die wissen, wie sie es betrachten müssen, ist alles da.“ Er wies mit dem Kinn auf ein Bild von zwei Männern und einer Frau, die Licht in den Händen hielten. „Das sind die Urväter, als sie zum ersten Mal auf Magie stoßen. Die Wolken über ihnen stellen die Gesichtslosen dar und das Gras zu ihren Füßen die Menschen.“
„Gewöhnliche Menschen werden als Rasen dargestellt?“ Walküre hob die Augenbrauen. „Wie nett und kein bisschen beleidigend.“
„Die Menschen werden als einzelne Grashalme dargestellt“, erklärte Skulduggery mit einem Lächeln. „Aus der Erde geboren und ein so natürlicher Teil des Lebens wie die Magie. Du kannst erkennen, dass die Urväter das Gras vor den unnatürlichen Unwetterwolken schützen.“
„Ich sehe nur, dass die Urväter auf dem Gras stehen, dass es auf sie herunterregnet und dass keiner daran gedacht hat, einen Schirm mitzunehmen. Die Schlauesten waren sie wohl nicht, wie?“
„Sei nicht so streng – du stammst von einem von ihnen ab, vergiss das nicht.“
„Jeder Vorfahre von mir hätte einen Schirm mitgenommen“, murmelte Walküre und ging hinüber zur anderen Wand. Die dort dargestellte Szene irritierte sie; es war, als hätte ein Haken einen Weg in ihren Magen gefunden und zöge jetzt sacht an ihren Eingeweiden. Eine zerstörte Stadt, die Toten überall verstreut wie verwelkte Blätter, die an einem windstillen Nachmittag von den Bäumen fallen. Mittendrin stand ein brennender Mann, eingehüllt von schwarzen Flammen. „Und das hier?“, fragte sie. „Soll das Mevolent sein?“
Skulduggery war zu ihr herübergekommen. „Diese Kammern wurden gebaut, lange bevor der Krieg gegen Mevolent ausbrach. Nein, das ist nicht Mevolent. Es ist sein Meister. Es ist der Unbenannte.“
Walküre sah ihn an. „Hieß er ‚der Unbenannte‘ oder hatte er ganz einfach keinen Namen?“
„Er hatte keinen.“
Sie runzelte die Stirn. „Wie geht das denn? Unsere ganze Magie kommt doch von unserem wahren Namen, oder? Ich habe alles darüber gelesen. Woher bezog er seine Magie, wenn er keinen wahren Namen hatte?“
„Jedes Naturgesetz kennt Abweichungen. Ich bin übrigens sehr beeindruckt, dass du gelegentlich Recherchen anstellst.“
„Nachdem Marr Myron Stray befohlen hat, sich umzubringen und das Sanktuarium zu zerstören, dachte ich, es sei vielleicht keine schlechte Idee, mich ein bisschen mit dieser ganzen Namensgeschichte zu befassen.“
„Hast du Angst, dass jemand deinen wahren Namen herausbekommen könnte?“
Angst war ein ausgesprochen milder Ausdruck für etwas so durch und durch Entsetzliches. Walküre nickte stumm. Sie traute ihrer Stimme nicht.
Skulduggery ging weiter. „Und was hast du herausgefunden?“
Sie passte sich seinem Schritt an und zwang sich, sachlich zu bleiben. „Unsere wahren Namen sind magische Namen; sie stammen aus der ältesten aller magischen Sprachen. Praktisch alle von uns laufen herum, ohne zu wissen, wie ihr wahrer Name lautet, aber die Magie, die er bereithält, können wir trotzdem nutzen.“
„Und weiter?“
„Wenn du herausbekommst, wie dein wahrer Name lautet, ist das ungefähr so, als würdest du direkt zur Quelle gehen. Du hättest dann sogar mehr Macht als die Urväter. Du könntest es mit den Gesichtslosen aufnehmen, ohne dass du eine Waffe bräuchtest.“
„Wenn das so ist“, gab Skulduggery zu bedenken, „warum wurde Myron Stray dann eine Marionette und kein Gott?“
„Jemand, in diesem Fall Mr Bliss, hat seinen wahren Namen vor ihm herausbekommen, sodass er keine Zeit hatte, ihn zu versiegeln.“
Sie betraten den Großen Saal und ließen das Thema fallen. Dreißig oder vierzig Leute standen herum und unterhielten sich leise. Der Boden hier war aus Marmor und die Wände waren wunderschön gestaltet; die kunstvollen Zeichnungen setzten sich bis in die Kuppel hinein fort.
Erskin Ravel kam lächelnd zu ihnen herüber. Walküre war ihm schon etliche Male begegnet – er hatte während des Krieges mit Skulduggery und Grässlich zusammen in einer Spezialeinheit gekämpft. Sie mochte Ravel. Er war charmant und höflich und auf eine männliche Art schön.
„Erskin“, begrüßte Skulduggery ihn und schüttelte ihm die Hand.
„Skulduggery, schön, dich zu sehen“, erwiderte Ravel und schüttelte danach Walküre die Hand. „Du siehst gut aus, Walküre.“
Walküre spürte, wie sie rot wurde, und wandte das Gesicht ab, damit keiner es merkte. Dabei fiel ihr Blick auf einen alten Mann mit grauem Bart und sie runzelte die Stirn. „Warum ist er hier?“
Ravel steckte die Hände in die Taschen. „Ob einem das nun passt oder nicht, wir brauchen Vertreter aller größeren Gruppen, um einen neuen Großmagier wählen zu können, und die Stimme der Zauberer von Roarhaven gilt genauso viel wie die aller anderen.“
„Aber warum muss ausgerechnet er hier sein?“
„Du magst die Qual nicht?“
„Er mag mich nicht.“
Ihre Blicke trafen sich und die Qual sah Walküre finster an. Neben ihm stand eine Frau in einem schwarzen Kleid, das bis auf den Boden reichte. Ihr Gesicht war hinter einem Schleier verborgen und sie trug Handschuhe.
„Er ist mit seiner Schwester gekommen“, erklärte Ravel und fuhr, da er Walküres nächste Frage schon vorausahnte, fort: „Sie ist natürlich nicht seine richtige Schwester, sondern gehört wie er zu den Kindern der Spinne.“
Walküre hatte einmal total entsetzt mit angesehen, wie die Qual schwarze Spinnen mit Krallenfüßen in der Größe von Ratten gespuckt hatte. Er hatte außerdem die beunruhigende Angewohnheit, sich selbst in eine Spinne zu verwandeln – ein monströses Teil, das sie gelegentlich in ihren Albträumen heimsuchte.
„Das ist doch Madam Misty“, stellte Skulduggery fest, die leeren Augenhöhlen auf die verschleierte Frau gerichtet. „Wohnt sie jetzt auch in Roarhaven? Seit wann? Ich wusste nicht einmal, dass sie im Land ist.“
Ravel zuckte mit den Schultern. „Wir haben nur kurz miteinander geplaudert; zu den Einzelheiten sind wir gar nicht gekommen. Ich halte mich von Kindern der Spinne möglichst fern. Sie bereiten mir eine Gänsehaut. Und wo wir gerade bei Gänsehaut sind …“
Der Hohepriester Tenebrae betrat, wie immer in Begleitung von Craven und Quiver, den Raum. Als die drei Männer in ihren schwarzen Roben vorbeieilten, nickte Tenebrae Walküre zu.
Ravel bemerkte es. „Nanu, du scheinst hier mehr Leute zu kennen als ich.“
Walküre lächelte. „Bei den Langweilern brauche ich immer noch ein bisschen Hilfestellung.“
Ravel lachte. „Sie würden sich bestimmt köstlich amüsieren, wenn sie hören würden, dass jemand sie so nennt. In diesem Raum sind die üblichen Verdächtigen versammelt. Zauberer, die entweder besonders mächtig oder alt oder angesehen sind. Die Dame da drüben ist zum Beispiel Shakra und neben ihr steht Flaring. Du bist ihnen wahrscheinlich schon im Sanktuarium begegnet. Sie hatten das Glück, an dem Tag, als die Desolationsmaschine hochging, nicht da zu sein. Links von ihnen stehen diverse Zauberer, die du vielleicht nicht kennst – sie arbeiten meist hinter den Kulissen und versuchen möglichst nicht ins Rampenlicht zu treten. Da drüben haben wir Corrival Deuce“, fuhr Ravel fort und wies auf einen korpulenten älteren Herrn in einem farbenprächtigen Mantel. „Er ist inzwischen mehr oder weniger im Ruhestand, aber wir haben ihn für diese kleine Zusammenkunft noch einmal aus seinem Haus gelockt. Er ist ein guter Mensch.“
„Ein sehr guter Mensch“, bestätigte Skulduggery. „Er war im Krieg unser Befehlshaber. Es gibt nicht viele Menschen, von denen ich einen Befehl entgegennehme. Er gehört zu den wenigen.“
Walküre hatte mitbekommen, wie Skulduggery und Grässlich Corrival Deuce in Gesprächen erwähnt hatten, und jedes Mal hatten sie voll echter Zuneigung und Respekt von ihm gesprochen. Sie fand den alten Herrn auf Anhieb sehr sympathisch, obwohl sie ihn gar nicht kannte.
„Die beiden vor uns sind Geoffrey Scrutinus und Philomena Random“, erklärte Skulduggery. Scrutinus hatte bizarr gelocktes Haar und ein Ziegenbärtchen und trug trotz der Minustemperaturen draußen Sandalen. Random gab ein rundum nüchterneres Erscheinungsbild ab – sie hatte kurzes Haar, trug einen warmen Mantel und keinen Schmuck, ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen, dessen Handgelenke und Finger Perlen, Ringe und Armreifen schmückten.
„Sie sind PR-Mitarbeiter. Ihr Job ist es, die Sterblichen davon zu überzeugen, dass sie das, was sie glauben, gesehen zu haben, nicht gesehen haben. Die fünf Leute, die den Totenbeschwörer so finster anschauen, nennen sich ‚Die vier Elemente‘. Sie fühlen sich im Einklang mit der Welt um sie herum und sind deshalb erstaunlich selbstgerecht.“
„Die vier Elemente?“
„Ja.“
„Aber sie sind zu fünft.“
„Ich weiß.“
„Können sie nicht zählen?“
„Sie haben zu viert angefangen, aber dann hat Amity, der Mann mit dem ungewöhnlichen Kinn, die mollige, mit Schmuck behängte Dame geheiratet und darauf bestanden, dass sie das fünfte Mitglied wird.“
„Hätten sie sich nicht einfach umtaufen können?“
„Und ‚Die fünf Elemente‘ werden, wenn es doch nur vier Elemente gibt? Sie wollten ihre kostbare Synchronizität nicht verlieren.“
„Das wäre immer noch besser, als wenn alle Leute denken, du kannst nicht zählen.“
„Ganz genau“, bestätigte jemand neben Walküre. Sie drehte sich um und war überrascht, Corrival Deuce da stehen zu sehen. Sie hatte nicht gemerkt, dass er herübergekommen war. „Du bist Walküre Unruh“, begrüßte er sie lächelnd. „Ich habe schon viel von dir gehört. Es ist mir eine große Ehre.“
Sie schüttelte ihm die Hand. „Hi.“ Mehr fiel ihr nicht ein.
Corrival begrüßte auch Erskin und Skulduggery. „Schön, euch wiederzusehen.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst“, bekannte Ravel, an den älteren Zauberer gewandt.
Corrivals Lachen klang wie Gebell. „Wie, nachdem du mich geschlagene drei Wochen lang deswegen genervt hast?“
„Und ich dachte, ich sei sehr feinfühlig vorgegangen.“
„Du weißt doch gar nicht, was das Wort bedeutet. Aber wo sind die anderen? Wo sind Grässlich und Vex?“
„Grässlich hasst solche Versammlungen und wo Vex ist, weiß ich nicht“, antwortete Skulduggery.
„Wahrscheinlich wieder auf einem Abenteuertrip“, vermutete Corrival mit einem leisen Seufzer. „Der Junge muss endlich erwachsen werden, es wäre wirklich an der Zeit. Was ist mit Anton Shudder?“
„Shudder bleibt lieber in seinem Hotel“, erklärte Ravel. „Außer den ganzen Restanten, die dort eingesperrt sind, muss er sich jetzt auch noch mit einem Vampir herumschlagen. Ich an seiner Stelle würde auch lieber vor Ort bleiben, wo ich ein Auge auf alles haben kann.“
Walküre musste plötzlich wieder an Caelans Kuss denken und versuchte vergeblich, den Gedanken zu verdrängen.
Corrival blickt sich um. „Können wir dann? Sind alle da? Ich glaube, du kannst anpfeifen, Erskin. Ich habe noch einiges zu erledigen.“
„Ich?“, fragte Ravel. „Warum muss ich den Startschuss geben? Du bist der angesehenste Magier hier. Du eröffnest die Sitzung. Oder Skulduggery.“
Skulduggery schüttelte den Kopf. „Ich kann sie nicht eröffnen. Ich mag die meisten der Anwesenden nicht. Ich könnte anfangen zu schießen.“
Ravel blickte ihn finster an. „Schön.“
Er drehte sich um, räusperte sich und begann mit lauter Stimme: „Alle, die kommen konnten, sind inzwischen eingetroffen“, verkündete er. Die Gespräche verstummten und alles wandte sich ihm zu. „Wir wissen alle, weshalb wir uns hier versammelt haben. Wenn wir uns heute schon auf einen Großmagier einigen können, können wir auch sofort mit der Aufstellung eines neuen Ältestenrates beginnen und uns auf die Suche nach einem neuen Sanktuarium machen.“
„Bevor wir über das neue Sanktuarium reden“, meldete Geoffrey Scrutinus sich, „sollten wir uns erst mal über das alte unterhalten. Ich glaube, uns alle interessiert insbesondere, was bei der Suche nach Davina Marr herausgekommen ist.“
„Soweit wir wissen, ist sie noch immer im Land“, erklärte Skulduggery. „Mehr kann ich dazu leider nicht sagen.“
„Warum nicht?“, wollte Amitiy wissen, ein Elemente-Magier.
„Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.“
„Sie entzieht sich dir nun schon seit fünf Monaten, Detektiv Pleasant. Vielleicht sollten wir jemand anders mit der Suche nach ihr betrauen.“
„Aber unbedingt, Amity“, meinte Skulduggery. „Sucht euch einen anderen dafür.“
„Jetzt ist das Kind schon in den Brunnen gefallen“, ließ sich Shakra mit ihrem Belfaster Akzent vernehmen. „Marr ist nicht wichtig, nicht mehr. Wichtig ist, wie schwach wir nach außen hin erscheinen. Die Sanktuarien rund um den Globus warten doch nur darauf, dass sie zuschlagen können. Habt ihr das gewusst?“
„Das ist leicht übertrieben“, fand Scrutinus.
„Ach ja? Die Amerikaner haben bereits angekündigt, dass sie nicht länger zusehen wollen, wie Irland gegen das Vermächtnis ankämpft, das Leute wie Mevolent uns hinterlassen haben. Das haben sie gesagt, wortwörtlich.“
„Sie wollten uns damit ihrer Unterstützung versichern“, erklärte Amity.
„Nein“, widersprach Shakra, „es war eine Drohung. Sie lassen uns wissen, dass sie sich bereit machen, einzuschreiten und die Geschäfte hier zu übernehmen, falls so etwas noch einmal vorkommt.“
Amity schüttelte den Kopf. „Unsinn. Irland ist die Wiege der Magie. Niemand würde es wagen, das empfindliche Gleichgewicht zu stören, das die Welt vor dem Zerfall bewahrt.“
Shakra machte ein finsteres Gesicht. „Du hast doch keine Ahnung, du Trottel.“
„Dadurch, dass du mich beschimpfst, wirst du auch nicht intelligenter, als ich es bin.“
„Nein, die Tatsache, dass ich intelligenter bin, macht mich intelligenter, als du es bist, du weich gekochtes Spatzenhirn.“
„Ich bin nicht hergekommen, um mich beleidigen zu lassen.“
„Wie, gibt es einen besonderen Ort, den du zu diesem Zweck aufsuchst?“
„Können wir uns bitte auf die anstehende Aufgabe konzentrieren?“, schaltete sich Corrival ein und sofort hielten alle den Mund. „Allein in den letzten fünf Jahren wurden zwei unserer Ältesten ermordet, ein dritter hat uns verraten und der Großmagier, der nach ihm die Geschäfte übernommen hat, wurde als Krimineller entlarvt. Von den drei Generälen Mevolents sind zwei zurückgekehrt und die Gesichtslosen haben es tatsächlich geschafft, zu dieser Wirklichkeit durchzustoßen. Vielleicht wollen du und deine vier Elemente es nicht wahrhaben, Amity, aber Irland befindet sich im Kriegszustand. Wir haben Feinde, die aus ihrer Feindschaft keinen Hehl machen, und andere, die sie noch nicht offen zeigen. Der Krieg gegen Mevolent wurde zum größten Teil auf irischem Boden ausgetragen. Seine Aktionen und die seiner Anhänger haben unser Land instabil gemacht, was Unruhestifter anlockt. Bei uns ist Blut im Wasser.“
„Stimmt“, bestätigte Flaring. „Dunkle Zauberer wie Charivari in Frankreich oder Keratin in den sibirischen Bergen hassen uns und hecken mit jeder Minute, die vergeht, neue Verschwörungen gegen uns aus. Und was ist mit all den Visionen von dieser Darquise, die die Welt in Schutt und Asche legen soll? Wir müssen bereit sein.“
Walküre beobachtete, wie die anderen zustimmend nickten. Würde auch nur einer von ihnen die Wahrheit kennen, sie würden sie auf der Stelle in Stücke reißen.
„Dann müssen wir die Sache jetzt angehen“, verlangte der Hohepriester Tenebrae. „Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist keine einfache. Wir müssen einen neuen Ältestenrat aufstellen, das heißt, einen Großmagier und zwei Älteste wählen, ein neues Sanktuarium bauen und unsere Machtbasis festigen. Auch wenn der Umfang meiner Zuständigkeiten und mein Arbeitsaufkommen sich dadurch enorm steigern, bin ich bereit, mich für das Amt des Großmagiers zur Verfügung zu stellen.“
Einige Anwesende verdrehten die Augen und man hörte bissige Bemerkungen, im Flüsterton vorgebracht, doch Corrival hob die Hand und es trat wieder Ruhe ein. „Danke, Hohepriester. Welche anderen Kandidaten gibt es?“
Scrutinus meldete sich zu Wort. „Einige von uns haben die Sache im kleinen Kreis diskutiert und wir möchten Corrival Deuce vorschlagen.“
Corrival hob eine Augenbraue. „Wie bitte?“
„Du bist bei allen hoch angesehen und sehr beliebt, Corrival, und –“
„Ich weiß, was ich bin“, unterbrach ihn Corrival, „und zwar im Ruhestand. Und selbst wenn ich nicht im Ruhestand wäre – der Posten hat mich nie interessiert. Der ist etwas für Leute wie Meritorius, aber nicht für Leute wie mich.“
„Dein Land braucht dich“, sagte Flaring.
„Mein Land braucht einen besseren Geschmack.“
„Du bist der Einzige, der es machen kann.“
„Das ist doch lächerlich“, widersprach Corrival. „Ich habe weder die nötige Erfahrung noch eine entsprechende Ausbildung und ich gerate ständig in Streit. Es gibt nämlich nicht viele Zauberer, die sich meinen Ansichten anschließen.“
„Und wenn schon“, meldete sich Philomena Random, „du bist einer der wenigen Leute, die die irische Magiergemeinde in dieser schweren Zeit einen könnten.“
„Unsinn. Es gibt jede Menge andere.“
„Wir haben es uns mit diesem Vorschlag nicht leicht gemacht, Corrival. Wir haben lange darüber nachgedacht.“
„Und auf etwas Besseres seid ihr nicht gekommen?“
„Nein, tut mir leid.“
„Aber ich genieße meinen Ruhestand wirklich. Ich kann jeden Tag ausschlafen. Ich mache Kreuzworträtsel und esse Kuchen.“
„Die Pflicht ruft, Corrival.“
„Dann wollen wir jetzt abstimmen“, sagte Flaring. „Gleich hier und jetzt. Lasst uns das übliche Brimborium vergessen und einfach nur mit Ja oder Nein abstimmen. Alle, die für unseren Hohepriester Tenebrae als neuen Großmagier sind, rufen Ja.“
Craven und Quiver riefen beide Ja. Tenebrae biss in der nachfolgenden überwältigenden Stille die Zähne zusammen.
„Okay“, fuhr Scrutinus fort, „dann rufen jetzt alle, die für Corrival Deuce als neuen Großmagier sind, Ja.“
Jastimmen erfüllten den Raum. Nur die Totenbeschwörer und die Magier von Roarhaven blieben stumm.
Scrutinus grinste. „Ich glaube, das wäre dann entschieden.“
„Gut“, meinte Corrival, „ich nehme die Wahl an, unter einer Bedingung: Sobald ihr jemand Kompetenteren findet, entlasst ihr mich endgültig in den Ruhestand.“
„Abgemacht“, meinte Amity. „Dann müssen wir jetzt über Kandidaten für die beiden anderen Sitze im Ältestenrat sprechen und darüber, wo das neue Sanktuarium gebaut werden soll.“
„Da muss nichts neu gebaut werden“, erklang die schrecklich krächzende Stimme der Qual. „Wir haben ein Sanktuarium, das nur darauf wartet, in Betrieb genommen zu werden.“
„In Roarhaven?“, fragte Tenebrae verächtlich.
„Jawohl“, erwiderte die Qual trotzig. „Ein schönes Gebäude, das speziell für diesen Zweck errichtet wurde.“
„Erbaut für einen Umsturzversuch, der fehlgeschlagen ist“, ergänzte Ravel.
„Das mag zutreffen“, gab die Qual zu, „aber die Tatsache bleibt dennoch bestehen. Es gibt einen neuen Sanktuariumsbau mit ausreichend Räumlichkeiten, der sämtliche Voraussetzungen erfüllt. Hat einer von euch echte Einwände gegen diesen Bau vorzubringen, außer der Tatsache, dass er außerhalb eurer geliebten Hauptstadt steht?“
Schweigen.
„Der Vorschlag ist gut“, fand Corrival. Walküre blickte ihn überrascht an. Sie war nicht die Einzige. „Das Gebäude steht schon“, fuhr er fort, „und es ist verfügbar. Und wenn wieder einer eine Bombe hochgehen lässt, sind wir nicht in Erklärungsnot gegenüber den zivilen Behörden. Was die anderen beiden Sitze im Ältestenrat betrifft, so habe ich bereits meine zwei Wunschkandidaten. Ich schlage Erskin Ravel und Skulduggery Pleasant vor.“
Ein bellendes Lachen ertönte. Walküre drehte sich zu Skulduggery um und wieder einmal wünschte sie, er hätte ein Gesicht, an dem sie seine Reaktion ablesen könnte.
„Ah“, machte Ravel.
„Oh“, machte Skulduggery.
„Sorry, Kumpels“, meinte Corrival, „aber ich tue mir diesen lächerlichen Job nur an, wenn ihr mit im Boot sitzt. Ihr seid beide umstrittene Persönlichkeiten, aber ich habe mit eurer Einheit auf dem Schlachtfeld gekämpft und ich kenne niemanden, der mutiger wäre oder sich größere Verdienste erworben hätte als ihr. Du gibst viel zu gerne Geld aus, Erskin, aber du warst mein engster Vertrauter in den letzten hundert Jahren, und ich glaube, niemand würde bestreiten, dass du einen ausgezeichneten Ältesten abgibst. Du bist weise, wenn Weisheit gefragt ist, und impulsiv, wenn es schnell gehen muss. Was dich betrifft, Skulduggery, alter Freund, so kann ich wohl sagen, dass eine Menge Leute Einwände gegen deine Nominierung vorbringen werden.“
„Mich eingeschlossen“, entgegnete Skulduggery.
„Du hast mehr Feinde als Freunde, was nicht heißen will, dass es so schrecklich viele sind, aber du drückst dich auch nicht um schwierige Entscheidungen. Das hast du nie getan. Mehr sage ich zu der Sache nicht. Alles andere liegt bei den Wählern. Als rechtmäßig gewählter Großmagier unterbreche ich die Sitzung jetzt, da ich ein Kreuzworträtsel lösen und ein Stück Kuchen essen muss.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Corrival sich um und marschierte hinaus.
„Das habe ich nicht erwartet“, bemerkte Ravel leise.
„Ich werde dich wählen“, versicherte ihm Skulduggery, „wenn du mir versprichst, dass du mich nicht wählst.“
Ravel grinste. „Ich soll dich um den ganzen Spaß bringen? Nie im Leben, mein Toter.“
Als sie zum Bentley gingen, sah Walküre ein hübsches blondes Mädchen neben einem großen schwarzen Wagen stehen. „Bin gleich wieder da“, rief sie Skulduggery zu und joggte zu dem Mädchen hinüber, wobei sie versuchte, nicht allzu breit zu grinsen.
„Hallo, Melancholia“, grüßte sie strahlend.
Melancholia machte ein finsteres Gesicht. Sie war vier Jahre älter als Walküre, sie war groß und sie trug die schwarze Robe der Totenbeschwörer. Melancholia hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Walküre aus ganzem Herzen verachtete. Walküre fand das ausgesprochen amüsant und hatte ihre wahre Freude an den vielen Gelegenheiten, die sich immer wieder ergaben, das ältere Mädchen zu ärgern.
„Was machst du so?“, fragte Walküre und lächelte freundlich.
„Ich stehe hier“, antwortete Melancholia, ohne sie anzusehen.
„Das machst du aber wirklich sehr gut. Weißt du, wo Solomon ist? Er wollte heute eigentlich kommen, aber ich habe ihn nicht gesehen.“
„Kleriker Kranz ist auf einer Mission.“
„Cool. Welche Art von Mission?“
„Weiß ich nicht.“
„Etwas Aufregendes?“
„Weiß ich nicht.“
„Okay. Dann wartest du hier nur auf die anderen, ja? Wartest du auf den alten Tenebrae?“
Melancholia zuckte zusammen. „Du solltest dem Hohepriester mehr Respekt erweisen. Du solltest seinen vollen Titel nennen, wenn du von ihm sprichst.“
Walküre zuckte mit den Schultern. „Es dauert einfach so lang, bis man Hohepriester Tenebrae gesagt hat. Normalerweise nenne ich ihn einfach Tenny. Ihm gefällt das.“
„Wenn du wirklich eine von uns wärst, würdest du für ein solches Benehmen schwer bestraft werden.“
Walküre runzelte die Stirn. „Redest du immer so oder ist das jetzt nur aufgesetzt?“
Endlich sah Melancholia sie an. „Du machst dich über mich lustig?“, fauchte sie.
„Ist das eine Feststellung oder eine Frage?“
Melancholia war größer als Walküre und baute sich drohend vor ihr auf. „Ich sollte das Bestrafen selbst übernehmen, im Namen des Hohepriesters.“
„Ich glaube, das würde Tenny gar nicht gefallen.“
„Du bist nicht unser Retter.“
„Solomon scheint das aber zu glauben.“
„Kleriker Kranz hat sich zu lange in dieser dekadenten Welt aufgehalten. Er hat seine Objektivität eingebüßt. Er schaut dich an und sieht den Todbringer in dir, während alle anderen, die dich anschauen, ein armseliges kleines Kind sehen.“
Walküre grinste. Obwohl er sich so düster anhörte, war „der Todbringer“ ein Titel, der ihr langsam richtig gut gefiel. Totenbeschwörer fand sie ganz grundsätzlich gruselig – Solomon Kranz ausgenommen –, dennoch war es eine nette Vorstellung, für den möglichen Retter der Welt gehalten zu werden. Eine Abwechslung war es allemal und besser, als sich immer nur als Darquise sehen zu müssen. Die Chance, egal wie gering sie war, dass sie tatsächlich der Todbringer sein könnte, war eine Quelle des Trostes für sie. Zwei mögliche Schicksale – eines, bei dem sie die Welt rettete, und eines, bei dem sie die Welt vernichtete. Krasser konnten ihre Zukunftsaussichten nicht sein. „Vielleicht bin ich tatsächlich der Todbringer“, meinte sie.
„Mach dich nicht lächerlich. Du hast dich gerade mal ein gutes Jahr mit dem Totenbeschwören befasst. Ich beschäftige mich mit Todesmagie, seit ich vier Jahre alt bin. Im Vergleich zu mir oder sonst jemandem wie mir bist du rein gar nichts.“
„Und trotzdem bin ich diejenige, um die alle ein solches Getue machen.“
Melancholia blickte sie finster an. „Du bist doch nichts weiter als eine Elemente-Magierin, die so tut, als sei sie Totenbeschwörerin.“
„Und du bist durch und durch eine Totenbeschwörerin. Du wolltest dein ganzes Leben lang nichts anderes sein. Und trotzdem hat man mich zu allen wichtigen Besprechungen eingeladen, während du hier draußen stehen und auf den Wagen aufpassen musst. Mir hat man Dinge über eure Kunst und eure Religion erzählt, die du frühestens in ein oder zwei Jahre erfahren wirst.“
„Quatsch.“
„Ach ja? Wann hat man dir von der Passage erzählt?“
Melancholia zögerte. „Man hat mir von der Passage erzählt, als ich so weit war. Nach dem Ende meiner Studien an über drei Dutzend –“
„Es ist noch nicht allzu lange her, stimmt’s?“
Melancholia knirschte mit den Zähnen. „Ja.“
„Mir hat man schon vor Urzeiten davon erzählt. Ich will damit nicht sagen, dass ich Expertin bin. Im Gegenteil, ich habe noch jede Menge Fragen zu der ganzen Sache. Dir ist doch sicherlich auch aufgefallen, dass einiges einfach keinen Sinn ergibt. Grundlage eurer Religion ist die Vorstellung, dass eure Energie, wenn ihr sterbt, von dieser Welt in eine andere übergeht. Richtig?“
„Es ist keine Vorstellung“, korrigierte Melancholia knapp, „sondern eine wissenschaftliche Tatsache.“
„Es ist kaum mehr als eine Theorie“, konterte Walküre. „Aber das kann ich so stehen lassen. Ihr wartet also darauf, dass der Todbringer kommt und die Mauer zwischen den beiden Welten einreißt, damit die Lebenden und die Toten zu ein und derselben Zeit in ein und derselben Welt leben können, das heißt, dass es keinen Streit mehr gibt und keine Kriege und alle glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage leben oder zumindest existieren.“
„Genau“, bestätigte Melancholia.
„Aber noch hat mir niemand gesagt, wie das möglich ist.“
„Du kannst kaum erwarten, dass du die fortgeschrittenen Aspekte unserer Lehre verstehst, wenn du weder die Geduld noch die Fähigkeit hast, die Grundlagen zu begreifen.“
„Weißt du, wie das möglich ist?“
„Ich werde es erfahren. Mir werden alle Geheimnisse offengelegt werden, sobald ich mich für den Rest meines Lebens dem Totenbeschwören verpflichtet habe.“
„Das wird bestimmt nett. Ich weiß trotzdem noch nicht, ob es etwas für mich ist. Eigentlich will ich meine Kräfte nicht aus dem Tod schöpfen, aber darum dreht es sich ja beim Totenbeschwören im Grunde. Mir wäre es lieber, wenn ich nicht von den Schmerzen anderer Leute abhängig wäre, um Magie anwenden zu können.“
„Ich glaube kaum, dass man diese Entscheidung dir überlässt. Je eher die Kleriker erkennen, welchen Fehler sie machen, wenn sie ihre Zeit mit dir verschwenden, desto besser. Dann kannst du wieder mit deinem Skelett-Freund durch die Gegend ziehen und eine Menge Spaß mit ihm haben und die wichtigen Sachen uns überlassen.“
„Ich habe manchmal das Gefühl, dass du mich nicht leiden kannst.“
„Vertraue deinem Gefühl.“
„Dann werden wir keine Freundinnen?“
„Lieber würde ich mir selbst die Augen ausstechen.“
Walküre schüttelte traurig den Kopf und wandte sich zum Gehen. Der Bentley wartete. „Deine Chefs sehen mich als ihre Retterin, Melancholia. Vielleicht wirst du noch lernen müssen, mich zu mögen.“
„Du bist nicht unser Retter“, wiederholte Melancholia und ihre Stimme triefte vor Gehässigkeit.
Walküre blickte sie mit einem strahlenden Lächeln über die Schulter hinweg an. „Du solltest für alle Fälle schon mal anfangen, mich anzubeten.“