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WENN DIE GESICHTSZÜGE ENTGLEISEN

China Sorrows war nicht in der Bibliothek, die die Hälfte des dritten Stocks in dem Mietshaus einnahm. Sie war auch nicht in der Wohnung auf der anderen Seite des Flurs. Chinas Assistent, der magere Herr, der nie ein Wort sprach, senkte kaum merklich den Blick, als Skulduggery ihn fragte, wo sie sei, doch offensichtlich genügte ihm das als Hinweis.

Walküre folgte Skulduggery durch das nasskalte Treppenhaus nach unten. Der Skelett-Detektiv hatte seine Fassade angelegt, die sich jedoch immer noch weigerte, da zu bleiben, wo sie hingehörte. Walküre beobachtete, wie sein Gesicht auf seinen Hinterkopf rutschte.

„Wohin gehen wir?“, erkundigte sie sich. Ein Paar trübe grüne Augen schob sich langsam durch Skulduggerys Haare.

„In den Keller.“

„Ich wusste gar nicht, dass das Haus hier einen Keller hat.“

„Den gibt es auch erst, seit China es gekauft hat und ein Untergeschoss einbauen ließ. Selbst die Leute, die hier wohnen, wissen nichts davon.“

„Ich wollte nur anmerken, dass du hinten Augen hast, aber ein Kompliment soll das nicht sein.“

„Ich weiß“, erwiderte Skulduggery niedergeschlagen.

„Wie kannst du im Moment überhaupt etwas sehen?“

Er drehte sich zu ihr um. Der Mund der Fassade stand über der linken Augenhöhle weit offen.

„Das ist so was von danebengegangen“, murmelte sie.

Sie gingen weiter.

„Es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb China in den Keller hinuntersteigt“, erklärte Skulduggery. „Na ja, da unten steht auch ihr Wagen. Also gibt es nur zwei Gründe, weshalb sie hinuntersteigt, außer der Tatsache, dass es da unten trocken und sicher ist und der Keller sich gut als Lager eignet. Das macht dann drei Gründe, weshalb sie überhaupt jemals hinuntersteigt, und der Hauptgrund neben dem Wagen und dem Lager ist ihre Privatsphäre. Abgeschiedenheit. Und weshalb braucht sie wohl eine Privatsphäre und Abgeschiedenheit?“

„Keine Ahnung.“

„Sie braucht ihre Privatsphäre und Abgeschiedenheit, wenn sie jemanden beim Klauen erwischt hat.“ Sie erreichten das Erdgeschoss.

„Wie kommen wir runter?“, fragte Walküre. „Gibt es einen unsichtbaren Aufzug? Eine Falltür? Oh, müssen wir vielleicht an einer Stange hinunterrutschen, wie bei der Feuerwehr?“

Skulduggery ging zum Besenschrank und öffnete die Tür. Es waren keine Besen drin und kein Fußboden, nur –

„Eine Treppe“, stellte Walküre enttäuscht fest.

„Aber keine gewöhnliche Treppe“, klärte Skulduggery sie auf. „Es handelt sich hierbei um eine magische Treppe.“

„Tatsächlich?“

„Oh ja.“

Sie folgte ihm in die Dunkelheit. „Inwiefern ist sie magisch?“

„Sie ist es einfach.“

„In welcher Hinsicht?“

„In magischer Hinsicht.“

Walküre blickte finster auf seinen Hinterkopf. „Sie hat überhaupt nichts Magisches, stimmt’s?“

„Nicht wirklich.“

Im Keller war es kalt. Eine trübe Glühbirne kämpfte tapfer gegen die Dunkelheit. Sie gingen einen schmalen, von Maschendraht begrenzten Gang hinunter, vorbei an Stapeln von Schachteln und Kisten. Über die Decke schlängelten sich verrostete Rohre. Bei dem schwachen Licht sahen sie aus wie Königsboas, die sich jederzeit herunterfallen lassen, die beiden umschlingen und langsam das Leben aus ihnen herauspressen konnten. Oder besser: aus ihr. Skulduggery besaß kein Leben mehr, das man hätte herauspressen können.

Weiter vorn waren Stimmen zu hören. Endlich war das Maschendrahtlabyrinth zu Ende und sie betraten einen weiten Raum, der lediglich von den Scheinwerfern eines im Leerlauf tuckernden Wagens erhellt wurde. Ein Mann lag auf den Knien und versuchte, seine Augen abzuschirmen. Ob er sie vor dem blendenden Scheinwerferlicht oder der blendenden Schönheit der Frau, die vor ihm stand, zu schützen versuchte, war schwer zu sagen.

China Sorrows stand im Halbdunkel. Ihr rabenschwarzes Haar hatte sie zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Licht kam von hinten und ließ ihre Kleider leuchten und ihre Haut strahlen. Sie hielt ein Buch unter dem Arm. Skulduggery und Walküre blieben stehen und beobachteten schweigend die Szene.

„Es tut mir leid“, schluchzte der Mann. „Oh Gott, Miss Sorrows, es tut mir ja so leid! Das wollte ich nicht!“

„Du wolltest das Buch nicht unter deiner Jacke verstecken und verschwinden, ohne mir Bescheid zu geben?“, fragte China. „Es handelt sich hier um eine sehr wertvolle Ausgabe, die in meiner Sammlung schmerzlich vermisst würde.“

„Bitte, bitte! Ich habe Familie. Sie sind am Verhungern.“

„Dann wolltest du ihnen das Buch zum Essen vorsetzen?“

„Nein … nein, aber …“

„Du wolltest es also verkaufen. Wem, wenn ich fragen darf?“

„Ich werde nicht … ich kann nicht …“

„Wenn du mir sagst, wer Interesse daran hat, lasse ich dich gehen.“ Ein kurzes Wedeln mit der Hand und am Ende einer Betonrampe öffnete sich ein Teil der Wand – offensichtlich die Ausfahrt für den Wagen. Tageslicht strömte herein. „Du wirst Hausverbot bekommen und du wirst auf die andere Straßenseite gehen und mir schleunigst ausweichen, wenn wir uns begegnen, doch ansonsten werde ich keine weiteren Maßnahmen ergreifen. Gegen dich. Die Maßnahmen, die ich gegen den oder die Käufer ergreifen werde, werden ziemlich schwerwiegend sein, selbst für meine Verhältnisse. Ich frage nie zweimal – meine Geduld ist sehr begrenzt. Du wirst es mir jetzt sagen.“

Er ließ die Schultern hängen. „Eliza Scorn.“

Falls Chinas Miene irgendeine Reaktion verriet, war diese nicht zu erkennen, da ihr Gesicht im Schatten lag. „So, so. Du kannst gehen.“

„Ich … kann?“

China seufzte und der Mann rappelte sich auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und eilte zu der Rampe.

„Warte“, rief China ihm nach. Sie blickte ihn lange an. „Wenn du ohne das Buch zu Eliza Scorn kommst, wird sie dich höchstwahrscheinlich umbringen und deine ganze bejammernswerte Familie, die am Verhungern ist, dazu.“ Sie hielt es ihm hin. „Hier, nimm.“

„Wirklich?“

„Ich habe hier irgendwo noch drei Exemplare davon. Nimm es, bevor ich meine Meinung ändere.“

Er hastete zu ihr zurück und nahm das Buch in Empfang. „Danke“, schluchzte er. „Danke für deine Freundlichkeit und … und deine Schönheit. Ich … ich liebe dich, Miss Sorrows. Ich habe noch nie jemanden so sehr –“

„Auf dich wartet eine bejammernswerte Familie, die am Verhungern ist, du Schmutzfink. Geh zu ihr zurück.“

Der Mann riss den Blick von ihr los und rannte heulend die Rampe hinauf und hinaus auf die Straße. Die Wand schloss sich hinter ihm. China drehte sich um und das Licht fiel auf ihr perfekt geschnittenes Gesicht.

„Eine freundliche Geste“, sagte sie, „einzig und allein für dich, Walküre. Ich weiß, wie wenig es dir gefällt, wenn ich gemein zu den Leuten bin.“

Walküre kam lächelnd aus der Dunkelheit. „Freundlichkeit steht dir.“

„Findest du? Ich glaube, ich bin ziemlich allergisch dagegen. Aber was kann ich für euch beide tun? Seid ihr womöglich hergekommen, weil ihr meine Meinung hören wollt zu Angelegenheiten, die bei dieser streng geheimen Versammlung besprochen wurden, zu der ich nicht eingeladen war?“

„Du magst zwar nicht dort gewesen sein, aber eine Frau mit deinen Verbindungen hat sicher schon detaillierte Berichte gehört“, vermutete Skulduggery.

„Unsinn. Die Versammlung war schließlich streng vertraulich. Herzlichen Glückwunsch übrigens.“

Skulduggery grunzte. „Da gibt es nichts zu beglückwünschen.“

„Sei nicht so bescheiden – ich habe schon seit Jahren nicht mehr so gelacht. Erskin hat vielleicht das Zeug für einen guten Ältesten und Corrival Deuce zum Großmagier zu wählen ist eine geniale Entscheidung. Aber du? Mein lieber Skulduggery – das ist genialer Wahnsinn.“

„Nun ja, wir werden sehen, wie sich alles entwickelt, aber wir sind leider wegen einer eher kosmetischen Angelegenheit hier.“ Skulduggery trat ins Licht und China sah sein herunterhängendes Gesicht.

„Du meine Güte.“

„Es wird besser, wenn ich so mache.“ Er ohrfeigte sich selbst und begann heftig mit dem Kopf zu wackeln, worauf das Gesicht sich etwas fester um den Schädel legte.

„Nun“, meinte China, „wenigstens bewahrst du dir deine Würde. Komm mit. Und sieh zu, dass die Fassade immer in Bewegung bleibt.“

Sie tippte den Wagen an und die Scheinwerfer gingen aus. Alle drei verließen sie den Keller und stiegen die Treppe zum dritten Stock hinauf, China vorneweg.

„Was hast du von Tesseract gehört?“, fragte Skulduggery auf dem Weg nach oben. Seine Unterlippe hing wie eine tote Nacktschnecke über seinem Kinn.

„Dem russischen Killer? Warum um alles in der Welt interessiert euch plötzlich …“ China sah auf sie herunter; ihre hellen blauen Augen verengten sich. „Er ist im Land?“

„Du hast es nicht gewusst?“ Skulduggery klang ehrlich schockiert.

Über Chinas makelloses Gesicht zuckte ganz kurz ein Anflug von Ärger. Sie drehte sich um und stieg weiter die Treppe zum dritten Stock hinauf.

„Ich will dir sagen, was ich über Tesseract weiß: geboren und aufgewachsen in Russland vor ungefähr drei- oder vierhundert Jahren. Er ist ein Meister, aber niemand weiß, wer ihn ausgebildet hat, und niemand weiß, wie viele Leute er umgebracht hat. Er trägt eine Maske – und auch hier weiß niemand, weshalb. Er wohnt in einem Truck, der jeder Beschreibung spottet, lebt autark und braucht seine Vorräte wochenlang nicht aufzufrischen. Auf welche Art und Weise er kommuniziert, ist mir ein Rätsel. Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, wie seine Auftraggeber mit ihm in Kontakt treten.

Was ich damit sagen will, ist, dass er direkt auf der anderen Straßenseite wohnen könnte und ich würde es nicht wissen. In zwanzig Jahren habe ich kein einziges Gerücht über ihn gehört und die Tatsache, dass er in der Stadt ist und ich es nicht wusste, lässt sämtliche Alarmglocken bei mir schrillen und macht mich unvorstellbar wütend. Was ich mir jedoch nicht anmerken lasse. Du bist sicher, dass er hier ist?“

„Wir haben ihn gesehen“, antwortete Skulduggery.

Sie erreichten den dritten Stock und unterbrachen ihre Unterhaltung, als ein Mann und eine Frau ihnen entgegenkamen. Der Mann starrte China an, fasziniert von ihrer Schönheit. Die Frau starrte Skulduggery an, abgestoßen von dem Gesicht, das langsam an seinem Schädel herunterrutschte. China führte sie in ihr Apartment – in Walküres Augen war es so schön und elegant wie China selbst – und schloss die Tür hinter ihnen.

„Er war hinter Davina Marr her“, erklärte Skulduggery.

China hob die Augenbrauen. „Hat er sie umgebracht?“

„Er stand kurz davor.“

„Hast du sie in Gewahrsam genommen?“

„Sie ist an einem sicheren Ort – um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Das darf natürlich sonst niemand wissen.“

„Wofür hältst du mich? Für irgendein hundsgemeines Klatschmaul? Setz dich. Lockere deine Krawatte.“

Skulduggery tat wie geheißen. China nahm ein kleines schwarzes Kästchen von ihrem Schreibtisch und holte eine Kalligrafie-Feder heraus, die Walküre an ein Skalpell erinnerte. Sie tauchte die Feder in schwarze Tinte und zog dann ein Monokel aus einer Zubehörtasche. Dann stellte sie sich vor Skulduggery, öffnete die oberen Knöpfe an seinem Hemd und besah sich die in seine Schlüsselbeine geritzten Symbole durch das Einglas. „Hast du Marr schon verhört?“, fragte sie.

„Sie verharrt stur in ihrer Bewusstlosigkeit“, erwiderte er. „Aber allein die Tatsache, dass ihr jemand einen Killer auf den Hals geschickt hat, sagt uns schon eine ganze Menge. Bis jetzt wäre ich fast bereit gewesen zu glauben, dass Marr allein arbeitet. Sie hätte Myron Stray von sich aus zu einer willenlosen Marionette machen können, hätte ihm die Desolationsmaschine in die Hand drücken und es so arrangieren können, dass Walküre und ich bei der Explosion umkommen. Fast hätte ich ihre Aktionen auf puren Hass und kleinlichen Rachedurst zurückgeführt, der mit schrecklichen Folgen eskaliert ist. Aber diese These lässt sich nicht aufrechterhalten. Nicht mehr.“

„Wegen Tesseract?“, fragte Walküre.

„Man hat Tesseract auf ihre Spur gesetzt, was mich zu der Vermutung geführt hat, dass sie Mitverschwörer hatte, die sie im Stich gelassen haben und sie nun zum Schweigen bringen wollen.“

China legte das Monokel beiseite, hielt die Feder an Skulduggerys linkes Schlüsselbein und übte Druck aus. „Wer würde bei einer Verschwörung von der Zerstörung des Sanktuariums profitieren? Fünf Monate lang hat es kein Sanktuarium gegeben und keinen Großmagier, doch soweit ich weiß, hat es keinen dramatischen Anstieg asozialer Aktivitäten gegeben. Wer immer das organisiert hat, scheint die Gelegenheit verpasst zu haben.“

„Es sei denn, das Ganze hat sehr viel größere Ausmaße, als wir uns das vorstellen“, gab Skulduggery zu bedenken.

„Das klingt jetzt aber nach Verfolgungswahn“, meinte China. Was immer sie mit dem Symbol anstellte, es hatte Auswirkungen auf Skulduggerys Gesicht. Es zog sich so straff über den Schädel, dass es fast riss, und wurde dann wieder etwas lockerer. „Wenn du wirklich an diese große Verschwörungstheorie glaubst, solltest du vielleicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Marr nie wirklich aufgehört hat, für das amerikanische Sanktuarium zu arbeiten.“

„Der Gedanke kam uns auch schon“, erwiderte Skulduggery. „Walküre?“

„Okay“, begann Walküre, „vor zwei Jahren hat Marr also noch für das amerikanische Sanktuarium gearbeitet. Thurid Guild bietet ihr einen Job in Irland an, da er überzeugt ist, dass sie der Chance, in der Wiege der Magie zu arbeiten, nicht widerstehen kann, weil, da wollen wir uns nichts vormachen, jeder Tag hier ein Abenteuer ist. Sie erzählt es ihren Bossen, die sagen ihr, sie soll das Angebot annehmen, aber undercover weiter für sie arbeiten. Sämtliche Sanktuarien auf der Welt hätten gern einen Fuß in einem Land mit so viel ursprünglicher Magie und Amerika bildet da keine Ausnahme. Sie tritt die Stelle an und erfüllt alle Erwartungen, die man an sie stellt, während sie allerdings gleichzeitig nach einer Möglichkeit sucht, das Sanktuarium zu Fall zu bringen. Die Amerikaner brauchen eine Krise, um sich einmischen zu können. Und Marr verhilft ihnen schließlich zu dieser Krise.“

„Das Problem bei dieser Theorie ist“, ergänzte Skulduggery, „dass die Amerikaner nach der Zerstörung des Sanktuariums absolut nichts unternommen haben. Und nun wurde Corrival Deuce zum Großmagier gewählt und Ravel und meine Wenigkeit wurden als Kandidaten für die Ältestenposten vorgeschlagen. Ich sehe wirklich nicht, wie das den Amerikanern oder sonst jemandem auch nur im Geringsten nutzen könnte.“

„Das sollte genügen“, verkündete China und trat einen Schritt zurück. Skulduggery sah zu ihr auf und sein Gesicht blieb an Ort und Stelle.

„Es hat in der Tiefe um einen Millimeter nicht gestimmt“, erklärte sie. „Eigentlich ein unverzeihlicher Fehler meinerseits, aber ich denke, ich schaffe es trotzdem, mir zu verzeihen. Könntest du die Fassade jetzt bitte deaktivieren?“

Skulduggery tippte auf die Symbole und das Gesicht verschwand. „Dann soll ich es also nur benutzen, wenn es unbedingt sein muss?“, fragte er.

„Ganz und gar nicht. Aber mit dir zu reden, wenn du ein Gesicht hast, irritiert mich. Als Skelett bist du mir viel lieber.“

„Mir auch“, bestätigte Walküre.

Während Skulduggery aufstand und sein Hemd zuknöpfte, räumte China ihre Sachen weg. „Dann sind es vielleicht nicht die Amerikaner“, meinte sie. „Vielleicht hat Marr für jemand anders undercover gearbeitet.“

„Es könnte jemand sein, der uns einfach nicht leiden kann“, vermutete Walküre. „Clement Skarab und Billy-Ray Sanguin wollten sich schon an uns rächen. Das könnten andere Schurken, die wir besiegt haben, doch auch versuchen. Wie wäre es zum Beispiel mit Jaron Gallow? Seit er sich selbst den Arm abgehackt hat und vor den Gesichtslosen geflohen ist, hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Und Remus Crux. Wenn jemand bescheuert genug ist, so viele Leute umbringen zu wollen, ist es dieser Irre.“

„Remus Crux war es nicht“, erklärte China.

„Woher weißt du das?“

„Weil Davina Marr nie mit jemandem arbeiten würde, der psychisch so labil ist.“

„Wie steht es dann mit der Qual? Roarhaven profitiert ganz enorm von dieser Sache. Diesem gruseligen Kaff setzt man das Sanktuarium mittenrein.“

„Aber einen wesentlichen Machtzuwachs garantiert ihnen das noch lange nicht“, wandte Skulduggery ein, während er seine Krawatte zurechtrückte. „Es gibt immer noch einen Ältestenrat und die gesamte Sanktuariums-Belegschaft besteht aus Zauberern, die nicht aus Roarhaven stammen. Der einzige Vorteil, den sie haben, ist die unmittelbare Nähe zum Sanktuarium.“

„Was kein ausreichender Grund ist, die Desolationsmaschine hochgehen zu lassen“, fand China. „Die Kinder der Spinne sind für ihre Gerissenheit bekannt, aber wir wissen doch gar nicht, ob das Ganze überhaupt etwas mit Roarhaven zu tun hat.“

„Ich glaube immer noch, dass die Qual dahintersteckt“, murmelte Walküre.

Skulduggerys Lächeln klang auch aus seiner Stimme. „Liegt das daran, weil er mich dazu überreden wollte, dich umzubringen?“

„Weil er ein schrecklicher alter Mann ist, der sich in eine riesige Spinne verwandeln kann.“

„Seit wann hast du Angst vor Spinnen?“ Skulduggery runzelte die Stirn. „Das ist doch nicht der einzige Grund, oder?“

„Na gut, in erster Linie, weil er dich dazu überreden wollte, mich umzubringen. Allerdings gibt es noch jede Menge andere, die infrage kämen. Und vergiss nicht, wir haben nur Skarabs Wort, dass er nicht dahintersteckt. Dass er uns glauben machen will, es sei noch jemand da draußen, ist vielleicht sein letzter Versuch, sich zu rächen, bevor er im Gefängnis stirbt.“

„Dann wollen wir mal zusammenfassen“, meinte Skulduggery. „Davina Marrs Mitverschwörer könnten entweder die Magier von Roarhaven sein, die Amerikaner oder sonst jemand, der uns einfach nicht leiden kann.“

China lächelte. „Was bin ich froh, dass wir den Kreis der Verdächtigen einschränken konnten.“ Sie verließ das Apartment und Walküre und Skulduggery folgten ihr in die Bibliothek. „Und wenn ich noch etwas bemerken darf: Ich empfinde es als großes Privileg, die Ermittlungen von Anfang an begleiten zu dürfen. Es erfüllt mein Herz mit Freude, dass ihr mir endlich genügend vertraut, um mich schon jetzt mit Informationen zu behelligen, die ich sonst immer erst viel später erfahren habe und die mich im Moment noch überhaupt nicht interessieren.“

„Es heißt, Sarkasmus sei die niedrigste Stufe von Humor“, bemerkte Walküre.

China blickte sie an. „Wer das sagt, kennt mich ganz offensichtlich nicht.“

„Tatsache ist“, meinte Skulduggery, während sie durch das Labyrinth aus Bücherregalen gingen, „dass du dich im Lauf der letzten Jahre als verlässliche Partnerin erwiesen hast.“

„Und der bedauerliche Nebeneffekt davon ist“, fuhr Walküre fort, „dass du in unseren kleinen Verbrechensbekämpfungsclub aufgenommen wirst, ob du willst oder nicht.“

China blieb stehen und drehte sich mit einem leichten Stirnrunzeln zu ihnen um. „Bedeutet das …? Bitte erzählt mir jetzt nicht, dass wir nun alle Freunde sind. Bis jetzt bin ich sehr gut ohne Freunde ausgekommen und ich habe nicht die Absicht, mir jetzt welche zuzulegen.“

Walküre runzelte die Stirn. „Das klingt ja gerade so, als sei Freundschaft ein Ausschlag.“

„Eine Irritation, die auftritt, wenn man sie am wenigsten brauchen kann? Der Vergleich erscheint mir recht passend.“

„Du bist dir bewusst, dass ich genau weiß, was du mit diesen ganzen großen Worten sagen willst, ja?“

„Und ich dachte, ich könnte dich mit meinen Verbalattacken beeindrucken.“

„Auch das hab ich verstanden.“ Walküre entdeckte ein vertrautes Gesicht zwischen den Bücherstapeln. „Bin gleich wieder da“, sagte sie. Die anderen gingen weiter und sie schlich zu ihrer Freundin hinüber. „Hier haben wir uns zum ersten Mal getroffen“, begrüßte sie sie.

Tanith Low blickte auf und lächelte. „Gütiger Himmel, das scheint hundert Jahre her zu sein. Du warst noch so klein damals.“

„Ich war nie klein.“

„Und so dünn. Und jetzt schau dich an. Wie geht’s den Armen?“

„Die zeig ich dir nicht.“

„Doch, du zeigst sie mir.“

„Nein, tu ich nicht. Wir sind schließlich in einer Bibliothek.“

„Einer Bibliothek, die ausschließlich von Freaks und sonstigen Irren besucht wird. Ich hab deine Arme seit Wochen nicht mehr gesehen. Los, zeig schon.“

Walküre wollte demonstrativ seufzen, doch es wurde ein breites Grinsen daraus. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und zog sie aus.

Verdammt.“ Tanith betonte jeden Buchstaben. „Hoffentlich weiß Fletcher die ganze Arbeit zu schätzen, die ich da reingesteckt habe. Die Muskeln seiner Freundin sind jetzt jedenfalls stahlhart.“

„Ich habe ihm gesagt, dass ich deine Schultern haben will. Er hat praktisch angefangen zu sabbern, als er das gehört hat.“ Walküre zog ihre Jacke wieder an. „Aber klein war ich nie.“

Tanith lachte und schob das Buch, in dem sie gelesen hatte, ins Regal zurück. „Du warst so unsicher und unschuldig, blauäugig und schüchtern … Na ja, schüchtern vielleicht nicht.“

„Schüchtern war ich nie.“

„Aber definitiv unsicher. Vom ersten Augenblick an, als wir uns begegnet sind, habe ich gewusst, dass wir Freundinnen werden.“

„Tatsächlich?“

„Ich ahnte nicht, dass wir uns so gut verstehen würden, aber ich habe dich gesehen und gedacht: Yeah, die ist cool. Dabei hatte ich keine Ahnung, dass es etwas mit dir zu tun hatte, warum ich hier in Irland war. Die Sache hat sich ganz gut entwickelt, findest du nicht auch?“

„Kann man so sagen.“

„Meine Leute lassen dich übrigens grüßen. Und mein Bruder will dich kennenlernen. Er hat schon so viel von der großen Walküre Unruh gehört.“

„Deine Eltern sind sehr nett und ich habe ein Foto von deinem Bruder gesehen. Ich will ihn unbedingt kennenlernen.“

Tanith drohte ihr mit dem Finger. „Du, meine Liebe, bist eine Ein-Mann-Frau. Bleib bei Fletcher und lass die Finger von meinem älteren Bruder.“ Tanith wurde plötzlich ernst. „Was ist los?“

„Was meinst du?“

„Ich habe ‚Ein-Mann-Frau‘ gesagt und du … bist praktisch zusammengezuckt.“

„Bin ich nicht.“

„Ist alles okay mit Fletcher?“

„Ja. Alles bestens.“

„Und du bist glücklich mit ihm? Es macht immer noch Spaß?“

„Manchmal ist er wie ein kleines Kind, aber Spaß macht es immer noch, absolut.“

„Was stimmt dann nicht?“

„Nichts stimmt nicht“, antwortete Walküre und lachte.

„Was hast du angestellt?“

„Gar nichts!“

„Wer ist er?“

„Ich weiß nicht, wen –“

Tanith sah ihr in die Augen. „Oh nein“, flüsterte sie.

„Oh nein was?“

„Nicht er.“

„Tanith, ich weiß wirklich nicht, wovon du redest.“

„Der Vampir, Wallie? Echt? Der Vampir?“

„Er hat einen Namen.“

„Er ist ein Vampir.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, okay? Es ist nichts passiert.“

„Und das ist jetzt eine dicke, fette Lüge, die du mir da auftischst.“

Walküre wollte widersprechen, wusste aber, dass es wenig Sinn hatte. Sie ließ die Schultern hängen. „Gut. Okay. Wir haben uns geküsst.“

Tanith schlug die Hände vors Gesicht. „Nein, nein, nein, nein. Du darfst so etwas nicht tun.“

„Ich tue gar nichts. Es war eine einmalige Sache. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Er ist zu alt für dich.“

„Das weiß ich.“

„Und er ist ein Vampir.“

„Tanith, Caelan hat Probleme, aber er ist nicht wie die anderen.“

„Walküre, du bist verrückt! Er ist genau wie die anderen. Es handelt sich hier nicht um irgendwelchen Gothic-Quatsch.“

„Ich schwöre dir, ich weiß das alles. Ich habe ihm alles erklärt, es wird nie wieder vorkommen. Du liebe Güte, ich bin schließlich nicht in ihn verknallt. Im Grunde war es völlig bedeutungslos.“

„Für dich vielleicht“, entgegnete Tanith, „aber ich kann dir versichern, dass es ihm eine ganze Menge bedeutet hat.“

„Das ist nicht mein Problem.“

„Es wird aber zu deinem. Ich kritisiere dich ungern, Wallie. Wir sind Freundinnen. Ich sollte dir keine Vorhaltungen machen. Ich sollte dich unterstützen. Und das tue ich auch. Aber bei so etwas wirst du mir einfach verzeihen müssen, denn ich werde so lange weitermachen, bis es vorbei ist. Und zwar aus und vorbei.“

Walküre nickte. „Das verstehe ich.“

„Ich gehe davon aus, dass Fletcher nichts ahnt?“

„Gütiger Himmel, nein.“

„Gut. Warum ihn verletzen und eure Beziehung kaputt machen, wenn es nicht sein muss. Es war ein Fehler.“

„Ja, das war es“, bestätigte Walküre.

„Und es wird nie mehr passieren.“

„Nein, wird es nicht.“

„Aber wenn es passiert, kannst du mit mir darüber reden und ich werde dich nicht zu sehr anschreien.“

„Danke.“

„Ich frage dich nicht einmal, ob Skulduggery etwas davon weiß. Wenn Caelan noch am Leben ist, heißt das, er weiß nichts davon.“

Walküre nickte. Dass Tanith mit ihrer Bemerkung recht hatte, ließ ein ungutes Gefühl in ihr aufkommen. Sie verließen das Regallabyrinth und gingen zu China und Skulduggery, die in eine Unterhaltung vertieft waren.

„Oh, gut“, bemerkte China ohne Begeisterung, „Tanith ist da.“

Tanith lächelte unterkühlt. „Hallo, China. Du siehst blendend aus wie immer.“

„Deine Ledermontur scheint eingelaufen zu sein, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben“, entgegnete China. „Habt ihr nicht alle irgendwo anders zu tun? Ich will nicht, dass ihr geht, so ist es nicht, ich will nur nicht, dass ihr bleibt.“