LASST UNS FROH
UND MUNTER SEIN
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, noch gar nicht so lange her, da war der Weihnachtsmorgen eine ganz große Sache gewesen. Ein Morgen, an dem Stephanie Edgley aufgewacht und zum Schlafzimmer ihrer Eltern gerannt war und sie praktisch aus dem Bett gezerrt hatte. Ihr Vater war dann immer als Erster nach unten gegangen, um nachzusehen, ob der Weihnachtsmann schon wieder weg war. Nachdem er Entwarnung gegeben hatte, waren auch Stephanie und ihre Mutter ins Wohnzimmer gelaufen und alle drei waren sie unter dem Weihnachtsbaum abgetaucht und hatten vor Freude gejauchzt, während sie ihre Geschenke auspackten. Ihr Dad jauchzte aus irgendeinem Grund immer am lautesten, besonders wenn er stapelweise nagelneue Socken bekam. Ihr Dad liebte neue Socken. Es war fast besorgniserregend, wie er sich darauf freute, die neuen Paare anzuziehen.
Ihre Mutter fand ausnahmslos jeden Weihnachtsmorgen zum Brüllen. Eine von Walküres Lieblingserinnerungen war, wie ihre Mutter sich vor Lachen krümmte, nachdem sie das Geschenk von ihrem Mann ausgepackt hatte. So zum Beispiel in dem Jahr, als er ihr einen Hammer geschenkt hatte. Walküre sah immer noch das Gesicht ihres Vaters vor sich, der fast platzte vor Stolz, weil er ganz ohne fremde Hilfe ein Geschenk für seine Frau gefunden hatte. Und dann der Ausdruck von Ratlosigkeit, der sich auf seinem Gesicht breit machte, als seine allerliebste Melissa langsam auf den Teppich sank und so lachen musste, dass sie keinen Ton herausbrachte.
Bis jetzt hatte Walküre noch keinen Weihnachtsmorgen verpasst. Gerade weil sie viel unterwegs war, fand sie es wichtig, diesen Tag wie jede normale Tochter bei ihrer Familie zu verbringen und all die Sachen zu machen, die man normalerweise an Weihnachtstagen so machte. Gegen Abend kam dann gewöhnlich Skulduggery nach Haggard und sie verließ kurz das Haus, um ihn am Pier zu treffen. Während die Wellen neben ihr ans Ufer schlugen, tauschten sie ihre Geschenke aus.
Er hatte immer viel bessere Geschenke als sie. Letztes Jahr hatte sie ihm eine Tasse geschenkt mit einem Bild von Betty darauf, dem einäugigen Mischlingshund einer Nachbarin (und nachdem er einen Wettbewerb gewonnen hatte, offiziell Irlands meistgeliebter Hund). Walküre fürchtete, dass sie das unmögliche Talent ihres Vaters geerbt hatte, was das Geschenkekaufen anging. Aber Skulduggery schien es nicht allzu viel auszumachen.
So lange Jahre war sie an Weihnachten ein Einzelkind gewesen und man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass sie ein wenig verwöhnt war. Doch als sie jetzt im Bett lag, musste sie bei der Vorstellung, nächstes Jahr einen kleinen Bruder oder eine Schwester zu haben, lächeln. Ein Kind im Haus zu haben, das sich freute und schrie und jauchzte, wie sie es getan hatte, war der Garant dafür, dass Weihnachten auch in Zukunft etwas Besonderes blieb, genauso schön wie die Feste, an die sie sich erinnerte. Der Ablauf musste natürlich verändert werden. Der oder die Kleine würde zuerst sie wecken, dann würden sie beide ihre Eltern wecken, die Spannung ausdehnen, die Vorfreude in die Länge ziehen. Sie konnte es kaum erwarten.
Ihre Mutter klopfte an die Tür und lugte herein. „Steph?“
„Hi, Mum.“
Sofort breitete sich ein Strahlen über Mrs Edglys Gesicht aus und sie kam herein, den Morgenmantel über dem runden Bauch zugeknöpft. „Fröhliche Weihnachten, Liebes.“ Sie setzte sich aufs Bett und beugte sich zu Walküre herunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Stehst du auf? Desmond ist schon ganz ungeduldig. Er wartet unten darauf, dass er nachsehen kann, ob der Weihnachtsmann schon weg ist.“
Walküre kicherte. „Oh, tut mir leid. Ich hab einfach nur so dagelegen.“
„Und Probleme gewälzt?“
„Ich hab an das Baby gedacht, das nächstes Jahr um diese Zeit hier sein wird.“
Ihre Mum lächelte und tätschelte ihren Bauch. „Das wird ein Spaß. Aber du versprichst, dass du nicht eifersüchtig wirst, ja?“
„Ich glaube, das kriege ich hin.“
Sie hörten schwere Schritte auf der Treppe, dann erschien ihr Dad in der Tür. „Beeilt euch!“, quengelte er.
„Apropos Babys“, murmelte ihre Mutter. Sie stemmte sich vom Bett hoch und ging zu ihm hinüber, während Walküre mit Schwung die Bettdecke zurückschlug. Noch während sie es tat, fielen ihr die vielen blauen Flecken ein, die sie am ganzen Körper hatte, und sie zog die Decke wieder über sich und presste sie fest an sich.
„Ich hab nichts gesehen!“, rief ihr Vater und kniff die Augen zu. „Ich sehe nichts. Nicht das kleinste bisschen!“
Walküre lachte, als ihre Mum ihn wegscheuchte. Immer noch mit geschlossenen Augen ließ er sich durch die Tür schieben.
„Bitte, lieber Gott“, hörte sie ihn sagen, „lass das nächste ein Junge sein.“
Sobald sie ihre Schritte auf der Treppe hörte, schob sie die Decke weg und betrachtete sich eingehend. Die Flecken waren dunkellila, aber es sah schlimmer aus, als es war. Sie taten kaum noch weh. Walküre zog sich ein T-Shirt über, schlüpfte in ihren Morgenmantel und ihre flauschigen Häschen-Hausschuhe und lief die Treppe hinunter. Sie betrat das Wohnzimmer im selben Moment, als ihr Vater von draußen hereingestürmt kam.
„Er ist weg!“, verkündete er. „Der Weihnachtsmann ist weg und er hat mir Geschenke dagelassen.“
Walküre bekam etwas zum Anziehen, ein wenig Geld und eine neue Musikanlage, die kleiner war als ihr Daumen. Dann öffnete sie einen Umschlag und eine Karte fiel ihr in die Hand. Sie runzelte die Stirn. „Eine Mitgliedschaft im Sportverein?“
„Für ein Jahr“, erklärte ihre Mutter. „Es ist dieser gute Verein neben den Pavillons. Sie haben ein Schwimmbecken und eine Sauna und du kannst kostenlos einen Gast mitbringen. Und ich liebe Saunen.“
Ihr Dad lächelte. „Und ich liebe Schwimmbecken.“
Ihre Mutter sah ihn an. „Sie kann immer nur einen Gast mitbringen.“
„Ich weiß, aber wo ist das Pro–? Oh. Du meinst dich. Und … was mache ich derweil?“
„Du bist ein großer Junge, Des, du kannst dir selber was einfallen lassen. Vielleicht stellst du dich draußen hin und hörst dem Plätschern zu.“
„Dann kann ich mich auch hier vors Badezimmer stellen.“ Er tat beleidigt.
„Darf ich fragen“, begann Walküre, „warum … hm … warum ein Sportverein?“
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern und lächelte. „Du trainierst doch irgendwo und da dachten wir, warum das Training nicht in einem Verein absolvieren, in dem alle Trainer in Erster Hilfe ausgebildet sind und alles sauber und ordentlich ist?“
„Ich trainiere nicht, Mum. Ich … ich mache Sport in der Schule, das ist alles.“
„Was für eine Art von Sport?“, wollte der Vater wissen. „Badminton? Rugby? Cage Fighting?“
„Einfach nur Sport. Ich laufe viel. Und ich schwimme.“
„Der Verein hat ein Schwimmbecken.“
„Ja, Dad, ich weiß.“
„Wenn du den Gutschein nicht haben willst, ist das kein Problem“, sagte ihre Mum und streckte die Hand aus, um ihn an sich zu nehmen.
Walküre drückte ihn an ihre Brust. „Oh nein“, lachte sie, „ich behalte ihn.“
Ihre Eltern lächelten und wandten sich dem nächsten Geschenk auf dem Stapel zu. Walküre fragte sich, weshalb sie zunächst so ablehnend reagiert hatte. Wenn Zauberer oder sonst jemand aus jenem Teil ihres Lebens Bemerkungen zu ihrer körperlichen Fitness machten, fand sie das okay, aber hier konnte sie offenbar nicht so gelassen damit umgehen. Vielleicht wollte sie nicht, dass ihrer Familie auffiel, wie anders sie war. Ihr gefiel es, zu Hause einfach ganz normal zu sein. Hier war sie kein möglicher Todbringer. Hier war sie nicht Darquise, die Weltenkillerin. Hier war sie Stephanie Edgley – Tochter, Schülerin und bald große Schwester.
Nachdem sie sich selbst in der Zukunft gesehen hatte, war ihr der Gedanke, älter und stärker zu werden, verhasst gewesen. Denn je älter und stärker sie wurde, desto ähnlicher wurde sie ihrem zukünftigen Ich. Doch die Möglichkeit, ihren Namen zu versiegeln und nie zu dem Monster zu werden, das seine eigenen Eltern umbrachte, hatte alles verändert. Sie hatte wieder die Kontrolle über sich und freute sich darauf, Tanith immer ähnlicher zu werden. Muskulös. Stromlinienförmig. Kraftvoll.
Und sie brauchte dazu nicht einmal eine Mitgliedschaft in einem Sportverein, aber es war eine nette Geste von ihren Eltern. Es bewies, dass sie sich Gedanken um sie machten, ohne sich einzumischen. Das gefiel ihr.
Sie besuchten die Verwandtschaft. Jedes Jahr an Weihnachten traf sich die Familie ihrer Mutter um die Mittagszeit im Haus der Großmutter drüben in Clontarf. Früher hatte sie diese Besuche gefürchtet, doch inzwischen liebte Walküre sie. Ihre Cousins und Cousinen waren jetzt sehr viel interessanter als früher und ihre Onkel und Tanten ließen Persönlichkeiten erkennen, die ihr ständiges Kopftätscheln und Wangenkneifen in der Vergangenheit nicht zum Vorschein hatten kommen lassen.
Ihre Oma erinnerte sie an einen silberhaarigen Tasmanischen Teufel, wie sie von Grüppchen zu Grüppchen wuselte, um sich zu vergewissern, dass sich alle gut amüsierten oder zumindest jeder einen mit Essen beladenen Pappteller in der Hand hatte. Walküre plauderte, lachte viel und kam sich vor wie ein ganz normales sechzehnjähriges Mädchen.
Doch nach einer Stunde war der Spaß vorbei, als sie von der Familie mütterlicherseits zurück nach Haggard zu der Familie väterlicherseits fuhren. Nachdem sie vor dem Haus geparkt hatten, trotteten sie wie Strafgefangene den Gartenweg hinauf zur Haustür.
„Klopf an“, forderte Walküres Mutter ihren Mann auf.
Der schüttelte den Kopf. „Mag nicht.“
„Es ist deine Verwandtschaft.“
„Ich kann nicht anklopfen. Ich habe keine Hände.“
„Stephanie, sei ein braves Mädchen und klopfe bitte an, ja?“
Aber Walküre tat so, als sei sie taub.
Ihre Mutter seufzte, sagte „gut“ und hob die Hand. Sie zögerte. Die Hand senkte sich. „Würden sie uns überhaupt vermissen?“, fragte sie.
„Nein“, antwortete der Vater wie aus der Pistole geschossen.
„Wahrscheinlich ist es gesteckt voll da drin“, fuhr seine Frau fort. „Es wird schwierig werden, mit jedem ein paar Worte zu wechseln. Wir könnten eine Stunde da drin sein und hätten noch nicht mal die Hälfte begrüßt. Womöglich würde man uns nicht einmal bemerken.“
„Wir sollten nach Hause fahren und warten, bis der Truthahn gar ist.“
Und dann ging die Tür auf und Beryl schaute heraus und alle Hoffnung auf ein Entkommen war dahin.
„Fröhliche Weihnachten“, begrüßte Beryl sie und setzte ein steifes Lächeln auf. „Wollt ihr nicht reinkommen?“
Walküre ließ ihren Eltern den Vortritt und trottete hinter ihnen her. Im Wohnzimmer lief die Heizung auf Hochtouren. Das und die heiße Luft, die die versammelten Gäste abgaben, fraß wahrscheinlich ein riesiges Loch in die Ozonschicht. Es waren ein paar Edgleys anwesend, doch die Mehrzahl der Gäste waren Mullans aus Beryls Familie. Die redeten viel und sie redeten laut und Walküre schätzte, dass die Hälfte der Erwachsenen bereits auf dem besten Weg zur Volltrunkenheit war.
Sie steuerte auf eine Lücke in der Menge neben dem Weihnachtsbaum zu, der mit verschiedenfarbigen Lichtern und bündelweise Lametta grell geschmückt war. Es war kein besonders großer Baum und besonders schön war er auch nicht. Er war schief und hatte nicht die ideale Weihnachtsbaumform, die ihr Vater immer noch fand, egal wie spät er sich auf die Suche machte.
Carol und Crystal drängelten sich durch die versammelte Verwandtschaft und stolperten praktisch in sie hinein.
„Oh“, sagte Carol.
„Ah“, sagte Crystal.
Super. „Fröhliche Weihnachten“, sagte Walküre.
Sie antworteten mit genauso viel Begeisterung wie Walküre. Die Zwillinge hatten sich sehr verändert, seit Walküre sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie waren inzwischen fast neunzehn und Carol hatte zugenommen. Sie sah aus, als sei sie wärmegedämmt worden. Ihr Kleid war so geschnitten, dass es möglichst viel von dem zusätzlichen Gewicht fasste und vorn zusammenschob. Das Ergebnis entsprach wahrscheinlich nicht ganz dem, was sie beabsichtigt hatte.
Ihre Zwillingsschwester hatte sich genau in die andere Richtung entwickelt. Wie Walküres Mutter berichtete, zählte Crystal fanatisch Kalorien, stürzte sich von einer Diät in die nächste und wurde immer magerer und magerer. Sie stand kurz davor, auch die letzten weiblichen Rundungen zu verlieren und flach wie ein Brett zu werden. Carol war immer noch wasserstoffblond, während Crystal die Haare rot gefärbt hatte. Keine von beiden sah gesund aus.
„Ihr seht gut aus“, log Walküre.
Carol nickte, Crystal grunzte und Walküre machte sich darauf gefasst, dass ihr gleich sarkastische Bemerkungen um die Ohren flogen.
Stattdessen seufzte Carol und fragte: „Hast du was Schönes bekommen?“
„Hm … hauptsächlich Klamotten. Und ihr?“
„Dasselbe. Und Geld.“
„Dad hat versprochen, dass er uns einen Wagen kauft“, fügte Crystal hinzu. „Wenn es mit der Wirtschaft wieder aufwärtsgeht.“
„Super“, erwiderte Walküre. „Könnt ihr fahren?“
„Du meinst, jetzt schon? Nein. Aber wenn wir den Wagen haben, haben wir auch einen Grund, den Führerschein zu machen.“
„Klingt logisch. Was macht das College?“
„Langweilig“, fand Crystal.
„Ganz okay“, fand Carol.
Walküre nickte. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie hätte sagen können. So lange hatten sie bisher noch nie miteinander gesprochen, ohne beleidigend zu werden. Und dann sah sie es, sah die Blicke, die die anderen Cousins und Cousinen den beiden zuwarfen. Sie sah, wie direkt hinter ihrem Rücken süffisant gelächelt und hämisch gegrinst wurde. Die Zwillinge bemühten sich nach Kräften, all das zu ignorieren, und konzentrierten sich auf die eine Person, die sich nicht über sie lustig machte.
Walküre empfand ganz plötzlich und höchst überraschend das Bedürfnis, sie zu beschützen. Sie klemmte sich ein strahlendes Lächeln aufs Gesicht und zwang sich zu einer Unterhaltung. Sie lachte und machte Witze und tat im Wesentlichen so, als seien Carol und Crystal die interessantesten Menschen auf dem Globus.
Es war eine echte Show.
Als es Zeit war zu gehen, verabschiedete sie sich mit einer Umarmung von den Zwillingen und versprach, bald wieder mal vorbeizukommen. Dann ließ sie sich von ihren Eltern aus dem Haus ziehen. Die beiden sahen sie fassungslos an, als sie zum Wagen gingen.
Walküre seufzte. „Fragt nicht.“
Sie kamen nach Hause und Walküre half ihrer Mutter mit dem Truthahn, dem Schinken und den Bratkartoffeln, während ihr Dad das Feuer im Kamin anzündete. Sie setzten sich zum Weihnachtsessen an den Tisch, öffneten Knallbonbons und lasen die bescheuerten Witze vor, die auf den Zetteln standen. Walküre war nach dem Essen so satt, dass sie nichts mehr vom Weihnachtskuchen haben wollte. Ihr Handy klingelte und sie ging in die Küche, um das Gespräch dort entgegenzunehmen.
„Ist dort Walküre?“
Es war eine Frauenstimme, sie klang weit entfernt und es knackte in der Leitung.
„Ja“, antwortete Walküre. „Mit wem spreche ich?“
„Nye wartet auf dich.“
Es war die Todesfee. Walküre runzelte die Stirn. „Was, heute?“
„Ja. Heute. Jetzt.“
„Aber es ist Weihnachten.“
„Doktor Nye hat seinen Terminplan für dich umgestellt. Es sei denn, du hast dich –“
„Nein“, unterbrach Walküre rasch. „Nein, ist schon okay. Ich kann es einrichten. Wohin soll ich kommen?“
„Du wirst abgeholt“, erklärte die Banshee.
„Wo?“
„Wo immer du bist. Du hast genau zehn Minuten Zeit.“
Die Banshee legte auf. Walküre war übel. Eine etwas zeitigere Vorwarnung wäre ganz nett gewesen. Schlimm genug, dass sie ihre Eltern am Weihnachtsabend alleinlassen musste, aber musste es jetzt auch der Tag sein, an dem sie starb? Okay, sie war nicht für immer tot. Zumindest hoffte sie das. Und dann war sie plötzlich froh, dass alles so schnell ging. Hätte sie Zeit, in Gedanken alle Eventualitäten durchzuspielen, würde sie es vielleicht nicht durchziehen.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Ihre Eltern saßen am Kamin und unterhielten sich. Falls etwas schiefging, falls Nye sie umbrachte, war dies das letzte Mal, dass sie sich sahen. Sie nahm zuerst ihren Dad in den Arm, dann ihre Mum.
„Danke für ein super Weihnachten“, sagte sie.
„Oh bitte, bitte, Liebes“, erwiderte ihre Mum.
„Ich lege mich ein bisschen hin. Ich glaube, ich habe zu viel gegessen.“
Ihr Dad zwinkerte ihr zu. „Sieht so aus, als sei diese Mitgliedschaft im Sportverein eine gute Idee gewesen, wie?“
Sie lächelte und verließ das Wohnzimmer. Sobald sie draußen war, erlosch ihr Lächeln. Sie hatte reichlich Übung darin, den Teil von sich abzuschotten, der traurig war wegen solcher Dinge. Inzwischen geschah das schon ganz von selbst. Sie spürte, wie die Mauer fester wurde, und unternahm nichts dagegen. Stattdessen lief sie hinauf in ihr Zimmer und rief Skulduggery an.
„Ich kann nicht zu unserem Treffpunkt kommen.“
„Oh, das ist aber schade.“
„Ja. Irgendein Familiending, zu dem wir alle gehen. Hoffentlich machen sie das jetzt nicht jedes Jahr, aber ich konnte nicht Nein sagen.“
„Natürlich nicht. Vielleicht komme ich dann später noch vorbei.“
„Ich hab keine Ahnung, wann wir wieder zurück sind“, log Walküre und fühlte sich schon wieder total mies. „Was hältst du davon, wenn ich dich anrufe, falls wir noch zu einer vernünftigen Zeit nach Hause kommen?“
„Okay, so machen wir es. Hattest du bis jetzt einen schönen Tag?“
Sie schluckte. „Ja, doch. Alles bestens.“
„Selbst mit deinen Cousinen?“
„Überraschenderweise ja. Aber ich muss jetzt wirklich los.“
„Okay. Dann fröhliche Weihnachten.“
„Skulduggery?“
„Ja?“
Walküre zögerte; ihr lag so vieles auf der Zunge. „Ich bin wirklich froh, dass wir Freunde sind“, kam schließlich heraus.
„Ich auch, Walküre.“
„Tschüs.“
Sie rief Fletcher an und teilte ihm mit, dass sie sich nicht sehen konnten. Er wollte wissen, warum er nicht einfach kurz vorbeischauen, ihr ein Geschenk geben und wieder verschwinden könnte. Sie sagte ihm nicht, dass sie ihn nicht sehen wollte. Am Telefon konnte sie, was das betraf, lügen – wenn sie ihm gegenüberstand, nicht.
„Na gut.“ Er klang beleidigt. „Dann komme ich eben nicht.“
„Aber morgen“, sagte sie. „Da will ich mit dir ausgehen.“
„Du willst was?“
„Ausgehen. Ich denke, wir sollten ausgehen.“
„Wohin ausgehen?“
„Ich möchte tanzen gehen.“
„Im Ernst?“, fragte er skeptisch.
„Es gibt einen Nachtclub in Skerries, der macht jedes Jahr an Weihnachten so ein Disco-Ding für unter Achtzehnjährige. Ich möchte einfach Spaß haben mit dir. Wir kommen nie dazu, ganz normale Sachen zu machen, und wir leben schließlich nicht ewig. Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir das normale Zeug jetzt in unserem Leben unterbringen, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben.“
„Geht es dir gut, Wallie? Du klingst ziemlich … krank.“
„Gehst du mit mir tanzen oder nicht?“
Er stieß einen übertriebenen Seufzer aus. „Meinetwegen.“
„Obwohl …“
„Ja?“
„Morgen solltest du vielleicht meine Eltern kennenlernen.“
Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war Fletcher Renn sprachlos.
Walküre legte das Handy weg, zog sich aus und berührte den Spiegel. Ihr Spiegelbild trat heraus, begann die Kleider anzuziehen, die Walküre gerade abgelegt hatte, während diese ihr schwarzes Outfit überstreifte.
„Du wirst sterben“, bemerkte das Spiegelbild.
„Ich weiß“, erwiderte Walküre ärgerlich.
„Womöglich kommst du nie mehr zurück.“
„Du weißt, was du zu tun hast, wenn dieser Fall eintritt.“
Das Spiegelbild nickte. „Dein Leben leben. Eine gute Tochter sein. Dafür sorgen, dass unsere Eltern glücklich sind.“
Walküre sah hoch. „Was hast du gesagt?“
„Bitte?“
„Du hast gesagt: ‚… dafür sorgen, dass unsere Eltern glücklich sind‘.“
„Ich habe gesagt, dafür sorgen, dass deine Eltern glücklich sind.“
„Du hast unsere gesagt.“
„Oh. Da muss sich wieder ein Fehler eingeschlichen haben. Wie du weißt, bin ich nicht dafür ausgelegt, so stark beansprucht zu werden. Hast du noch irgendwelche Anweisungen für mich?“
Walküre sah das Spiegelbild an. Es wäre ein absolut perfektes Ebenbild gewesen – wenn Walküre nicht Zweifel gehegt hätte, dass ihr eigenes Gesicht jemals so unschuldig ausgesehen hatte. Sie zog ihre Jacke an, trat ans Fenster und öffnete es. „Bleib einfach nur noch eine halbe Stunde hier oben.“
„Okay. Fröhliche Weihnachten.“
Walküre stieg aus dem Fenster und ließ sich fallen. Sie landete sanft und entfernte sich rasch vom Haus.
Sie ging zum Pier hinunter und schaute auf dem Handy nach, wie spät es war. Dann blickte sie sich um, ob sie denjenigen sah, der sie abholen würde – wer immer es auch sein mochte.
Es war Walküre nicht recht, dass die Banshee offenbar wusste, wo sie wohnte. Haggard war ihr sicherer Hafen, ihre Zuflucht, und die wenigen Male, als ihr anderes Leben bis dorthin vorgedrungen war, beunruhigten sie mehr als alles andere. Dusk hatte einmal eine kleine Armee Infizierter hierher geführt – genau an dieser Stelle war es Walküre endlich gelungen, sie abzuhängen. Remus Crux war zweimal in Haggard gewesen – das erste Mal, um sie festzunehmen, das zweite Mal, als er sie umbringen wollte. Ein solches Eindringen in ihre Privatsphäre war in ihren Augen unverzeihlich.
Sie hörte Hufgetrappel, drehte sich um und sah die große schwarze Kutsche vor ihr aus dem Nichts auftauchen.
„Mist“, fluchte sie.
Die kopflosen Pferde wurden langsamer und wendeten. Der Kutscher, der Dullahan, zog ein letztes Mal an den Zügeln und die Pferde blieben stehen. Ihre Körper waren elegant und muskulös und wunderschön. Sie waren riesig – ihre Rücken waren auf einer Höhe mit Walküres Augen – und sie dampften in der kalten Luft. Ihre Köpfe waren auf halber Höhe des Halses abgetrennt worden und jetzt, da sie so nah bei ihnen stand, sah Walküre, dass kein glatter Schnitt gemacht worden war. Sie sah Kerben und Risse und mehrere neue Ansätze, der Beweis dafür, dass nicht gleichmäßig gesägt worden war. Die Wunden waren nicht verheilt, aber sie bluteten auch nicht.
Der Dullahan kletterte nicht vom Bock. Nichts wies darauf hin, dass er überhaupt wusste, dass sie da war. Konnte er sie sehen? Konnten Leute ohne Kopf etwas sehen?
Und dann ging die Kutschtür auf und aus der Dunkelheit dahinter schwebte ein bleicher Arm. Die Hand daran winkte sie herüber, wobei die Finger sich langsam krümmten.
Walküre trat auf unsicheren Beinen einen Schritt vor und ergriff sie.