DAS TOTE MÄDCHEN
Nye war ins Bett gegangen. Walküre kümmerte es nicht. Sie wartete im Dunkeln und ihr Herz lag neben ihr.
Walküre löste den Blick von der Decke. Die Hauptbeleuchtung war ausgeschaltet und sie konnte nur bestimmte Teile des Raumes sehen. Von den Leichen an den Wänden ringsum waren lediglich verschwommene Formen zu erkennen. Walküres Blick erfasste ihre Umrisse, erfasste die Geometrie des Raumes, die Tische und Wagen. Dann schloss sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, stand Skulduggery über sie gebeugt.
„Ich bin gekommen, um dich zu retten“, verkündete er. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Selbst sein Hemd war schwarz. „Kannst du mich verstehen?“
Walküre nickte. Hoffnung keimte in ihr auf.
„Gut. Weißt du noch, wie du mich vor den Gesichtslosen gerettet hast? Du bist hereingekommen und hast mich hinausgeschleift. Ich revanchiere mich jetzt dafür, denn so gehört sich das unter Partnern.“
Sie wartete darauf, dass er endlich anfing, die Gurte zu lösen, die sie an den Tisch fesselten, doch stattdessen neigte er den Kopf zur Seite. „Warum bist du gleich noch mal hier? Das ist ein ausgesprochen merkwürdiger Ort.“
Sie hatten keine Zeit für so etwas. Bestimmt kam Nye bald zurück.
„Sollst du hier operiert werden?“, fragte Skulduggery. „Warum musst du operiert werden? Was fehlt dir denn? Warum hat man dich so aufgeschnitten? Warum liegt dein Herz da drüben?“
„Bitte …“, flüsterte sie.
„Bitte? Bitte was? Bitte hilf mir? Warum sollte ich dir helfen? Du bringst mich doch nur um.“
Walküre schüttelte den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht. „Nein …“
„Doch. Doch, du bringst mich um, Walküre. Du bringst alle um. Warum sollte ich dir helfen? Kann mir einer von euch einen Grund dafür nennen?“
Auf der anderen Seite des Bettes standen ihre Eltern. Sie wusste nicht, wie sie hierhergekommen waren.
„Meine Stephanie würde niemanden umbringen“, sagte ihre Mum zu Skulduggery.
„Meine Stephanie schon“, entgegnete ihr Dad traurig.
Walküres Mund war ganz trocken. „Ich sorge dafür, dass das nicht passiert.“
„Können wir das Risiko eingehen?“, fragte ihre Mum. Sie tätschelte ihren Bauch, der enorm rund war. „Es ist wieder ein Kind unterwegs. Ein besseres Kind. Besser als du. Wir können nicht riskieren, dass du ihm etwas antust.“
„Ich glaube, wir sollten sie erschießen“, hörte Walküre ihre eigene Stimme sagen. Ihr Spiegelbild stand neben Skulduggery. Es trug die Kleider, die Grässlich für Walküre genäht hatte, aber sie waren pink. „Wozu brauchen wir sie? Ich kann ihre Stelle einnehmen.“
Das war so daneben! Das passierte nicht wirklich. Das ergab keinen Sinn.
„Aber du kannst nicht zaubern“, wandte ihr Dad ein.
„Ich glaube, das ist ganz gut so“, befand ihr Spiegelbild. „Walküre kann zaubern und sie wird die ganze Welt vernichten, wenn Skulduggery sie nicht erschießt.“
„Wer ist Walküre?“, fragte ihr Dad.
„Stephanie“, antwortete ihr Spiegelbild.
„Oh“, machte ihr Dad.
„Sie hat recht“, meinte Skulduggery und zog seine Pistole. „Ich werde dich erschießen müssen, Walküre.“
„… passiert nicht wirklich“, murmelte Walküre.
„Bitte?“
Walküre konzentrierte sich auf einen Fleck an der Decke über ihr. Je länger sie darauf starrte, desto mehr verschwammen die Gestalten um sie herum. Ihre Eltern verblassten. Dann verschwand langsam auch das Spiegelbild. Nur Skulduggery war noch da.
Das spielte sich alles nur in ihrem Kopf ab.
Skulduggery nickte. „Du hast recht.“
Sie ignorierte ihn und die Pistole, die er in der Hand hielt.
„Du kannst mich nicht ewig ignorieren“, stellte er klar. „Und ich werde dich nicht erschießen. Imaginäre Kugeln zeigen erstaunlich wenig Wirkung bei … eigentlich bei allem. Ich werde dich nicht hier rausholen. Niemand wird kommen und dich retten. Du hast dich selbst in diesen Schlamassel hineinmanövriert, es liegt jetzt an dir, dich wieder hinauszumanövrieren.“
Skulduggery steckte die Waffe ins Halfter und verblasste. Walküre war wieder allein.
Nein.
Sie hielt daran fest. An dieser Hoffnung, die sie kurze Zeit durchströmt hatte. Sie fing sie ein, bevor sie davonhuschte und ihr Bewusstsein in diesen benommenen Zustand des Nichtseins zurückfiel. Wie lange hatte sie so dagelegen, ohne dass ihr ein Gedanke durch den Kopf gegangen war? Selbst jetzt noch empfand sie es als ungeheuer anstrengend, sich auch nur einigermaßen auf etwas zu konzentrieren. Sie musste ihre Fesseln lösen. Sie musste hier weg.
Ihr Körper war gefühllos. Sie spürte nicht die Luft um sich herum und nicht, wie die Flächen miteinander verbunden waren. Sie schnippte mit den Fingern und spürte den Funken nicht – konnte sich nicht genügend konzentrieren, um ihn auflodern zu lassen. Der Totenbeschwörerring steckte in ihrer Jacke und die lag in dem Berg von Kleidern auf dem Tisch drüben. Magie würde sie nicht retten. Nicht hier.
Nye hatte sein gezacktes Brotmesser neben ihrem Knie liegen lassen, zu weit unten, als dass sie es hätte erreichen können. Der Wagen dagegen stand immer noch neben ihrer Hand und darauf lagen sämtliche Instrumente, die gebraucht worden waren, um sie aufzuschneiden und in ihr herumzupulen.
Sie zog an dem Gurt, mit dem ihre linke Hand festgezurrt war, und ihre Finger streckten sich nach der Spitze des Skalpells. Es bewegte sich und sie tippte es noch einmal an und plötzlich war es in Reichweite. Sie fasste es mit zwei Fingern und zog es langsam vom Wagen. Doch ihre tauben Finger hatten nicht genügend Kraft und das Skalpell fiel auf den Boden.
Zorn blitzte in ihrem Bewusstsein auf und sie hielt ihn fest, weigerte sich, ihn loszulassen und der Apathie erneut Tür und Tor zu öffnen.
Sie griff nach dem Wagen selbst und rüttelte, so fest es ging, daran, damit vielleicht ein anderes Messer näher zu ihr her rutschte. Doch die Instrumente klapperten nur und kullerten immer weiter weg. Sie hatte die Kante des fahrbaren Tisches jetzt fest im Griff und zog daran, in der Hoffnung, ihn umkippen zu können. Der Wagen neigte sich einen Augenblick lang zur Seite, dann entglitt er ihr, fiel auf seine vier Räder zurück und stieß gegen die Stehlampe, die Nye benutzt hatte, um besseres Licht von oben zu haben. Die Lampe schwankte, fiel gegen den OP-Tisch und rutschte auf ihrem Weg zum Boden daran entlang. Walküre griff schnell danach. Die Lampe krachte auf den Boden und Walküre blickte an sich hinunter und sah, dass sie das Kabel in der Hand hielt.
Sie hatte etwas. Jetzt musste sie klar genug denken, um herauszufinden, ob sie es zu irgendetwas gebrauchen konnte.
Sie zog an dem Kabel, ließ ihre Finger dann vorsichtig daran zurückwandern und zog erneut. Diesen Vorgang wiederholte sie so lange, bis sich eine Kabelschlaufe über ihren Bauch gelegt hatte. Die Schlaufe reichte bis zu ihrer rechten Hand und ihre Bewegungen wurden sicherer. Sie zog weiter an dem Kabel, bis es sich spannte. Dann riss sie fester daran.
Sie hörte, wie der Stecker aus der Steckdose gerissen wurde, und zog ihn über den Boden. Zweimal verfing er sich irgendwo, wahrscheinlich an Tischbeinen, doch Walküre gelang es jedes Mal, ihn wieder zu lösen und näher heranzuziehen. Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, wie viele Sekunden oder Minuten – sie konzentrierte sich ganz aufs Ziehen. Und dann lag der Stecker in ihrer Hand. Sie ließ ihn los, ließ ihn an einem langen Stück Kabel seitlich am Tisch hinunterfallen. Und begann mit der Hand aus dem Handgelenk heraus Kreise zu beschreiben.
Der Stecker schwang in weitem Bogen herum. Bevor sie das Kabel losließ, vergewisserte sie sich, dass die Schlaufe um ihre andere Hand gewickelt war. Dann ließ sie los und der Stecker flog durch die Luft und traf ihr Bein. Sie zog ihn zurück. Er stieß an das Brotmesser und fiel dann von der Tischkante.
Walküre holte ihn wieder zurück in ihre Hand, schwang ihn erneut und ließ ein zweites Mal los. Der Stecker landete hinter dem Brotmesser, und als sie am Kabel zog, bewegte sich das Messer ein Stück weit zu ihr her, bevor der Stecker darüber hinwegglitt.
Der dritte Versuch ging total daneben.
Beim vierten Mal rutschte das Messer wieder näher zu ihr heran.
Sie brauchte acht Anläufe, bis das Messer in ihrer Hand lag. Dann hielt sie den Griff so, dass die Klinge auf die Gurte um ihr Handgelenk drückte, und begann zu sägen. Zuerst verhakten sich die Zacken in dem Gurt und jede Bewegung wurde zu einem unkoordinierten Rupfen. Doch schließlich fand das Messer Halt und Walküre ihren Rhythmus, um das Gurtband durchzusägen.
Ihr Blick wanderte derweil von den Wänden zur Decke und blieb wie hypnotisiert an einer trüben Glühbirne am anderen Ende des Raums hängen. In dem Dämmerlicht war sie so hell wie die Sonne.
Sie betrachtete die Glühbirne.
Die Glühbirne flackerte und Walküre runzelte die Stirn. Sie wusste nicht, wie lange sie das Ding schon anstarrte. Sie riss sich davon los und sah hinunter auf ihre Hand. Das Brotmesser lag immer noch darin, aber sie hatte aufgehört zu sägen.
Sie stieß ein wütendes Fauchen aus und die Wut loderte auf und siegte über die Benommenheit. Sie konzentrierte sich wieder auf das Messer und den Gurt. Nichts sonst war von Bedeutung. Es gab nichts anderes auf der Welt, nur dieses Messer und diesen Gurt.
Und dann hatte das Messer den Gurt durchtrennt und ihre Hand war frei.
Walküre ließ das Brotmesser fallen und löste den Gurt an ihrer rechten Hand. Als beide Hände frei waren, hievte sie sich in eine sitzende Position, beugte sich vor und löste die Fesseln um ihre Fußknöchel. Und dann war sie wirklich frei.
Mit langsamen Bewegungen schwang sie die Beine über die Tischkante und stand auf. Nicht weit weg stand ein Tisch, auf dem stapelweise Verbandszeug lag. Sie nahm eine Binde und wickelte sie mehrfach um ihren Oberkörper. Dann ging sie mit unsicheren Schritten zu ihrem Häufchen Kleider. Langsam zog sie sich an, empfand jedoch weder Trost noch Erleichterung dabei. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, hatte aber keinen Empfang.
Walküre ging zur nächstbesten Tür, öffnete sie und trat hinaus auf den Flur. Hier war sie nicht hereingekommen, aber sie ging trotzdem weiter. Sie wollte nur raus. Wie, war ihr egal.
Sie kam an einem Raum vorbei, in dem an rostigen Nägeln sämtliche Sorten Schneidewerkzeuge hingen, die je geschmiedet worden waren, und an einem anderen, der nichts weiter enthielt als Köpfe in Glasgefäßen. Die Köpfe starrten sie an, als sie vorbeiging. Ein dritter Raum war leer, die Wände blutbespritzt.
Sie kam in eine große Halle, ging zu der Tür auf der gegenüberliegenden Seite und blieb stehen. Ihr Herz. Sie hatte ihr Herz vergessen und sämtliche anderen Teile, die Nye aus ihr herausgeholt hatte. Walküre drehte sich um, als ihr Blick etwas streifte. Sie schaute auf und entdeckte Nye in einer Hängematte hoch über ihr. Er schlief; Arme und Beine baumelten über den Rand. Sie betrachtete die ganzen Flaschenzüge und Seile und Hebel, überlegte aber nicht, wie sie funktionierten und was Nye jeden Abend auf sich nahm, um sich nach oben zu hieven. Sie hörte den Chirurgen schnarchen.
Leise ging sie den Weg, den sie gekommen war, wieder zurück, vorbei an den Räumen mit dem Blut, den Köpfen und den Messern, und betrat noch einmal den Operationssaal. Sie nahm ihr Herz und ihr Brustbein und steckte beides in eine Tüte, die sie in einer Ecke fand. Dann verließ sie den Raum durch die andere Tür.
Sie kam in die Lagerhalle, wo sie aus der Kutsche gestiegen war. Die Toten standen herum und schauten sie kaum an, als sie zwischen ihnen durchging.
„Wo willst du hin?“
Walküre drehte sich um, als Nye durch die Tür kam.
„Glaubst du etwa, du kannst entkommen?“, fragte der Zwitter, während er näher kam. Er trug immer noch den OP-Kittel, aber keine Chirurgenmaske und keine Haube. Dicke Venen pulsierten unter der bleichen Haut an seinen Schläfen. „Du kannst nicht fliehen, du dummes Ding. Du bist tot. Hier drinnen kannst du existieren, ohne dir irgendwelche Gedanken machen zu müssen, genau wie in der Kutsche des Dullahan. Du bist eines der toten Dinge hier. Aber außerhalb dieser Mauern ist das Leben. Setze einen Fuß nach draußen und du brichst zusammen. Blut spritzt und dein Körper knickt ein. Du liebe Güte, du trägst dein Herz in einer Mülltüte mit dir herum! Wie hast du dir denn das vorgestellt?“
„Lass mich gehen“, verlangte Walküre mit schwerer Zunge.
„Nein. Leg dich wieder auf den Tisch. Ich bin noch nicht fertig mit dir.“
„Dann flick mich wieder zusammen.“
Nyes kaputter Mund verzog sich zu einem überraschten Lächeln. „Wie bitte? Was hast du gesagt? Erteilst du mir etwa Befehle? Habe ich das richtig verstanden?“
Walküre nickte.
„Du erteilst mir keine Befehle!“, kreischte der Zwitter und stand vor ihr, noch bevor sie überhaupt gemerkt hatte, dass er sich bewegt hatte. Dann schlug er ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Schlag traf sie so hart, dass sie schwankte, aber sie spürte keinen Schmerz.
„Ich habe hier das Sagen“, brüllte Nye und versetzte ihr einen Fußtritt. Walküre kullerte über den Boden und die Tüte wurde ihr aus der Hand gerissen.
„Wir werden ja sehen, wie viele Befehle du noch erteilst, wenn dein Herz erst verbrannt wurde!“, stieß der Chirurg hervor, drehte sich um und marschierte in Richtung Tür.
Walküre stemmte sich hoch und streckte die Hand aus, doch die Elementemagie stand ihr immer noch nicht zur Verfügung. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie fuhr mit der Hand in ihre Jackentasche und streifte den Ring über ihren Finger.
Sofort ringelten sich Schatten um sie herum und eine gewaltige dunkle Welle erfasste Nye und riss ihn von den Beinen. Der Chirurg quiekte vor Angst. Walküre dirigierte die Welle mit Wucht auf den Boden. Nye krachte herunter und sein Körper federte noch etwas nach.
Walküre wollte zu ihm gehen, doch wie ein übereifriger Diener hoben die Schatten sie hoch und setzten sie neben Nye wieder ab. Der rappelte sich auf und versuchte wegzurennen. Die vage Absicht, ihn aufzuhalten, formte sich in ihrem Kopf und schon wickelten sich die Schatten um Nyes rechtes Bein, um sein überlanges rechtes Bein, und drückten zu.
Nye schrie auf, sein Bein brach an einem Dutzend verschiedener Stellen und er stürzte erneut zu Boden.
„Bitte!“, kreischte er. „Du weißt nicht, was du tust!“
Die Schatten spielten mit Walküres Haar.
„Das ist Totenbeschwörung!“, brüllte Nye. „Aber du bist tot! Das ist Todesmagie, ausgeführt von einer Toten – du weißt nicht, was du da tust! Du hast keine Kontrolle darüber – du bist nicht stark genug! Bitte bring mich nicht um!“
„Flick mich wieder zusammen“, befahl Walküre.
„Ja, ja!“ Nye liefen Tränen übers Gesicht. „Aber mein Bein ist gebrochen. Lass es mich zuerst richten und danach –“
„Flick mich auf der Stelle zusammen“, verlangte Walküre vollkommen emotionslos, „oder ich erlaube den Schatten, dich umzubringen.“
Nye nickte rasch. „Ja, selbstverständlich. Sofort. Leg dich wieder auf den Tisch und –“
„Keine Gurte“, bestimmte Walküre. „Nichts, was mich fesselt. Entweder du machst das jetzt oder du stirbst.“