ERDE
Die Vergiftung zu überleben war nicht das Schwierigste. Tesseract war schon öfter vergiftet worden und hatte es überlebt. Die Flüssigkeit, die seine Maske in seine Haut injizierte, war so beschaffen, dass sie sein Immunsystem und seine natürlichen wie übernatürlichen Abwehrkräfte stärkte – hauptsächlich gegen die Verwesungskrankheit, die wie ein Fluch auf ihm lag. Eine positive Nebenwirkung der Flüssigkeit war, dass sie auch sämtliche anderen Krankheiten, Gebrechen und Vergiftungen, die während seiner Reisen so auftraten, heilte. Deshalb hatte die Vergiftung ihn lediglich ein paar Minuten lang beunruhigt.
Die Tatsache, dass er lebendig begraben war, stellte dagegen schon eher einen Grund zur Besorgnis dar.
Er hatte sich ein kleines Luftnest geschaffen, das ihm etwas mehr Zeit gab, mit der Vergiftung fertigzuwerden. Als das Gefühl in seine Glieder zurückkehrte, versuchte er sich aufzurichten, doch das Gewicht der Erde war einfach zu groß. Das Loch war maximal eineinhalb Meter tief. Er bräuchte also nur aufzustehen und schon wäre er draußen.
Aufzustehen war jedoch nicht so einfach, wie es einmal gewesen war.
Seine Finger kratzten an der Erde und gruben sich langsam nach oben. Er war schon ein gutes Stück weit gekommen, als er merkte, dass es ihm lediglich gelungen war, sich in eine noch unbequemere Lage zu manövrieren.
Er drückte den Hintern nach oben, kämpfte gegen das Gewicht der Erde und bewegte die Beine. Lose Erde wurde aus dem Weg geräumt, als er sein rechtes Knie langsam verschob. Das linke ebenfalls zu bewegen war schwieriger, aber er schaffte es. Jetzt waren beide Knie unter seinem Körper, doch das Gesicht lag immer noch an den Boden des Grabes gedrückt und seine Arme befanden sich irgendwo über ihm. Er vermutete, dass die Archäologen, falls er hier unten starb und nach Hunderten von Jahren wieder ausgebuddelt wurde, über der Frage rätseln würden, was genau er zum Zeitpunkt seines lächerlichen Todes gemacht hatte.
Tesseract holte tief Luft, sog den letzten Rest Sauerstoff ein und hob den Kopf. Seine Beine brannten, seine Rückenmuskulatur sandte Schmerzensschreie aus und er hatte das Gefühl, als würden gleich sämtliche Sehnen in seinem Nacken reißen. Er drückte nach oben, zwang seinen Körper, sich aufzurichten, während seine Hände sich durch die eisige Erde gruben. Plötzlich spürten die Finger seiner linken Hand keinen Widerstand mehr. Er zog sich hoch, auch seine rechte Hand durchstieß den Boden und dann spürte er Luft an seinem Schädel und mit einem Mal war sein Kopf frei.
Keuchend sog er die Luft durch seine Maske ein und blinzelte Erde aus seinen Augen. Noch konnte er nicht klar sehen, doch er glaubte, allein zu sein. So wie das Schicksal ihm in letzter Zeit mitgespielt hatte, hätte es ihn allerdings nicht gewundert, wenn Ceryen und Graft noch immer herumgestanden und sich gestritten hätten.
Es kostete ihn noch ein wenig Anstrengung, aus dem Grab zu klettern, dann streckte Tesseract sich auf dem nassen Gras aus und blickte hinauf in einen Himmel, der so grau war, dass er aus Schiefer hätte sein können. Aber Tesseract war einfach nur dankbar, in irgendeinen Himmel blicken zu können, gleichgültig welcher Art. Schiefergrau, befand er, war eine besonders reizvolle Schattierung von Grau.
Er stand auf. Unter seinem Hemd und in seinen Hosenbeinen war kalter Lehm, er klebte an seinem Rücken und hinter seiner Maske. Er klopfte sich ab, schüttelte heraus, was sich lösen ließ, doch es ließ sich nicht leugnen, dass es sich immer noch anfühlte, als sei er gerade aus seinem eigenen Grab geklettert.
Er schaute den Hügel hinunter auf die Stadt, den See und das Sanktuarium. Er nahm es nicht persönlich. Er war schließlich Auftragskiller. Nach allem, was er getan hatte, wäre es wohl ziemlich scheinheilig gewesen, einen Mordversuch persönlich zu nehmen. Aber das war kein Grund, sie am Leben zu lassen.
Laut seiner Akte wohnte Graft direkt an der Hauptstraße von Roarhaven. Tesseract fand ihn in einem kleinen Haus, wo er gerade aus der Dusche kam, und tötete ihn, während er um sein Leben bettelte.
Ceryen war direkt der Qual unterstellt, weshalb sie wahrscheinlich ins Sanktuarium zurückgegangen war. Tesseract gelangte ungesehen in das Gebäude. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, es für den baldigen Arbeitsbeginn herzurichten, sodass niemand auf die Idee kam, den Eingang zu bewachen. Nachdem er eine Viertelstunde lang herumgeschlichen war, hörte er die Stimme der Qual und folgte ihr durch die langen Flure.
Er lugte um eine Ecke, sah die Qual und drei weitere Kinder der Spinne – Madam Misty, eine junge Frau namens Portia und einen jungen Mann namens Syc. Ceryen ging in respektvollem Abstand hinter ihnen her. Die Spinnen-Leute unterhielten sich.
Portia hatte Tesseract schon getroffen, doch Misty kannte er nur vom Hörensagen und von Syc hatte er lediglich eine verschwommene Fotografie gesehen. Dass er nicht viel über die drei wusste, machte ihn unsicher.
Die Qual führte die Kinder der Spinne durch eine schwere Flügeltür und gab Ceryen durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie gehen könne. Sie verbeugte sich, wartete, bis die Flügeltür sich geschlossen hatte, und kam dann auf Tesseract zu. Er versteckte sich, ließ sie vorbeigehen und folgte ihr dann. Als die anderen sie nicht mehr hören konnten, machte er sich bemerkbar, indem er sich bückte und ihr Bein antippte. Sie schrie auf, als sich ihr Unterschenkel nach oben bog und sie zu Boden sank.
„Hallo, Ceryen“, grüßte Tesseract und ging um sie herum, damit sie ihn sehen konnte.
„Mein Bein!“, schrie sie. Er war nie dahintergekommen, weshalb manche Leute die Teile von ihnen, die gebrochen waren, gern mit Namen nannten. „Bitte bring mich nicht um!“ Er wusste, was als Nächstes kam. Jammervolle Geschichten und dann flehentliche Bitten, gespickt mit Logik und Vernunft. „Die Qual hat es befohlen! Ich habe nur Befehle ausgeführt! Bitte bring mich nicht um! Ich habe Familie!“
„Deshalb bringe ich dich trotzdem um.“
Sie schlug nach ihm, doch er bückte sich erneut und drückte ihr mit einer sanften Berührung den Kopf ein.
„Dich umzubringen ist gar nicht so einfach.“
Langsam drehte Tesseract sich um. Vor ihm standen die Qual und Madam Misty. Er hörte ein Geräusch hinter sich und brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Portia und Syc von dieser Seite kamen und er in der Falle saß.
„Du hättest nicht versuchen dürfen, mich übers Ohr zu hauen“, sagte Tesseract. „Ich wäre nach Hause gegangen und unsere Wege hätten sich nie mehr gekreuzt. Stattdessen stehen wir jetzt da, wo wir stehen. Ich kann dich nicht am Leben lassen, das verstehst du doch.“
„Du tust ja gerade so, als hättest du die Oberhand. Wir sind zu viert.“
„In der Unterzahl zu sein hat für mich nichts zu bedeuten. Ihr sterbt trotzdem einer nach dem anderen.“
Die Qual übergab sich. Schwärze klatschte auf den Boden und wurde zu Spinnen, groß wie Ratten. Tesseract kickte eine davon weg und zermalmte eine andere mit dem Fuß, doch dann wich er zurück, als Tausende kleinere Spinnen, winzige Spinnen wie eine Welle auf ihn zukamen. Sie flossen aus den Falten des langen Rockes von Madam Misty, huschten über ihren Körper, krochen unter ihre Kleider und kamen wieder zum Vorschein, wuselten ihren Nacken hinauf und verschwanden unter ihrem Schleier.
Er hörte, wie Klingen gezogen wurden, wirbelte herum und wich dem ersten Hieb aus, den Syc mit seinen beiden Dolchen führte. Er versuchte, ihn zu packen, doch Syc war schnell, schneller als alles, was Tesseract je gesehen hatte. Die Dolche blitzten wieder auf und Tesseract stolperte. Er trat auf einen Teppich aus Spinnen und sie knirschten unter seinen Füßen.
Eine der großen Spinnen kroch an seinem Bein herauf und krallte sich daran fest. Tesseract stieß ein hässliches Knurren aus und sah an sich hinunter. Syc war jung, unerfahren und fantasielos und er biss an. Als er angriff, packte Tesseract ihn und schleuderte ihn gegen die Wand. Syc hielt ihn auf Abstand, indem er sich übergab, so wie es die Qual getan hatte. Die Tintenschwärze ballte sich zusammen und es wurden Spinnen daraus, nicht ganz so groß wie die der Qual, aber nicht mehr weit davon entfernt. Tesseract wich erneut zurück. Zu viele verdammte Spinnen.
Jetzt griff Portia an. Genau wie Syc musste auch sie noch viel lernen, doch die Tatsache, dass sie noch nicht in der Lage war, sich vollständig in eine Spinne zu verwandeln, ließ sie noch furchterregender aussehen. Sie war auf ihre doppelte Größe angewachsen und trug einen schwarzen Panzer auf Brust und Rücken. Aus ihrem verlängerten Torso wuchsen vier zusätzliche Arme mit Klauen, doch am erschreckendsten war ihr Gesicht. Portias feine Züge waren verschwunden, dafür hatte sie jetzt ein klaffendes Loch anstelle eines Mundes und Fangzähne, aus denen Gift tropfte. Acht schwarze Augen verteilten sich ringsherum auf ihrem Kopf.
Tesseract wich ihrem Angriff aus. Unzählige Spinnen krochen auf ihm herum. Ihr Gift war bereits in seinem Blut und machte ihn schwerfällig. Er hätte abhauen sollen, als noch die Möglichkeit dazu bestand. Als er aufblickte, sah er, wie Syc mit einem Dolch auf seine Brust zielte.
Er blockte den Stoß ab und schloss die Finger um Sycs Handgelenk. Die Knochen brachen und Tesseract nahm den Dolch und drückte Syc einen Ellbogen ins Gesicht. Er versetzte ihm einen Tritt, der junge Mann ging zu Boden und landete auf Tausenden von Spinnen. Tesseract benutzte ihn als Sprungbrett, um Portia anzugreifen. Er klammerte sich an ihr fest, als sie versuchte, ihn abzuschütteln, und stieß dann den Dolch zwischen ihre Panzerplatten. Als sie sich schreiend aufbäumte, sprang er zurück auf den Boden.
Etwas schoss auf ihr Gesicht zu und blieb dort hängen. Etwas Schwarzes. Tesseract drehte sich um und sah Anton Shudder den Flur entlangkommen. Um ihn herum schwirrten Restanten.
Eines dieser grässlichen schwarzen Dinger kroch in Sycs Mund und der junge Mann würgte und hustete. Tesseract bekam kaum mit, dass die Qual und Misty bereits flohen; er wusste nur, dass es für ihn zu spät war, um abzuhauen. Deshalb ging er zum Angriff über, machte einen Satz auf Shudder zu und trat nach ihm, um ihn zurückzutreiben. Shudder lächelte und wollte ihn packen, doch Tesseract umfasste sein Handgelenk und brach ihm die Knochen.
Shudder zog vor Schmerz scharf die Luft ein und wich zurück. „Du hast mich beschädigt“, zischte er.
Dann schoss der Restant aus seinem Mund und hängte sich an Tesseracts Maske. Einen Moment lang sah Tesseract nichts mehr. Das schwarze Ding schlängelte sich durch die Augenlöcher und er spürte es kalt auf seiner Haut. Es glitt nach unten. Er sah, wie ein zweiter Restant sich an den bewusstlosen Shudder heftete, bevor er auf die Knie sank. Der Restant fand seinen Mund und Tesseract würgte, als er sich mit Gewalt hineinzwängte.