DAS SHENANIGANS
Das Shenanigans war gesteckt voll. Walküre und Fletcher gingen in den zweiten Stock hinauf, wo an einer Wand riesige Spiegel angebracht waren, vielleicht um den Tänzern vorzugaukeln, dass die Tanzfläche größer sei, als sie tatsächlich war. Die Spiegel lenkten ab. Fletcher schaute beim Tanzen ständig hinein und prüfte, ob seine Frisur noch saß. Walküre lachte ihn aber nicht aus wegen seiner Eitelkeit – sie schaute selbst ein paarmal in die Spiegel, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich so gut aussah, wie sie glaubte.
Zur Tanzfläche ging es zwei Stufen hinunter. Im Shenanigans wurde kein Alkohol ausgeschenkt, dennoch hatten bereits drei Leute die Stufen übersehen und waren der Länge nach hingeknallt. Walküre fand alles ungeheuer amüsant.
Sie tanzten und unterhielten sich laut, um die Musik zu übertönen, und dann ging Fletcher an die Bar und holte ihr eine Cola. Walküre stand allein am Rand der Tanzfläche, als ein Junge auf sie zukam. Er war in Fletchers Alter, hatte braunes Haar und ein nettes Lächeln.
„Hi“, grüßte er.
Walküre lächelte höflich zurück. „Hi.“
Er beugte sich zu ihr, damit sie ihn verstand. „Kann ich dir etwas zu trinken holen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Mein Freund bringt mir schon was.“
„Er ist dein Freund?“
Sie nickte.
„Glückspilz.“
Wieder lächelte sie.
„Ich heiße Owen. Und du?“
„Walküre.“
„Bitte?“
Sie blinzelte. „Stephanie“, verbesserte sie sich und wiederholte noch einmal laut: „Ich heiße Stephanie. Hi, Owen, wie geht’s?“
„Oh, mir geht’s gut. Ich beobachte dich schon den ganzen Abend.“
Walküre nickte wieder und beugte sich zu ihm hin. „Klingt ein bisschen gruselig.“
Er lachte. „Kann ich deine Handynummer haben?“
„Ich habe einen Freund, Owen.“
„Ich habe auch eine Freundin, Stephanie. Aber das heißt doch nicht, dass du mir deine Nummer nicht geben kannst.“
„Sehr richtig.“ Sie tätschelte seinen Arm. „Es heißt nur, dass ich sie dir nicht gebe.“
Damit schlüpfte Walküre an ihm vorbei und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie schob sich in die Menge, drängelte sich durch und steuerte dann direkt die Damentoilette an. Ausnahmsweise war mal keine Schlange davor, dennoch musste Walküre eine geschlagene Minute warten, bis eine Kabine frei wurde. Sie ging hinein und schloss die Tür hinter sich.
Die Musik war hier drin so gedämpft, dass sie das Geplauder der anderen Mädchen verstand. Als sie fertig war, ging sie zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen und ihr Make-up zu überprüfen. Kein einziger Fleck. Jedes Mal wenn sie auf der Tanzfläche das Gefühl gehabt hatte, sie könnte anfangen zu schwitzen, wehte über Walküre und die Paare um sie herum eine unerklärliche, aber willkommene kühle Brise. Gelegentlich war Magie etwas ungeheuer Praktisches.
Eine Gruppe Mädchen kam herein und Walküre wollte gehen, doch sie verstellten ihr den Weg.
„Das ist mein Kerl, den du da eben angemacht hast“, raunzte ein blondes Mädchen, das vor den anderen stand. Sie war hübsch, hatte aber ein hässliches Grinsen und zu viel Make-up im Gesicht.
Walküre wich zurück. „Ich mache niemanden an. Ich bin mit meinem Freund hier.“
Die drei Freundinnen der Blonden bauten sich im Kreis um sie herum auf. Es waren Mädchen mit weit ausgeschnittenen Tops, kurzen Röcken und hohen Absätzen. Walküre erkannte eine aus ihrer Schule wieder, konnte sich jedoch nicht erinnern, wie sie hieß.
„Für mich hat es aber so ausgesehen, als würdest du ihn anmachen“, beharrte die Blonde. Sie neigte den Kopf wie jemand, der eine Schlägerei anfangen will.
„Redest du von Owen?“, fragte Walküre. „Wir haben uns nur ganz kurz unterhalten, das war alles. Ich habe kein Interesse an ihm, falls das deine Sorge ist.“
Die Blonde tippte Walküre mit dem Finger auf die Brust. „Sehe ich so aus, als würde ich mir Sorgen machen? Glaubst du, ich hätte Angst, dass er was von dir will?“
Walküre lächelte geduldig. „Mir gefällt dein Make-up. Benutzt du einen Pinsel oder steckst du deine Rübe einfach in den Eimer?“
Der Kopf der Blonden schoss nach vorn. Walküre konnte gerade noch das Gesicht wegdrehen, sodass sie nur einen Stoß gegen ihren Wangenknochen bekam anstatt einer gebrochenen Nase. Sie wich nach hinten an die Waschbecken zurück, als alle vier Mädchen gleichzeitig angriffen. Zwei von ihnen packten sie an den Haaren und sie schrie auf, als sie nach vorn gezerrt wurde. Sie fiel auf die Knie und die Blonde, Walküre war ziemlich sicher, dass es die Blonde war, versetzte ihr einen gewaltigen Tritt in die Rippen. Er nahm ihr den Atem. Sie waren überall, beschimpften sie, traten nach ihr und ließen sie nicht mehr auf die Beine kommen.
Als die Blonde wieder zu einem Tritt ausholte, blockte Walküre ihn ab und zog ihr mit der freien Hand das Standbein unter dem Körper weg. Die Blonde schrie, als sie stürzte und eine ihrer Freundinnen mit zu Boden riss. Walküre bäumte sich nach hinten auf und rammte einer anderen den Ellbogen in den Oberschenkel. Das vierte Mädchen, das als Einzige noch stand, wich zurück, als Walküre sich aufrappelte. Sie versetzte ihr einen kräftigen Kinnhaken und das Mädchen ging zu Boden.
Walküre hielt sich die Rippen; sie bekam kaum noch Luft. Hätte sie die Sachen getragen, die Grässlich ihr genäht hatte, hätten diese die Tritte problemlos abgefangen – aber sie trug die Sachen nicht. Sie befand sich auf der Toilette eines Nachtclubs und kämpfte in einem Kleid, das entschieden zu kurz dafür war.
Das Mädchen, dem Walküre einen Ellbogenstoß in den Oberschenkel verpasst hatte, stürzte sich erneut auf sie. Walküre wich den Fingernägeln aus, die auf ihr Gesicht zielten, und gab ihr einen Schubs, worauf das Mädchen mit dem Kopf gegen die Wand knallte.
Die Blonde und eine ihrer Freundinnen waren inzwischen wieder auf den Beinen. Walküre duckte sich unter einem Schlag weg und versenkte ihre Faust im weichen Bauch der Freundin. Dann schlang sie einen Arm um die Taille des Mädchens und warf sie über ihre Hüfte. Die Blonde wurde von den Beinen ihrer Freundin getroffen und taumelte gegen die geschlossene Tür einer Kabine.
Walküre wandte sich nun der Blonden zu; um sie herum lagen schluchzend und stöhnend ihre übrigen Gegnerinnen. Sie zog ihren rechten Schuh aus. Mit wutverzerrtem Gesicht stürzte sich die Blonde auf sie. Walküres bloßer Fuß traf sie in die Brust und sie stolperte rückwärts gegen eine Kabinentür. Die Tür flog auf und die Blonde landete auf dem erschrockenen Mädchen in der Kabine.
„Sorry“, rief Walküre, schlüpfte wieder in ihren Schuh und verzog das Gesicht, als der Schmerz durch ihren Brustkorb schoss.
Plötzlich flackerte das Licht ganz seltsam und warf Schatten an die Wände. Sie drehte sich um und war schon an der Tür, als sie eines der Mädchen würgen hörte. Erschrocken blieb sie stehen. Sie wusste, dass sie einen Monat lang nicht würde schlafen können, falls irgendeines der Mädchen, egal wie abscheulich die vier waren, ernsthafte Verletzungen erlitten hatte. Deshalb drehte sie sich wieder um, ging zurück – und erstarrte. Alle vier Mädchen, mit denen sie sich geprügelt hatte, plus das Mädchen aus der Kabine lächelten sie mit schwarzen Lippen an.
„Nein“, flüsterte Walküre.
„Du entkommst uns nicht“, drohte die Blonde. Schwarze Adern überzogen ihr Gesicht. Walküre hatte das schon einmal erlebt, als Kenspeckel besessen gewesen war, damals, als er Tanith gefoltert hatte.
„Wir sind alle draußen“, fuhr die Blonde fort, „alle miteinander. Das kleine Hotelzimmer ist völlig leer. Und eine von uns hat in die Zukunft geschaut. Wir wissen, dass du die Welt vernichten wirst, Darquise.“
Walküre wurde blass. „Das ist eine Lüge. Das stimmt nicht. So etwas wird nicht passieren. Ich habe etwas dagegen unternommen.“
„Dann werden wir das eben wieder rückgängig machen. Wir sind nicht hier, um dich zu bekämpfen. Wir sind hier, um uns an deine Seite zu stellen. Wir wollen helfen.“
„Bleibt, wo ihr seid. Keinen Schritt näher.“
„Du hast Angst. Du bist verwirrt. Wir verstehen das. Deshalb sind wir ja hier. Wir sind hier, um dir den Weg zu zeigen und dir zu dienen. Wir lieben dich, Darquise.“
Walküre wirbelte herum und rannte los.
Sie lief auf die erstbeste Treppe zu und drängelte sich dabei zwischen lauter jungen und schönen Menschen hindurch. Jemand schrie, dann noch jemand, und als Walküre aufschaute, sah sie über der Bar eine schwarze Wolke, die sich abregnete. Restanten, Hunderte von Restanten, stürzten sich auf die Leute. Panik brach aus. Sie beobachtete, wie die Schattenwesen in schreiende Münder krochen und jedem noch so verzweifelten Abwehrversuch trotzten. Kehlen wölbten sich nach außen, als die Kreaturen sich ihren Weg nach unten bahnten.
Walküre blickte sich nach Fletcher um und entdeckte ihn auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Er rief nach ihr, doch die Menge wogte, stieß ihn um und er verschwand aus ihrem Blickfeld. Sie vergaß die Treppe und lief zum Rand der Galerie. Mit einem Satz übersprang sie das Geländer und fiel, umschwirrt von Restanten, die sich über die Menschen auf der Tanzfläche hermachten.
Mithilfe der Luft bremste Walküre ihren Fall, landete aber dennoch mit ihrem vollen Gewicht auf einem Pärchen, das zu fliehen versuchte. Alle drei stürzten und sofort klammerte sich ein halbes Dutzend Restanten an den Rücken des jungen Mannes. Walküre konnte sich nicht um das Mädchen kümmern, das schrie, als ihr Freund von einem der Restanten besetzt wurde. Dann brach die Musik ab und ringsum war nur noch Geschrei zu hören.
Sie rannte an zu Tode erschrockenen Tänzern vorbei und wich denen aus, die bereits von Restanten besessen waren und sie packen wollten. Sie bog in einen nur für Angestellte reservierten Bereich ab, lief den Gang hinunter und durch die offene Tür am Ende hinaus ins Freie. Dort stellte sie fest, dass sie sich auf der Rückseite des Clubs befand, wo Meerwasser über die Betonmauer spritzte und der Boden fast schwarz war von der Nässe. Walküre zog ihr Handy heraus, um Skulduggery anzurufen, und sah, dass drei entgangene Anrufe von ihm in ihrem Speicher waren. Als sich Schritte näherten, schaute sie auf. Ein Wachmann kam zu ihr herübergelaufen.
„Was ist denn da drin los?“, wollte er wissen. „Was geht da ab?“
Walküre musste sich schnell etwas einfallen lassen. „Eine Schlägerei. Ich an Ihrer Stelle würde nicht reingehen.“
Ohne ein weiteres Wort schlug der Wachmann ihr das Telefon aus der Hand und ging zum Angriff über. Sie kullerten beide über die niedrige Mauer und stürzten in das kalte, aufgewühlte Wasser.
Einen Moment lang stand Walküre unter Schock, doch sie kämpfte sofort dagegen an und schwamm in Richtung Ablaufbahn. Der Wachmann tauchte neben ihr auf und zog sie wieder unter Wasser. In der eisigen Dunkelheit kämpften sie miteinander. Ihre Fingernägel zerkratzten ihm das Gesicht und er ließ sie los. Sie schwamm, doch der Wachmann war direkt hinter ihr und so wechselte sie die Richtung, vergaß die Ablaufbahn und schwamm einfach zurück zur Mauer.
Sie griff ins Wasser und es wallte auf, hob sie hoch und schleuderte sie gegen die Mauer. Keuchend klammerte sie sich daran fest, dann warf sie ein Bein darüber und plumpste auf der anderen Seite auf die Straße. Ihre Schuhe hatte sie irgendwo im Wasser verloren.
Sie hatte Wasser in den Ohren und hörte den Wachmann hinter ihr erst, als er ihr die Arme um die Taille schlang. Er schleuderte sie gegen einen geparkten Van und sie ging zu Boden. Er packte ihre Fußknöchel und riss sie wieder zu sich herum. Sie schrie auf, ihr Kleid wurde hochgeschoben und ihr nasses Haar fiel ihr in die Augen. Der Wachmann zog sie lachend noch ein Stück weiter heran.
Walküre hob die Hand über den Kopf und ein Windstoß traf den Wachmann hart genug, dass er sie losließ. Als sie aufstand, zog er einen langen Schlagstock aus seiner Tasche und grinste sie an. Das Licht einer Straßenlampe beleuchtete eine Seite seines Gesichts und Walküre sah die dunklen Adern unter seiner blassen Haut.
Sie drückte mit der Handfläche nach unten. Sofort flirrte die Luft, doch der Wachmann hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und wich dem Luftstoß aus. Sie schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern und eine Flamme loderte auf. Fluchend stolperte er rückwärts, die Hände schützend über die Augen gelegt. Sie trat ihm kräftig zwischen die Beine und er krümmte sich, doch den Kniestoß gegen sein Gesicht blockte er ab und stürzte sich auf sie. Walküre trat rasch einen Schritt zur Seite, er schoss an ihr vorbei und stolperte über ihren ausgestreckten Fuß. Es gab ein ekliges Geräusch, als er mit dem Kopf voraus in den Van knallte. Unsicher kam er wieder auf die Beine. Sie versetzte ihm einen Tritt, der seine Beinmuskeln erschlaffen ließ, und er fiel seitwärts erneut gegen den Wagen. Aus seiner gebrochenen Nase strömte das Blut. Sie schnippte noch einmal mit den Fingern und ein Feuerball traf ihn am Arm. Er heulte auf, ließ den Stock fallen und sie kickte ihn beiseite.
„Das gibt’s doch nicht“, hörte sie eine ungläubige Stimme hinter sich. Sie drehte sich um und fauchte, ohne zu wissen, wer es wagte, sich einzumischen. Dann erstarrte sie.
„Stephanie“, sagte ihre Cousine Carol fassungslos, „warum schlägst du denn einen Polizisten zusammen?“