ALLES NACH PLAN
Der Schutzschild hielt.
Bei jedem Angriff wurde seine Farbe intensiver. Mit jedem Versuch, ihn zu durchbrechen, wurde er dunkler und verblasste danach wieder. Sobald erneut angegriffen wurde, war das Hibernian-Kino wieder von einer blauen Kuppel aus reiner Energie umgeben.
Die Zauberer draußen wechselten sich ab. Jeweils fünfzig von ihnen attackierten Kenspeckels Schutzvorrichtungen mit allem, was sie hatten.
Die Verteidiger gingen dorthin, wo sie gebraucht wurden – wehrten ohne Ende Angriffe ab und drängten Eindringlinge zurück. Es kostete sie viel Kraft. Walküre kämpfte sich von einem Ende des Gebäudes zum anderen und wieder zurück. Sie hatte blaue Flecken und Schnittwunden, blutete und kam nicht mehr zu Atem. Hinter ihr krachte es in einem Flur und sie hörte Tanith rufen: „Sie sind drin!“
Walküre eilte ihr zu Hilfe. Tanith war in einen Zweikampf mit einem schwarzlippigen Zauberer verwickelt. Die beiden rollten im Schutt herum, der aus dem gewaltigen Loch im Boden gekommen sein musste. Gerade kletterte der nächste Zauberer herauf. Walküre drückte mit der Handfläche gegen die Luft und ein Stein flog ihm ins Gesicht. Der Zauberer wich mit einem Schmerzensschrei zurück, doch ein anderer nahm seine Stelle ein, noch bevor der Schrei verklungen war.
Ein roter Blitz blendete sie und sie spürte etwas Heißes an ihrer Wange. Sie ging stolpernd ein paar Schritte rückwärts, die Hände ausgestreckt. Es waren starke Bewegungen in der Luft, etwas Großes kam auf sie zu. Sie schnippte mit den Fingern und warf einen Feuerball. Als Antwort hörte sie einen Schwall Flüche. Sie blinzelte ein paarmal rasch hintereinander, konnte wieder Umrisse erkennen und sah einen Mann, dessen Hemd brannte und der die Flammen mit den Händen ausschlug. Sie sammelte Schatten und schickte sie in die Richtung, in der sein Kopf sein musste. Seine verschwommene Gestalt wurde hochgehoben, drehte sich in der Luft und fiel dann wieder herunter.
Walküre kniff die Augen fest zu. Als sie sie wieder öffnete, sah sie Tanith von dem inzwischen bewusstlosen Zauberer, mit dem sie gerungen hatte, heruntersteigen. Ein weiterer schwarzlippiger Mann kletterte in den Raum und Tanith stellte sich ihm, wich seinem Messer aus und bombardierte ihn ihrerseits mit Fausthieben. Der Mann stöhnte und ließ das Messer fallen. Tanith versetzte ihm einen Tritt und er stolperte rückwärts in das Loch zurück.
Skulduggery kam hereingerannt, die Hände voller Feuer. Mitten im Raum blieb er stehen und schickte zwei Flammenbündel hinunter in das Loch. Walküre hörte Geschrei und Rufe und jede Menge Flüche. Unvermittelt löschte er die Flammen und kauerte sich hin, die Hände mit gespreizten Fingern flach auf dem Boden. Der Boden bebte, riss auf und spuckte Staubwolken in die Luft, als der unterirdische Tunnel einbrach.
Skulduggery schaute auf. „Seid ihr alle okay?“
Tanith nickte. Walküre hob eine Augenbraue. „Ist das wieder einer von deinen neuen Tricks?“, fragte sie schnaufend.
„Lediglich die natürliche Weiterentwicklung der Erdmanipulation. Ich muss es dir irgendwann mal zeigen.“
„Allzu lang wird es sie nicht aufhalten“, fürchtete Tanith.
Die Besessenen waren im Kino und versuchten, in die Abteilung Wissenschaftliche Magie vorzudringen. Walküre hörte einen entsetzten Schrei und setzte sich von den anderen ab. Sie lief um eine Ecke und sah eine Frau, deren buschiges Haar in alle Richtungen abstand. Die Frau wollte Clarabelle angreifen, doch Walküre ging dazwischen.
„Lauf!“, rief sie Clarabelle zu und Clarabelle lief.
Die Frau rammte Walküre den Ellbogen in die Seite. Walküre hörte ein Knacken und sah, dass ihre Gegnerin ein Betäubungsgewehr in der Hand hielt. Beim Zurückweichen stolperte sie und fiel. Sie war so müde, ihr Körper so ausgelaugt, dass sie es tatsächlich als angenehm empfand, endlich liegen zu können. Doch dann sprang ihr die verrückte Frau auf den Bauch und das Liegen fühlte sich nicht mehr ganz so gut an.
Das Betäubungsgewehr knackte nur Zentimeter von ihrem Hals entfernt und Walküre nahm all ihre Kraft zusammen, um es wegzudrücken. „Du wirst mir später dafür danken“, zischte die Verrückte durch zusammengebissene Zähne.
Walküre legte ihren Unterarm an die untere Gesichtshälfte der Frau, drückte und zwang ihren Kopf langsam nach hinten. Es war reines Adrenalin, das sie antrieb, und sie musste ihre letzten Reserven aus sich herausholen. Die Verrückte lächelte und Walküre verließen die Kräfte. Einen Augenblick bevor das Betäubungsgewehr ihre Haut berührte, packte Fletcher die Frau und riss sie weg. Sie verschwanden und Walküre ließ sich zurücksinken. Langsam und mit einem Stöhnen hob sie beide Arme. Fletcher erschien wieder, fasste sie an den Händen und zog sie auf die Beine.
„Ich werde immer besser bei diesen Rettung-in-letzter-Sekunde-Geschichten, findest du nicht auch?“, fragte er. Wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie ihm eine gescheuert.
Skulduggery kam herübergelaufen, China und Tanith dicht auf den Fersen. „Wart ihr im Gebirge, Fletcher?“
„Ja, waren wir. Wo genau die Höhle ist, wissen wir natürlich nicht, aber in das Gebiet kann ich ohne Weiteres teleportieren.“
China wandte sich an Skulduggery: „Du bist der Einzige, dem die Restanten nichts anhaben können. Wenn wir dort sind, halten wir sie in Schach, so gut wir können, während du die Maschine in Gang setzt. Von diesem Zeitpunkt an hängt alles nur noch von dir ab.“
Grässlich kam angelaufen. „Ich habe Kenspeckel dazu gebracht, dass er ein paar Türen öffnet“, berichtete er. „Sie strömen jetzt also alle ins Kino. Wir brauchen die ganze Bande in einem Raum und eine bessere Chance als diese hier bekommen wir nie mehr.“
Skulduggery schaute Walküre an. „Bist du bereit?“
Sie nickte. „Ich schaffe das.“
„Fletcher, sie werden sich auf die Leinwand konzentrieren und versuchen durchzustoßen. Du musst uns zuerst hinter die Restanten teleportieren und dann alle Mann in die Macgillycuddy’s Reeks. Schaffst du das?“
„Das schaffe ich“, versicherte Fletcher. „Fasst euch jetzt an den Händen.“
Im nächsten Moment waren sie im Kinosaal und beobachteten zweitausend Verrückte, die brüllten, lachten und fluchten.
Skulduggery gab das Kommando: „Walküre. Jetzt.“
Sie streckte die Hand aus und ließ die Kälte des Rings in ihre Fingerspitzen fließen. Die Schatten wirbelten auf wie ein dunkler Nebel. Während die Besessenen versuchten, den Nebel wegzuschlagen, da sie einen Angriff erwarteten, legte sich der Lärm allmählich. Als nichts weiter geschah, blickten sie sich irritiert um. Walküre spürte, wie die Schatten sich zwischen ihnen hindurchschlängelten, und konzentrierte sich darauf, sie weiter nach außen wabern zu lassen. Als sie die Augen öffnete, blickten alle sie an.
„Fletcher!“, bellte Skulduggery.
„Alles festhalten“, befahl Fletcher. Seine Hand legte sich fest auf Walküres rechte Schulter. Die anderen bildeten auf ihrer linken Seite eine Kette.
„Ich bin nicht derjenige, der sich bewegt“, hörte sie Fletcher murmeln. „Das Universum kreist um mich …“
Walküre sah ihn aus dem Augenwinkel, einen schwarzen Schatten, der hinter Fletchers Schulter hervorkam. Bevor sie ihn warnen konnte, kletterte der Restant hinauf zu seinem Gesicht. Fletcher zuckte zurück und versuchte, ihn wegzureißen. Er sank auf ein Knie, doch der Restant war bereits in seinem Mund. Als Fletcher sich aufbäumte, war der Restant schon nicht mehr zu sehen. Sein Körper bog sich vor Schmerzen, dann entspannte er sich.
Die Besessenen ringsum lachten. Fletcher hob den Kopf und lächelte mit schwarzen Lippen.
Skulduggery zog seine Pistole, doch Fletcher verschwand.
„Hier bin ich“, rief er.
Sie wirbelten herum. Grässlich drückte gegen die Luft, aber Fletcher war schon wieder weg. Er tauchte neben Tanith auf, die wie der Blitz herumfuhr. Ihr Schwert schnitt nur noch durch leeren Raum.
„Ihr kriegt mich nicht“, rief Fletcher von irgendwo hinter ihnen.
Skulduggery schoss und China schleuderte messerscharfe Strahlen aus rotem Licht.
„Wie blöd seid ihr eigentlich?“, rief Fletcher von der Bühne herunter.
„Ich kann überall und nirgendwo sein.“ Jetzt war er nur noch zehn Schritte von ihnen entfernt.
„Ihr haltet mich nicht auf“, lachte er direkt neben ihnen. Er packte Walküre, zog sie von den anderen weg und teleportierte sie mitten unter die besessenen Zauberer. Der dunkle Nebel war bereits verschwunden. Die Zauberer ringsum begannen zu kichern. Durch die Lücken hindurch sah sie Skulduggery und die anderen. Jetzt, da die Restanten ihren Wunschkandidaten hatten, schenkten sie den anderen keine Beachtung mehr.
„Ich liebe dich“, säuselte Fletcher ihr ins Ohr und drückte sie an sich. „Ich war mir schon vorher ziemlich sicher, dass ich dich liebe. Aber jetzt? Jetzt weiß ich es genau. Ich liebe dich mehr als alles andere, Wallie, und ich bitte dich, mir zu vertrauen. Wenn du erst zu uns gehörst, wird es dir gefallen.“
Walküre versetzte ihm einen Kinnhaken, rammte einer Frau, die sie packen wollte, den Ellbogen in den Leib und trat nach einem Mann. Jemand stellte ihr ein Bein und sie stürzte. Die Leute lachten und dann spürte sie Hände, die von unten nach ihr griffen, und sie sank in den Boden. Die Zauberer stürzten sich auf sie, doch es war zu spät. Sie schloss die Augen, während sie hinuntergezogen wurde in die Erde.
„Hallo, Süße“, flüsterte Billy-Ray Sanguin ihr ins Ohr.